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Einleitung Tal Sterngast

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Die Welt, wie ich sie bis dahin zu kennen geglaubt hatte, schien Ende des Jahres 2016 an ihr Ende gekommen zu sein. Das Ergebnis des Brexit-Referendums im Vereinigten Königreich im Juni registrierte mein Realitätsprinzip als Verzerrung. Der Sommer in Berlin war einmal mehr außergewöhnlich heiß. Kein Zweifel bestand mehr darüber, dass irreversible Veränderungen in globalem Maßstab von nun an unser Leben bestimmen würden. Schließlich wurde im November Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Das Gefühl, die Wirklichkeit habe sich in einen Alptraum verwandelt, war überwältigend. Sie schien sich verabschiedet zu haben, oder besser gesagt: ein Gespür der Unwirklichkeit bestimmte das Leben so stark, dass kategoriale Unterschiede verschwammen. Und doch ging das Leben weiter.

Diese Entwicklungen deuten einen Zusammenbruch der Rahmenbedingungen von Repräsentation in der Gegenwart an. Einen Kollaps, der durch die Diffusität gekennzeichnet ist, die sich in die Unterscheidung von Realität und »Reality« eingeschlichen hat. Er äußert sich in der Überschreitung des als menschlich Erachteten, die an den Schnittstellen zwischen dem Organischen und dem Anorganischen stattfindet, wird durch den invasiven Charakter der sozialen Medien erzeugt und zeigt sich schließlich als Variation der »Wiederkehr des Verdrängten« (die das Empfinden von Scham überflüssig macht und populistische Extravaganz befeuert) – entweder als Symptom der Krise oder als die Krise selbst. Damit nicht unverbunden weicht die Förderung und Anerkennung innerer Werte von Kunstwerken zunehmend externen Bewertungen, einem Insistieren auf äußeren politischen, kulturellen oder soziologischen Werten, das heute in fast allen Bereichen der Gegenwartskunst, des Ausstellungsmachens und der Kunstkritik vorherrscht. Misstrauen und der Verdacht gegenüber Bildern fallen mit einer Neudefinition dessen zusammen, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, und also mit einer Form der moralischen Unterdrückung. Je weniger klar die Fakten der Wirklichkeit erscheinen, je vager, fremdartiger oder erschreckender die Aussichten sind, die sie eröffnen, desto weniger ist klar, was Bilder sind und wozu man sie braucht. Warum werden immer noch Kunstwerke geschaffen und ausgestellt? Wer ist ihr Betrachter?

Das Gefühl, von den aktuellen Zuständen abgestoßen zu sein, führte mich am Ende des Jahres 2016 in die Gemäldegalerie. Das von den Münchner Architekten Hilmer & Sattler und Albrecht fast eine Dekade nach dem Mauerfall im Jahr 1998 fertiggestellte Gebäude beherbergt die wiedervereinigte Sammlung europäischer Gemälde vom 13. bis zum 18. Jahrhundert der Staatlichen Museen zu Berlin. Es wurde auf dem Hügel des Kulturforums hinter einer steilen brutalistischen Fläche aus Beton und Granit platziert (der »Piazzetta«), die Passanten zum vormals West-Berliner Museumskonglomerat hinführt und zugleich wie eine Barriere zur Straße wirkt. Die Gemäldegalerie war der letzte Baustein im Museumskomplex für europäische Kunst, dessen Planung bereits Ende der 1960er-Jahre begonnen hatte, deren Ausführung aber von immer neuen Kontroversen begleitet wurde, die dem fragmentarischen Ensemble bis heute anzumerken sind.

Ein neues kulturelles Zentrum sollte am Rand von West-Berlin als westlicher Ersatz für die nach dem Krieg größtenteils im Ostteil der Stadt liegenden Museen und Bibliotheken dienen. Seine architektonischen Leuchttürme sollten darüber hinaus die Rückkehr Westdeutschlands in die Familie der freien Länder manifestieren und den Ansprüchen der DDR trotzen, das bessere Deutschland zu repräsentieren. Herausragendes Element dieses Ensembles ist die bereits im Jahr 1968 von Mies van der Rohe gebaute Neue Nationalgalerie, eine modernistische Ikone aus Stahl und Glas, welche die Kunst des 20. Jahrhunderts beherbergen sollte. Hans Scharouns ursprünglicher Vision einer organischen Stadtlandschaft folgend, schufen die Philharmonie (1963) und die Staatsbibliothek (1978) – durch ein goldenes Netz runder Formen optisch miteinander verbunden, das sich über beider Fassaden erstreckt – einen weichen Hintergrund, der sich harmonisch an den Tiergarten schmiegen soll. Zugleich eröffnen sie einen städtebaulich komplexen, aber jedermann zugänglichen Platz. Im Kontrast dazu steht der ebenfalls als fortschrittliche Topografie gedachte, brutalistische Entwurf Rolf Gutbrods von 1967, der eine gebaute Landschaft vorsah, deren Konstruktion in den wenigen vom ursprünglichen Plan übrig gebliebenen Gebäuden offengelegt wurde. Diesem städtebaulichen Kontext entzog sich die neue Gemäldegalerie, sie schottete sich von ihrer Umgebung eher ab.

Ihre Innenräume sind bewusst an Karl Friedrich Schinkels Altem Museum angelehnt und ähneln einem aristokratischen Palast, dessen Enfilade den Weg des Besuchers entlang der Nord-Süd-Achse auf einer Länge von zwei Kilometern parallel zur chronologischen Abfolge der Kunstwerke choreografiert. In insgesamt 72 Räumen werden die Bilder auf in farblich gehaltenem Samt und in einer salonartigen Hängung präsentiert. Eine große, leere Halle gliedert ihr Zentrum auf; sie verweist in einer räumlichen Geste, die vermutlich großzügig oder würdevoll wirken soll, aber etwas merkwürdig erscheint, auf die Grenzlinie der Alpen. Die Gemäldegalerie kam mir zugleich weltläufig und provinziell, prätentiös und bescheiden vor. Die architektonische Abkehr von der jüngeren Geschichte (mit ihren Wunden und Narben) schuf eine isolierte Insel, die sich, vielleicht wie die Sammlung selbst, nicht organisch in ihre Umgebung einfügt und sich eine augenfällige Künstlichkeit bewahrt.

Wenn sich die Gegenwart auf einen präzedenzlosen Abgrund von Veränderung zubewegt, was hat sie noch mit den älteren Welten gemein, die sich in der Gemäldegalerie präsentieren? Während der Corpus des Wissens und des Diskurses über die Gegenwartskunst sich nur auf die jüngere Vergangenheit zu beschränken scheint, beschäftigen sich mit den alten Meistern beinahe ausschließlich Wissenschaftler und Kunsthistoriker. Ich fragte mich, ob mir die Beschränkung auf diese spezifische lokale Sammlung Freiraum verschaffen würde. Ich wählte nach und nach zwölf Werke aus, die in der Gemäldegalerie hängen, um sie zum Gegenstand einer Beobachtung zu machen, die vielleicht helfen könnte, besser gerüstet in die Gegenwart zurückzukehren. Die aus dieser Auseinandersetzung entstandenen Essays, von denen sich jedes einem Gemälde widmet, wurden ab November 2017 im Abstand von jeweils ungefähr einem Monat in der Wochenendausgabe der Tageszeitung veröffentlicht.

In der Breite dieser Auswahl wird deutlich, wie sich die Malerei entlang der dichotomischen Koordinaten des Optischen und des Taktilen, des Geometrischen und des Organischen, des Illusionistischen und des Geistigen selbst entdeckt und zum Medium wird, durch das sich moderne Subjektivität formuliert. Jedes der ins Auge gefassten Gemälde entfaltet sein eigenes In-die-Welt-Kommen und seine spezifischen Anliegen, die zum Teil auch die unseren sind. Zwei zeitliche und räumliche Achsen kreuzen meine Auswahl: zum einen die das Mittelmeer durchquerende Ost-West-Achse, an der entlang Routen von der antiken zur modernen Welt, von der gräko-romanischen zur christlichen Hegemonie, vom Orient zum Okzident und zurück führen; zum anderen die kunsthistorische Nord-Süd-Achse, in deren Zentrum die Renaissance von Italien aus über die Alpen strahlt.

Jeder Maler müsse die Geschichte der Malerei rekapitulieren, schrieb Gilles Deleuze in seinem Buch über Francis Bacon (1981), und so kann auch jeder Autor die Rekapitulationen des Malers rekapitulieren. Ich habe mich den Gemälden wie der zeitgenössischen Kunst genähert, über die ich in den vergangenen 15 Jahren schrieb. Ich wollte sie wie eine Kunstkritikerin betrachten. Aus diesem Grund werden Überlegungen zu den Ideenfeldern angestellt, welche die Maler und ihre Werke umgeben, wechseln die Essays ihren Betrachtungsmodus von hoher zu niedriger Auflösung, springen von gewagten Generalisierungen zu sehr spezifischen Details. Der Wahl der Bilder lagen meine gegenwärtigen Interessen und ästhetischen Vorlieben zugrunde, sie reflektiert nicht notwendigerweise den Sammlungsschwerpunkt der Staatlichen Museen zu Berlin.

Als ihr Generaldirektor, Michael Eissenhauer, vorschlug, diese Essays in einem Buch zu versammeln, war das eine großzügige Einladung für mich als Autorin, aber auch für die Texte, die es ihnen nun erlaubt, mehr als eine sporadische Veröffentlichung in einer Tageszeitung zu sein. Ein Text eröffnet einen Raum, und Schreiben ist der Prozess, diesen Raum zu schaffen und zugleich in ihm verloren zu gehen. Der Text wird erst vom Leser vollendet, der ihn von außen betrachten kann. Diese Textsammlung ist also zuerst eine Art Protokoll meiner Erkundungen der Gemäldegalerie, darüber hinaus aber auch der Möglichkeiten, die sich meinem Schreiben und Denken über Kunst in der Auseindersetzung mit diesen Zwölf Bildern eröffnet haben.

Es war eine große Ehre und eine ebenso große Herausforderung, die Artikel zusammenzustellen und zu Kapiteln im Rahmen einer breiter angelegten Erzählung ausbauen zu dürfen. Das wäre nicht möglich gewesen ohne Ulrich Gutmair, der die Texte sorgfältig ins Deutsche übersetzt und zuerst für die Zeitung und für dieses Buch redigiert hat. Die Transformation der Zeitungsartikel, die ursprünglich auf Englisch geschrieben waren, zu den vorliegenden Essays wurde von der englischen Lektorin dieses Buchs, Kimberly Bradley, auf fachkundige Weise gemeistert. Ich danke beiden herzlich.

Tal Sterngast. Zwölf Bilder

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