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Dienstag, 28. September 1982 Blut, dieser ganz besondere Saft

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»Professor Nordmann schlägt eine Blutübertragung vor«, hatte seine Mutter am Telefon gesagt, »Walter und du, ihr habt doch beide diese seltene Blutgruppe.« Er hatte am nächsten Tag den Frühzug genommen, zweieinviertel Stunden von Köln nach Langenheim. Ihm schlug ein kühler erster Herbstwind entgegen, als er in Langenheim auf den Bahnsteig trat. Es war Ende September, der Sommer hatte sich verabschiedet. Er würde im Krankenhaus erst einmal um einen Kaffee bitten. Ob eine Blutübertragung überhaupt helfen könnte?

Georg ging den Bahnsteig entlang Richtung Ausgang. Da stand Flöten-Ewald neben der Treppe und flötete laut »Komm Zigan, komm Zigan, spiel mir ein Lied«, eine Hand an der Deichsel seiner Gepäckkarre, die andere an der weißen Gepäckträger-Mütze, die er vor seiner linken Brust hielt. »Selbständiger Dienstmann« stand auf der Mütze. Georg hatte ihm mit dem Kopf gleich zu verstehen gegeben, dass er für seinen Rucksack keine Hilfe brauchte und Ewald hatte mitten im Pfeifen mit trauriger Miene den Blick gesenkt. Doch da rief schon eine ältere Dame zwei Wagen weiter »Gepäckmann, Gepäckmann«. Sofort änderte Flöten-Ewald das Lied und flötete nun »Gern hab ich die Frau’n geküsst« mit dem leichten Vorhalt vor »geküsst«, den auch Vater an dieser Stelle immer so sang. Georg musste lachen. Er stieg die Treppe hinunter und entschied sich gegen eine Taxe. Er würde zum Krankenhaus laufen, den Weg durch den Stadtpark nehmen, den »Grünen Winkel«, an der Lippe entlang. Es war Viertel nach neun, Mutter wusste, dass er direkt ins Krankenhaus kommen würde, wahrscheinlich saß sie schon an Vaters Bett und wartete auf ihn. »Alles wird gut«, hatte sie auch gestern wieder gesagt, »alles wird gut.«

Mutter hatte Anfang letzter Woche angerufen: Dr. Bracke sei sich nicht sicher, Vaters Rückenschmerzen seien doch seltsam beständig. Auch Dr. Wingert, der Orthopäde, hätte sich nicht mehr zu helfen gewusst. Drei Tage später war sie erneut am Telefon, mittags, er war eher zufällig in seiner Wohnung, hatte eigentlich in der Institutsbibliothek arbeiten wollen, als das Telefon klingelte. Zuerst hörte Georg nur ein Schluchzen, dann die Stimme seiner Mutter. »Das Rückenproblem kommt nicht von den Knochen«, sagte sie leise, machte wieder eine Pause und schluchzte erneut, »es rührt von Metastasen her. Krebs ist die Ursache, Georg, Krebs, wahrscheinlich Lungenkrebs.« Mutter weinte, laut und lange. »Ich habe auch schon mit Bärbel gesprochen«, stammelte sie dann, »sie will in wenigen Stunden kommen. Wir müssen abwarten, wir können nichts anderes tun. Es ist Krebs, Georg, Krebs!«

»Das tut mir sehr, sehr leid, Mutter, wahnsinnig leid.« Georg hatte ganz leise gesprochen, er wusste nichts Rechtes zu sagen. Die Nachricht blieb an der Oberfläche, drang nicht zu ihm durch.

»Dabei hatten die Ärzte doch immer gesagt, bei Vater sei etwas mit den Bandscheiben nicht in Ordnung. Und jetzt Krebs, Georg, Krebs! Sie haben auch Metastasen in der Leber entdeckt!« Mutters Stimme erstickte erneut.

»Ärzte können sich irren, Mutter.«

»Professor Nordmann ist zum Glück ganz zuversichtlich.« Das Weinen ebbte ein wenig ab. »Es gibt da eine neue Therapie, Bestrahlung kombiniert mit Chemotherapie, hat er mir erklärt. Er wird für Vater die richtige Mischung zusammenstellen. Aber eins ist ganz klar«, Mutters Stimme wurde auf einmal fest und bestimmt: »Vater darf nichts davon wissen. Für ihn lautet die Diagnose: Rückenbeschwerden, Bandscheibenprobleme, unbekannte Ursache, es kann länger dauern, aber alles wird gut.« Sie ließ Georg noch am Telefon schwören, dass er Vater gegenüber nichts anderes äußern würde. Optimismus sei die wichtigste Waffe gegen die heimtückische Krankheit, das habe auch Professor Nordmann gesagt. Ob er nicht gleich kommen könne, hatte sie noch hinzugefügt. Als er dann tatsächlich letzte Woche, nur einen Tag nach Mutters Anruf, ins Krankenzimmer trat, hatte Vater ihn mit großen Augen angesehen. »Es scheint ja richtig schlecht um mich zu stehen, wenn du an einem Werktag eigens aus Köln zu mir ans Krankenbett kommst.« Vaters Stimme war matt gewesen, ganz anders als sonst, wo er gern mit kräftiger Tenorstimme auch die schlichtesten Sätze mit Melodie und Klang füllte. Sein schwarzes, noch immer volles Haar wirkte stumpf, an den Schläfen war mehr Grau hinzugekommen. Die Haut schien fahl. Aber vielleicht kam das auch nur von der sterilen, nüchtern weißen Atmosphäre des Krankenhauszimmers, die so schnell auf die Patienten abfärbt. Georg war erschrocken. Er bemühte sich, Vater nichts von diesem Schrecken und seiner Unsicherheit spüren zu lassen. »Es wird alles wieder gut, Walter«, hatte Mutter nochmals wiederholt, »Professor Nordmann und der Orthopäde sind sich sicher, es wird alles gut, die kriegen deinen Rücken wieder hin.« Sie hatten nicht weiter über die Krankheit gesprochen. Vater hatte ihn nach dem Stand der Staatsexamensvorbereitung gefragt, nach Marie und seinem Eindruck vom Ende der Regierung Schmidt.

»Verrat, Georg, kein Verlass bei den Sozis, eigentlich schade um den Schmidt.« Hier war Vaters Stimme sogar ein wenig kräftiger geworden, doch plötzlich fuhr er mit der rechten Hand unter seinen Rücken und verzog das Gesicht. Er presste die Lippen aufeinander, kniff die Augenlider zusammen und während er langsam ausatmete, hörte Georg, wie er »diese fürchterlichen Schmerzen« flüsterte.

Mutter nahm seine Hand. »Es wird schon wieder, Walter, alles wird wieder gut.«

Dann hatte Vater noch wissen wollen, was man denn unter Studenten von Helmut Kohl halte. Georg hatte geantwortet, hatte sich selbst bei seinen Antworten zugehört, fand sich sehr brav, war ganz der liebe Sohn, blass und ohne Konturen. Er spürte seine zunehmende Verunsicherung. Sie kroch an ihm hoch. Er wusste plötzlich, dass er mit einem Todgeweihten sprach, und wollte nur schnell raus aus dem Krankenzimmer.

Zehn Minuten später war Bärbel mit Lukas erschienen. Sie hatte gleich nach Schulschluss den Jungen von der Tagesmutter abgeholt und war mit dem Auto von Bielefeld ins Langenheimer Krankenhaus gefahren. Vater freute sich, als er seine Tochter mit dem Enkelkind sah. Seine Augen bewegten sich eine Spur schneller und um seine schmalen Lippen spielte ein Lächeln.

»Die haben mich hier gründlich untersucht, Bärbel. Scheint wirklich ein Bandscheibenproblem zu sein; das werden sie schon hinbekommen.«

Georg biss sich auf die Lippen. Mutter stimmte Vater sofort zu, schaute dann Georg und Bärbel scharf an und behielt sie im Blick. Sie ließ sich dabei nicht einmal durch den kleinen Lukas ablenken, den Bärbel auf ihren Schoß gesetzt hatte. Zum Glück quengelte Lukas jetzt laut und anhaltend und sorgte so dafür, dass der Krankenbesuch kurz ausfiel und Georg und seine Schwester sich schon bald mit dem Jungen auf den Weg ins elterliche Haus in der Görresstraße machten.

»Will Charlotte die Diagnose wirklich vor Vater geheim halten?«, fragte Bärbel, nachdem sie den Wagen gestartet hatte. »Man muss Vater doch aufklären!«

Georg nickte. »Du kennst Mutter doch. Mit schlimmen Nachrichten rückt sie nicht raus, sie will immer alle schonen.«

»Aber Vater hat doch ein Recht darauf, zu wissen, wie es um ihn steht.«

Am gleichen Abend noch hatten Bärbel und er ausführlich mit Mutter gesprochen. Bärbel war vier Jahre älter als er und seit Längerem schon zu einer richtigen Gesprächspartnerin für Mutter geworden, erst recht, nachdem sie vor drei Jahren selbst geheiratet und ein Jahr später Lukas bekommen hatte. Sie war eine gestandene Frau, seit einem halben Jahr wieder im Schuldienst, zwar mit verminderter Stundenzahl, aber immerhin. Sie hatte für Vater und Mutter einen Status in der Familie erreicht, der Georg trotz seiner nunmehr 27 Jahre weiterhin vorenthalten wurde. Doch Charlotte blieb jetzt auch bei Bärbel eisern.

»Vater darf nichts wissen, und wenn, dann ist es ja wohl meine Sache, ihm die Wahrheit über sein Rückenleiden zu sagen!« Sie führte das weiße Taschentuch, das sie bei diesem Gespräch ständig mit ihren Händen geknetet hatte, an ihre Augen, um ein paar Tränen abzuwischen. »Und überhaupt ist ja Krebs nicht gleich ein Todesurteil. Professor Nordmann hat gesagt, es gäbe jetzt eine ganze Menge Möglichkeiten, viele neue Therapien, und eine davon würden sie in der nächsten Woche bei Vater probieren.« Dann hatte Mutter wieder zu weinen begonnen.

Es war Georg übel bei dem Gedanken an dieses verlogene Theaterspiel vor Vater, dennoch hatte er am Ende klein beigegeben: »Wenn du meinst, Charly.« Er sah, wie gut ihr das kumpelhafte »Charly« tat, ihr altes Codewort für Vertrauen und Verständnis. Am nächsten Morgen war er nach Köln zurückgefahren.

Ein tiefes, lautes Hupen schreckte Georg aus seinen Gedanken auf. Er hatte den Stadtpark erreicht und auf der anderen Seite der Lippe schob sich ein feuerroter Schienenbus langsam voran. Der Triebwagen hatte gerade erst den Bahnhof verlassen und noch wenig Fahrt aufgenommen. Im ersten Wagen stand ein kleines drei- oder vierjähriges Mädchen auf dem schmalen Holztischchen am Fenster und zeigte auf die Schwäne, die sich in der Lippe treiben ließen. Er sah von der Seite das Profil der Mutter des Kindes, ihr langes dunkelblondes Haar. Lisa, dachte er, und musste lächeln. Vor zehn Jahren war er manchmal auf dem Weg zum Städtischen Krankenhaus gewesen, in dem Lisa gearbeitet hatte. Im letzten Wagen war ein Fenster heruntergelassen und ein vielleicht zehnjähriger Junge im dunkelgrünen Anorak lehnte sich heraus. Als er auf Georgs Blick traf, lachte er über den Fluss herüber und begann zu winken. Er rief Georg etwas zu, das er jedoch nicht verstand. Georg winkte zurück. Die Herbstferien hatten diese Woche begonnen und wahrscheinlich war der Junge mit seinen Eltern oder Großeltern auf dem Weg nach Münster in den Zoo. Diesen Ausflug mit der Bahn hatte er als kleiner Junge auch so manches Mal gemeinsam mit seiner Großmutter unternommen, damals in den Jahren vor Regensburg. Als der rote Schienenbus mit lautem Hupen und knarzendem Grunzen endlich beschleunigte, sagte Georg die Stationen auf, die der Zug durchfahren würde: Cappel, Liesborn, Wadersloh, Diestedde, Beckum. Er hatte sie noch alle im Kopf. Sein Vater war nie mit ihm im Zug nach Münster gefahren. Wenn sie unterwegs waren, dann im zartgelben DKW mit dem grünen Dach, den Vater erst nach vielen Jahren gegen den neuen Opel Rekord eingetauscht hatte.

Georg sah auf die Kopfweiden, die den Weg am Bahndamm säumten. Man hatte sie kräftig zurückgeschnitten und so saß auf jedem Stamm nur ein hölzerner Knubbel, aus dem einzelne dünne Ästchen mit ihren Blättern ragten. Die Knubbel erschienen Georg wie Fäuste, die die Bäume am Wachsen hinderten. Noch eine gute Viertelstunde würde er bis zum Krankenhaus brauchen. Er wunderte sich, dass dieser Weg so unerwartet viele alte Bilder in ihm hochkommen ließ.

In einer Stunde würde er seinem Vater Blut spenden. Sein Blut für seinen Vater – eine seltsame Vorstellung. Das feierliche »Mein Blut, für Dich vergossen« kam ihm in den Sinn, obwohl er schon seit Jahren nur noch zu Weihnachten in die Heilige Messe ging. Und mit Altar und Opfer hatte eine Blutübertragung ja eigentlich gar nichts zu tun, dachte er. Er würde den Arzt auf jeden Fall heute noch sprechen wollen, um von ihm zu erfahren, wie es um Vater tatsächlich stand und ob eine Blutübertragung bei Krebs überhaupt helfen könne. Georg war skeptisch. Ob Vater immer noch an diese Bandscheibengeschichte glaubte? Er war doch nicht blöd. Jetzt, wo die Blutübertragung anstand, hatte Vater diesen Dr. Nordmann bestimmt schon nach der Wahrheit gefragt.

Georg verließ den Stadtpark am Nordausgang und bog in die von Kastanien gesäumte Straße ein, die zum Städtischen Krankenhaus führte, dessen neu erbautes achtgeschossiges Bettenhaus er schon von Weitem sehen konnte. Es war jetzt Viertel vor zehn. Mit sechzehn hatte er sein Interesse an Vater verloren, als habe jemand eine Leitung gekappt, keine Verbindung mehr. Das Interesse war auch in den Jahren des Studiums nicht wiedergekehrt. Letzten Freitag, als er ihn im Krankenhaus besucht hatte und diese verdammte Unsicherheit spürte, hatte er sich gefragt, ob er ein schlechtes Gewissen haben müsste. Vater hatte ihm als Kind so viel bedeutet, die ganze Singerei mit ihm, dieser Ernst und dieser Spaß, den sie dabei hatten! Doch schon bald nach der Rückkehr aus Regensburg war es nicht mehr dasselbe gewesen. Vater war Anfang des Jahres zweiundsechzig geworden, ein stattlicher Herr, gut einen Meter achtzig groß, noch immer eine Stütze im Tenor des Männergesangvereins Harmonia 98, ein Mann, der Hüte liebte und selten ohne einen in der Stadt anzutreffen war. Nach dem Krieg hatte er in Langenheim Arbeit gefunden als kaufmännischer Angestellter in einem metallverarbeitenden Betrieb, der mit dem Wirtschaftswunder schnell größer geworden war. »Dass ich ursprünglich aus Breslau komme, hört doch schon längst keiner mehr«, hatte er oft gesagt, stolz darauf, seinen schlesischen Dialekt abgelegt zu haben. 1950 hatten die Eltern geheiratet, Charlotte Steinkamp war erst zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. 1951 war Bärbel auf die Welt gekommen, 1955 er, der Stammhalter, wie Großmutter ihn gern nannte. Vier Jahre später waren sie aus der Mietwohnung im Norden der Stadt ausgezogen. Vater hatte das geräumige Eckhaus mit großem Garten in der Görresstraße gekauft. Er war zum Prokuristen aufgestiegen und leitete die Handelsabteilung. In der Firma man hielt viel von ihm, was die Familie jedes Jahr zu Weihnachten an der Güte des Cognacs und der Zigarren ablesen konnte, die der Vorstand in die Görresstraße schicken ließ.

Jetzt, nur ein paar hundert Meter vor dem Eingang des Krankenhauses, sah Georg seinen Vater wieder im häuslichen Wohnzimmer. Entspannt lehnte er die linke Hand an das schwarze Klavier und sang »Oh Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich!« Er schaute dabei Mutter an, die geschäftig zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her lief und ihm liebevolle Blicke zuwarf. Anschließend würde Vater eine Zigarre rauchen, eine dieser dicken mit dem dunklen Blatt. Wenn er allerdings nervös war oder ihn Sorgen quälten, hatte er nur wenig und manchmal gar nicht gesungen. Dann rauchte er Senoussi-Zigaretten. In Georgs Kindheit hatten Gesang und Zigarren überwogen. Nur kurz vor seiner Einschulung, nachdem dieser hagere Mann im Haus erschienen war, hatte Vater monatelang fast nur Zigaretten geraucht. Gut zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus Regensburg gab es dann erneut ziemlich häufig Senoussi-Zeiten. Daran war er schuld, er allein. Am Anfang hatten nur ein paar Fragen gestanden, politische Fragen, Fragen an die Geschichte, Fragen an Vater, die Georg mit 16 für entscheidend hielt. Im Sommer 1971 hatten sie sich dann richtig zerstritten. Weihnachten war es zum großen Knall gekommen. Vater hatte ihn vor allen Verwandten einen »arschblöden Pudel« genannt, wissend, dass er damit eine Wunde aufriss. Dabei hatte ihn nicht nur Vaters Verweis auf seinen damals ungeliebten Lockenkopf getroffen, viel stärker noch spürte er die Verachtung, die Vater ihm mit diesen beiden Worten gezeigt hatte. Danach war man sich aus dem Weg gegangen. War Georg daheim, zog er sich auf sein Zimmer zurück.

Georg öffnete die große gläserne Eingangstür des Krankenhauses. Station 8A, Zimmer 802. Es war kurz vor zehn. Neben dem Portal standen zwei Männer in blauen Trainingsanzügen und rauchten. Sie nahmen keine Notiz von ihm. An der Pforte nannte er seinen Namen und sagte, dass er erwartet würde. Die rundliche kleine Frau hinter der Scheibe drehte ihren Kopf Richtung Aufzug: »Das ist die Privatstation vom Professor. Nehmen Sie den Aufzug, junger Mann, 8A ist nämlich ganz oben.«

»Ich war letzte Woche schon mal hier, ich kenne mich aus«, sagte Georg.

Seine Mutter war schon da. Sie nahm ihn in den Arm. Mutter, mittelgroß und schlank, sah aus wie eine Mittvierzigerin, dabei hatten sie im Sommer schon ihren vierundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Beim Haar half sie seit Jahren etwas nach, sodass es blond blieb, aber kaum ein Fältchen trübte Wangen, Mund oder Kinn. Lediglich an den Rändern der Augen, die heute müde blickten, waren welche zu sehen. Mutter hatte die feine Perlenkette angelegt, sie wollte offenbar auch im Krankenhaus Eindruck machen. Die weiße Bluse war wie stets fein gebügelt. Sie trug einen schlichten dunklen Rock. Mutter hatte Georg oft gesagt, wie sehr gepflegtes Aussehen in schwierigen Situationen hilft. Jetzt hatte sie ihm von zu Hause Kaffee mitgebracht, starken Kaffee, schwarz, in der roten Thermoskanne, die früher ihre Ausflüge begleitet hatte. Auf dem weißlackierten Metallnachttisch neben dem Bett des Vaters schien sie Georg fehl am Platz.

Vater wirkte mitgenommen. Die Haut über den Wangen war schlecht rasiert, was Georg gar nicht an ihm kannte. »Wenn du keine Zeit gehabt hättest, hätten die für mich einen Bundeswehrsoldaten besorgt, der auch Blutgruppe A negativ hat«, sagte er zur Begrüßung.

Mutter war irritiert und beeilte sich hinzuzufügen, wie schön es doch sei, dass Georg sich gleich aufgemacht hätte, sodass Vater noch heute frisches Blut von ihm bekäme. Vater grummelte etwas Unverständliches. Ja, vielleicht wäre ein Bundeswehrsoldat besser gewesen, dachte Georg.

Er trank den heißen Kaffee in kleinen Schlucken. Die Augen seines Vaters waren unruhig. »Es wird alles wieder gut«, sagte Mutter, »du brauchst jetzt Kraft für die Bandscheiben-Behandlung und ein bisschen von Georgs Blut.« Das war also ihr offizieller Text: Kraft für die Bandscheiben-Behandlung.

Einige Minuten später saß Georg vor Professor Nordmann in dessen kleinem Sprechzimmer am anderen Ende des Flurs. Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ihre Mutter hat Angst vor der Wahrheit, Herr Mertens, doch es ist schon richtig, wenn Sie Ihrem Vater jetzt Mut macht.« Georg schätzte Professor Nordmann zwischen fünfundvierzig und fünfzig. Er war ein mittelgroßer Mann mit Stirnglatze und einer feinen goldenen Brille, über deren oberen Rand er nun zu Georg aufsah. »Die von uns vorgesehene Zytostatika-Therapie, also was man gemeinhin Chemotherapie nennt, hätte bei den jetzigen Blutwerten Ihres Vaters wenig Erfolg. Sie wirkt sofort viel besser, wenn frisches Blut, Ihr Blut, die Versorgung optimal sicherstellt. Dazu brauchen wir Sie.«

»Und wie verantworten Sie, dass mein Vater die Wahrheit über seinen Zustand noch immer nicht kennt?« Georg hatte etwas mehr Schärfe in diese Frage gelegt, als er eigentlich wollte.

»Glauben Sie mir, dieses Versteckspiel passt mir auch nicht, Herr Mertens. Aber schließlich hat mich die Ehefrau des Patienten, seine engste Angehörige, Ihre Mutter, um diese Verschwiegenheit gebeten.« Nordmann machte eine kleine Pause, in der Georg stumm blieb. »Und ich muss Ihnen sagen, der Patient selbst, Ihr Vater, hat weder mich noch meinen Orthopädie-Kollegen bis heute auch nur ein einziges Mal nach der präzisen Diagnose gefragt. Wir können dieses Versteckspiel sofort aufgeben, und ich denke, wir sollten, wir müssen es tun!«

Dann stellte ihm Professor Nordmann ein paar Fragen zu seinem Gesundheitszustand, bat ihn, den rechten Arm frei zu machen, nahm ihm ein wenig Blut ab und maß den Blutdruck. Einige Minuten später führte eine junge, auffallend hübsche Schwester mit langem roten Haar Georg in ein Nebenzimmer, wo eine Liege für ihn bereitstand. »Ziehen Sie doch am besten die Schuhe aus, dann können Sie sich richtig hinlegen. Das ist viel entspannter«, sagte die Schwester. Sie hatte alles vorbereitet, legte eine Staubinde an, desinfizierte die Einstichstelle, nahm die Kanüle und stach zu. Georg sah, wie sein Blut dunkelrot und ein wenig träge in einen Plastikbeutel floss. Die rothaarige Schwester überprüfte noch einmal Puls und Blutdruck. Er hätte gern ein Gespräch mit ihr begonnen, wusste aber nicht worüber. Über Blut, diesen ganz besonderen Saft, wollte er nicht reden.

Während sich der Plastikbeutel langsam füllte, hantierte die Schwester im Hintergrund mit ein paar Glasröhrchen, verließ für einige Minuten den Raum, kam zurück, füllte Formulare aus und schaute immer wieder auf Georg, auf den Schlauch und auf den Beutel. Sie schien zufrieden, lächelte ihn an. Ein schönes Lächeln, dachte Georg, und wirklich wunderbare blaue Augen.

»Alles okay?«

Georg nickte. »Alles prima.«

Nach ungefähr zwanzig Minuten öffnete sie einen Schrank, in dem sich eine silberne Thermoskanne und Plätzchen verbargen, kam zu ihm, drehte an einem Rädchen am Plastikschlauch und entfernte die Kanüle. »500 ml, das war die Vorgabe vom Chef.« Sie lächelte ihn wieder an, war offenbar zufrieden. Georg versuchte beim Kaffee und den Plätzchen mit ihr ins Gespräch zu kommen. Er fand heraus, dass sie in einem der umliegenden Dörfer wohnte, jeden Tag mit der Bahn in die Stadt kam und nun ihren Führerschein machte. Dann brach die Unterhaltung ab. Die Schwester überprüfte noch einmal Georgs Blutdruck, lächelte ihn an und ließ ihn gehen.

Als er ins Zimmer seines Vaters kam, stand der Infusionsständer schon neben dem Bett. Charlotte bestand darauf, dass Georg im bequemen Besucherstuhl Platz nahm und reichte ihm Kaffee aus der roten Thermoskanne. Nach wenigen Minuten kam Professor Nordmann, hängte den mit Georgs Blut gefüllten Schlauch an den Ständer, legte den Zugang, machte die Kreuzprobe und die Bluttransfusion begann. »Sie werden sehen, Herr Mertens, mit dem Blut Ihres Sohnes werden Sie wieder jung.« Mit einem breiten Lächeln verließ Nordmann das Krankenzimmer. Georg starrte auf den Beutel am Haken über dem Bett. Langsam floss das dunkelrote Blut durch den dünnen Plastikschlauch in die Kanüle an Vaters Arm. Vater döste, nahm ihn wahr, wollte aber offensichtlich nicht mit ihm sprechen. Mutter spürte die Anspannung. »Ist das nicht großartig, Walter, dass dein Sohn das für dich …«

»Schon gut«, fuhr Vater ihr über den Mund. Dann schloss er die Augen und Georgs Mutter verstand, dass auch sie jetzt besser schweigen sollte. Ein wenig später kam die rothaarige Schwester, erkundigte sich nach Vaters Befinden und drehte an dem kleinen Rädchen unterhalb des Schlauchs. »Damit’s nicht gar so schnell läuft«, sagte sie. Dann wandte sie sich Georg zu: »Und wie geht’s Ihnen?«

Wieder dieser ungemein freundliche Blick aus den blauen Augen: »Gut, Schwester, sehr gut!«

Nachdem sie mit einem breiten Lächeln und einem aufmunternden, wieder an Vater gerichteten »Wird schon« das Zimmer verlassen hatte, begann Georg leise von der Vorbereitung auf die nun kommenden Prüfungen zu berichten, den ersten Teil des Staatsexamens, was Vater mit »so so« quittierte. Mutter erkundigte sich nach Marie. Dann erstarb das Gespräch. Georg stand auf. »Ich geh dann jetzt in die Stadt.« Er musste seiner Mutter versprechen, in der Stadt etwas Herzhaftes zu essen, dann schloss er leise die Tür.

Im Aufzug stand Professor Nordmann. »Kommen Sie nur«, rief er, als er sah, dass Georg zögerte. Er überragte den Arzt um rund zwanzig Zentimeter. »Hat mein Vater eine Chance?«, fragte er. »Natürlich hat er eine Chance«, antwortete der Arzt und schaute über den Brillenrand zu Georg hinauf. »Als Folge der Krebserkrankung ist es bei Ihrem Vater zu einer Anämie gekommen. Mit Ihrem Blut erhöhen wir jetzt den Hämoglobinwert und bringen seine Abwehr auf höchstes Niveau. Die moderne Chemotherapie und unsere Bestrahlungsmöglichkeiten können viel erreichen, Herr Mertens. Aber«, er senkte seine Stimme, »da sind die Metastasen in der Wirbelsäule und leider auch schon in der Leber. Sie müssen jetzt mit Ihrem Vater sprechen.«

Die Aufzugtür öffnete sich. Sie gingen schweigend den Korridor zur Pforte entlang. Professor Nordmann gab ihm die Hand. Er könne um siebzehn Uhr gern in sein Zimmer auf der Station kommen, dann sei er zurück und habe Zeit, auch für ein persönliches Gespräch. Georg verabschiedete sich.

Er schlug den Weg zur Innenstadt ein. Er hatte Langenheim vor gut fünf Jahren verlassen, gleich nach Beendigung des Zivildienstes. Er konnte das Studium zwar erst zum Wintersemester 1977 beginnen, war jedoch schon im Juli, drei Monate vorher, nach Köln gezogen. Es war eine Flucht gewesen. Dr. Ringbohm hatte sich völlig verrückt aufgeführt. »Sie müssen fort, Sie zerstören eine Ehe, fort, fort von hier. Sie sind 20 und ein unverantwortlicher Kerl, ein Miststück«, dann hatte er am Telefon nur noch vor Wut gestammelt. Ringbohm hatte wenig später seine Mutter zu Hause aufgesucht und sie eingeschüchtert. Als Elsie nicht zur Generalprobe kam, begann man im Chor zu tuscheln. Erst die Frauen aus dem Sopran, dann drehten sich auch die aus dem Alt nach ihm um. Es war unerträglich. Nur eine Woche nach Abschluss des Zivildienstes fuhr Bärbel ihn in ihrem Käfer nach Köln, wo er nah an der Universität ein großes, helles Zimmer zur Untermiete gefunden hatte. Bärbel war neugierig. Was denn dran sei an diesem Gerede?

Vater hatte ihn nicht zur Rede gestellt. Er hatte ihm nur mitgeteilt, er solle ein Konto eröffnen. »Ich werde dir monatlich 650 D-Mark überweisen, davon musst du dann aber auch alles bezahlen. Und eins lass dir gleich gesagt sein: Von Studienabbrechern halte ich nichts. Ich akzeptiere deine Entscheidung, Geschichte zu studieren, denn damit kannst du später wenigstens Studienrat werden. Dass du eine große Sänger-Karriere aus mir unerklärlichen Gründen einfach ausschlägst, musst du vor dir selbst rechtfertigen.« Leiser fügte er hinzu: »Du wirst es noch bereuen, aber du weißt ja immer alles besser.« Kein Handschlag, aber Georg hatte auch nichts erklären müssen.

Es gab ja auch nichts zu erklären. Fast nichts. Er hatte im Januar nach einer überlangen Probe für Haydns »Schöpfung« mit Elsie an einem Tisch gesessen. Sie hatten zwei Bier getrunken, er hatte ihr zugehört. Sie war erst seit Kurzem im Philharmonischen Chor, war vor einem halben Jahr mit ihrem Mann und den drei Kindern aus Stuttgart nach Langenheim gezogen, hatte erst wenige Bekannte, wollte viel wissen und auch gern erzählen. Georg und sie waren schnell beim Du, wie das unter Chorsängern üblich ist. Er mochte ihre zugewandte Art, das Fackeln in ihren blauen Augen, ihr helles, aber niemals aufdringliches Lachen. Auch nach den nächsten Proben gingen sie wie alle Chormitglieder noch auf ein Bier. Um ruhiger reden zu können, hatten Elsie und er sich allerdings bald für ein kleineres Lokal entschieden, abseits der Gaststätten, die die anderen bevorzugten. Anfang Juni, zwei Wochen vor der Aufführung, gab es einige sehr warme, schon fast heiße Tage. Elsie hatte die Kinder für ein paar Tage zu ihrer Mutter ins Rheinland gebracht. Dr. Ringbohm war auf einer Geschäftsreise. Sie genoss sichtlich die freie Zeit. Es war Georgs Idee mit dem mitternächtlichen Schwimmen im Waldsee. Elsie sagte zu seiner Verblüffung zu.

Sie war fünfunddreißig. Ihr halblanges schwarzes Haar betonte das klare Profil ihres fein geschnittenen Gesichts. Sie hatte am See schnell ihr Kleid über den Kopf gezogen, den BH geöffnet, den Slip abgestreift. Der Mond gab ausreichend Licht. Als sie vor ihm ins Wasser lief, folgte Georgs Blick ihrem festen, straffen Po, bis sie ins kalte Wasser des Waldsees eintauchte. Er beeilte sich, zu ihr aufzuschließen. Das Seewasser war viel kälter, als sie erwartet hatten. Als sie aus dem Wasser stiegen, war der romantische Zauber dahin. Georg bot sein Unterhemd an, mit dem sie sich schweigend abtrocknete. Dann standen sie fröstelnd voreinander, nackt in der grauen Nacht.

Sie schaute ihm direkt in die Augen: »Das mit dem Baden ist Unsinn gewesen, Georg, richtiger Unsinn. Ich unterhalte mich gern mit dir, ich mag deine Art, deine Zurückhaltung, dein Zuhören, aber dabei muss es auch bleiben.« Georg sah im Mondlicht Angst in ihren Augen. »Bitte nimm mich jetzt ganz fest in deine Arme, drück mich kräftig und halt mich fest, ganz fest, aber es gibt nur dieses eine Mal.«

Und es gab nur dieses eine Mal. Bei der nächsten Chorprobe hatte sie keine Zeit für ein Bier. Ihr Mann sei zurück, hatte sie ihm zugeraunt. »Irgendwer muss ihm irgendeinen Quatsch erzählt haben. Er wollte mich gar nicht gehen lassen, er dreht irgendwie durch.« Danach war sie nicht mehr im Chor erschienen.

Dr. Ringbohm hatte ihn einige Tage später bei der Zivildienststelle im Altersheim angerufen. »Es gibt nichts zwischen Ihrer Frau und mir«, hatte Georg auf die Anschuldigungen entgegnet und dann aufgelegt.

Jetzt hatte Georg die Lange Straße, die Hauptgeschäftsstraße von Langenheim, erreicht, die vor einigen Jahren zur autofreien Einkaufsstraße erklärt worden war und auf der nur die Stadtbusse die Fußgänger störten. Seit Beginn des Studiums war Georg nur noch an den Feiertagen nach Hause gefahren und hatte auch dann seine Gänge durch die Stadt auf das Notwendigste beschränkt. Das Wenige, das er als Student brauchte, kaufte er in Köln, und seine Mutter sorgte ohnehin jedes Jahr zu Weihnachten für ein neues Hemd und einen neuen Pullover.

Vom Marktplatz ging er an der Marienkirche vorbei hinauf in Richtung Stadttheater. Nach wenigen Minuten hatte er das Café Haase erreicht, ein Pennälercafé, dessen Inhaber, die Familie Haase, zwar oft ein volles Haus, aber wahrscheinlich eher mageren Umsatz hatten. Jetzt in den Herbstferien war wenig Betrieb. Georg fand einen ruhigen Tisch an der Seite. Die Kellnerin brachte ihm die Speisekarte, deren bescheidenes Speisenangebot sich seit der Gymnasialzeit kaum verändert hatte.

Sein Vater würde wahrscheinlich sterben. Doch es wollte ihm nicht gelingen, diesen Gedanken wirklich zu fassen, sich ihm ganz zu widmen. Er ging zu seinem Anorak, in dessen Taschen ein Päckchen Zigaretten steckte, und lief langsam zurück zu seinem Tisch. Er rauchte selten, aber jetzt tat es ihm gut, langsam an der Zigarette zu ziehen, den Rauch zu spüren und zu beobachten, wie er sich im Café verflüchtigte. Ein junger Mann kam mit dem Billardqueue aus dem Seitenzimmer, ging zur Musikbox und wenig später klang Procol Harums »A Whiter Shade of Pale« aus dem Lautsprecher. Doch Georg hörte plötzlich eine ganz andere Musik, ein Stück, von dem er als Kind einmal gedacht hatte, er würde es beherrschen.

Vor der Wand

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