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Dienstag, 28. September 1982 Der Kollaps

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Das Café war nur schwach besetzt. Aus einem Nebenraum klangen Geräusche vom Billardtisch. Zwei Jungen waren konzentriert bei der Sache. Georg hörte beständig das Klickklick der Kugeln, ab und zu ein lang gestrecktes mit Schimpfwörtern versetztes Stöhnen oder ein kurzes triumphierendes »Wunderbar«. An einem Tisch am Fenster saßen vier Mädchen, sechzehn- oder siebzehnjährig, vor ihren Colagläsern im Gespräch vertieft. Georg drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, bestellte ein Bier und Hühnersuppe.

Hier hatte er sich zu Oberstufenzeiten nachmittags oft mit Roland getroffen. Hier wurde auch die Idee mit Lisa geboren. Georg lächelte. Lisa, was für eine verrückte Idee damals! Aber sie waren ja erst 17 und schmerzlich unerfahren. Roland war nach Georgs Rückkehr aus Regensburg sein bester Freund geworden. Mit ihm war er gemeinsam in den philharmonischen Chor eingetreten, gleich nachdem sich die Stimme nach dem Stimmbruch wieder gefestigt hatte.

Auch jetzt im Café Haase dachte Georg immer wieder an Vater, wie er bleich in diesem Krankenhausbett lag, nicht einmal wissend, welche Krankheit ihn da tatsächlich befallen hatte. Oder tat Vater nur so? Wusste er vielleicht sehr genau, wie schwer seine Krankheit war, und spielte vor Mutter das gleiche Spiel wie sie vor ihm? Er würde mit Vater reden. Ja, er würde ihn aufklären. Er war schließlich sein Sohn. Aber wie redet man mit seinem Vater über den Tod?

Die Kellnerin brachte das Bier und die Hühnersuppe. Georg entdeckte zu seiner Freude, dass in der Suppe schöne große Fleischstücke lagen und sog genüsslich den Dampf ein, der sich aus dem heißen Teller erhob. »Lassen Sie’s sich gut schmecken, junger Mann.«

»Danke!«

Er würde heute Abend mit Marie telefonieren. Sie hatte womöglich ein paar gute Ideen, wie er das Gespräch mit Vater beginnen konnte. Vielleicht sollte er mit der Erinnerung an ihr gemeinsames Singen starten, damals bei der Vorbereitung auf Regensburg. Aber Vaters unerfüllte Hoffnungen in seinen Sohn an den Anfang eines Gesprächs zu setzen, war wahrscheinlich nicht besonders klug.

Georg spürte, wie ihm die heiße Suppe guttat und wie sie das Nachdenken über das zu führende Gespräch ein wenig erleichterte. Allzu ermutigend war Vaters Grummeln heute Mittag ja nicht gerade gewesen. Möglicherweise war es ihm nur peinlich, dass er, sein Sohn, ihm Blut spendete statt eines anonymen Spenders, der Geld dafür bekommen würde und dem er zu nichts verpflichtet wäre. Vielleicht würde Vater das Gespräch an sich ziehen und ihn fragen, was eigentlich damals vor über zehn Jahren so schiefgelaufen war, dass sie so weit auseinander geraten waren. Was würde er darauf antworten? Würde er Vater noch einmal die alten, die ganz alten Fragen stellen?

Die Kellnerin kam zurück. Georg lobte die Suppe und bestellte ein Kännchen Kaffee. Klickklick, oh, neeeiiin, klickklickklick, tönte es aus dem Seitenzimmer und von den Mädchen am Nachbartisch schwappte laute Empörung zu ihm herüber. Irgendein Robbie musste es faustdick hinter den Ohren haben. Ob Marie mit siebzehn in Göttingen ebenso mit ihren Freundinnen über Jungen hergezogen war?

Wieder fragte er sich, was wohl der Grund für Maries Ernsthaftigkeit sein könnte. Es war doch alles gut gelaufen. Ihr Examen im Sommer war ein glattes »Gut« geworden, ein Super-Prädikatsexamen. Sie hatte gleich einen Platz im Referendariat bekommen und arbeitete jetzt schon seit vier Wochen am Amtsgericht in Leverkusen. Dennoch war Marie nicht so unbeschwert wie sonst. Gut, sie war immer ein wenig ernster als die meisten anderen Mädchen, sie hatte keine Oberflächlichkeit, aber jetzt war da noch irgendetwas anderes. Er hatte sie vor einer Woche gefragt, ob sie sich Sorgen mache, ob sie etwas bedrücke. Doch sie hatte nur geantwortet, alles sei okay, sie sei halt noch immer ein wenig müde, kein Wunder nach all dem Examens-Stress.

Die Kellnerin brachte den Kaffee und nahm den Suppenteller mit fort. Gleich nach seinem Staatsexamen im Winter wollten sie zusammenziehen. Eine Heirat wäre allerdings noch besser, hatte sie vor drei Monaten einmal gesagt, dann könnte der Staat sie nicht so weit auseinanderreißen, sie für ihr Referendariat irgendwo in der Landesmitte am Amtsgericht und er ganz weit weg an einer Schule an der nordrhein-westfälischen Landesgrenze kurz vor Holland oder Hessen oder Niedersachsen. »Eins nach dem andern«, hatte er geantwortet, ohne weiter darüber nachzudenken.

Seitdem hatten sie nicht wieder über Heirat gesprochen. Er kannte Marie jetzt seit drei Jahren, er liebte sie, sie hatten das Jahr ihrer Trennung, als er in den USA studierte, sehr gut überstanden. Natürlich gab es Impulse von anderen Frauen, mitunter sogar überraschend kräftige, und jedes Mal irritierten sie ihn, aber er wusste, er liebte Marie, und er war sicher, dass sie ihn auch liebte. Jetzt hatte sie ihr Jurastudium abgeschlossen, er selbst stand kurz vor seinem Examen, eigentlich könnten sie tatsächlich in ein paar Monaten heiraten. Heiraten und ein Kind bekommen? Eltern werden? Der Gedanke war nicht ganz neu, aber er verfing nicht. Kinderkriegen war doch noch ganz weit weg, auch wenn er jetzt Marie hörte, wie sie ihm einmal erzählt hatte, sie wolle später mindestens drei, besser noch vier Kinder haben, weil sie sich als Einzelkind immer so allein gefühlt habe. Marie hatte vor einiger Zeit die Pille abgesetzt, seitdem verhüteten sie mit Kondomen. Das war nicht so schön wie sonst, aber er hatte sich daran gewöhnt. ›Und wenn’s jetzt reißen würde?‹, war ihm vor zwei Wochen ganz plötzlich durch den Kopf geschossen. Er hatte mit diesem Gedanken gespielt, während sie miteinander schliefen, und fand ihn ziemlich aufregend, ja, dieser Gedanke hatte ihn an jenem Abend mächtig erregt. Aber wenn er sich jetzt vorstellte, mit Marie darüber zu sprechen, wich alle Begeisterung. Nein, Heirat war nicht das Thema, gerade jetzt nicht, wo Vater starb und Marie irgendeine Sache mit sich herumtrug, die er noch nicht kannte. Dennoch sprach er einmal für sich ganz langsam aus, als probe er für eine Theateraufführung: »Ich möchte dich heiraten und will ein Kind mit dir.« Er war beruhigt: Der Satz klang tatsächlich fremd, sehr fremd.

»Haben Sie mich gerufen? Darf’s noch etwas sein?« Die Kellnerin war an seinen Tisch geeilt.

»Nein, entschuldigen Sie, ich habe wohl vor mich hingesprochen.«

Georg nahm einen Schluck Kaffee. Er sah sich auf einmal mit einem kleinen, vielleicht vier- oder fünfjährigen Jungen an der Hand, und er ging mit ihm durch einen Garten, stand vor einem Teich mit Seerosen darin. Es war der Garten in der Görresstraße, der Junge zeigte auf den Starenkasten, der in der alten hohen Fichte hing, und dann war auf einmal er dieses Kind. Er ging an der Hand seines Vaters durch den Garten und sein Vater sang:

»Ich bin nur ein armer Wandergesell,

gute Nacht, liebes Mädel, gut’ Nacht.

Gar dünn ist mein Wams und gar dick ist mein Fell,

gute Nacht, liebes Mädel, gut’ Nacht.«

Es war seine älteste Erinnerung an den Garten. Vielleicht war es der erste bewusste Gang dort gewesen, damals, kurz nachdem Vater das Haus an der Görresstraße gekauft hatte. Vater hatte leise gesungen, dennoch »mit Ausdruck« und nur für ihn, nicht am Klavier vor einer Tischgesellschaft, sondern für ihn, den fünfjährigen Georg im Garten.

»Und oft da dacht ich,

ich packte das Glück,

doch immer

da zog’s mir die Patschhand zurück,

Da hab ich geweint und gelacht.«

Georg wunderte sich, dass er den Text immer noch im Kopf hatte. »Patschhand«, sagte er auf einmal im Café Haase. Zum Glück hatte ihn niemand gehört.

Er erinnerte sich auch, wie sie einmal im Garten ein Wettrennen gemacht hatten, Vater und er. Er war vielleicht fünf oder sechs, Vater war aus dem Büro direkt durch das kleine Tor in den Garten gekommen. »Wer nach fünf Runden zuerst wieder am Gartentörchen ankommt, hat gewonnen«, und Vater in Anzughose und weißem Hemd lief vor ihm, lief und lachte, machte große Schritte, es war schon die dritte, dann die vierte Runde, da stolperte Vater und fiel auf den Rasen, lag flach, langgestreckt, wie ein Insekt, seine Brille landete einen Meter vom Gesicht entfernt im Beet. Georg stoppte, einen Moment stockte alles, Stille, dann lachte Vater, lachte laut, und Georg lachte mit, konnte sich gar nicht mehr halten vor Lachen, während Vater noch immer neben ihm im Rasen lag, mit der dunklen Hose und dem weißen Hemd, das jetzt dreckig war, und dann drehte sich Vater sogar und fuchtelte mit Armen und Beinen wie ein Maikäfer, der auf den Rücken gefallen ist. So hatte Georg Vater noch nie gesehen, und er musste so sehr lachen, dass er den Urin nicht länger zurückhalten konnte, die Blase leerte sich und es floss warm an seinen Beinen herunter. Da kam Mutter hinzu, ängstlich, weil sie Vater auf dem Rasen liegen sah, und Bärbel erschien mit erstauntem Gesicht. Nun sahen sie, wie Vater und er lachten, einfach nur lachten und wie es unter Georgs kurzer Hose hindurch an seinen Beinen heruntertröpfelte. Da lachten auch Mutter und Bärbel, aber ihm verging das Lachen, er war doch schon fast sechs, kam bald in die Schule, und es war eklig, so eklig, und auch die drei hörten jetzt auf zu lachen. Mutter holte ein Handtuch, trocknete ihn ab und ging mit ihm ins Badezimmer. »Das kann passieren, Georg«, sagte sie und ließ Wasser in die Wanne laufen. Eine Stunde später beim Abendessen machte Vater dann eine hässliche Bemerkung über das Ende ihres Wettlaufs. Jetzt im Café Haase konnte Georg sich nicht mehr ins Gedächtnis rufen, was Vater damals gesagt hatte. Er erinnerte sich nur noch daran, wie er sich am Esstisch unendlich geschämt hatte.

Georg trank den letzten Schluck Kaffee und schaute gedankenverloren auf den Grund der Tasse. Als er am Samstag nach dem ersten kurzen Besuch bei Vater nach Köln zurückgekehrt war, hatte Marie ihn bereits in seiner kleinen Einzimmerwohnung erwartet. Es hatte so unendlich gut getan, sie in den Arm zu nehmen, waren doch noch all die Bilder vom Krankenzimmer in seinem Kopf. Er hatte überlegt, ihr an diesem Wochenende vorzuschlagen, zur Vorbereitung auf sein Examen ab sofort ein oder zwei Wochentage in ihrer Wohnung in Düsseldorf zu lernen. Dann hätten sie während der Woche mehr Zeit miteinander, mehr Alltag. Seine Verpflichtungen als studentische Hilfskraft an der Kölner Uni könnte er auf zwei Tage pro Woche verdichten. Er suchte den passenden Moment für diesen Vorschlag, sah vor seinem geistigen Auge die gewünschte Reaktion, ein breites Lächeln, sich öffnende Arme, aber er war sich nicht ganz sicher.

Am Sonntagmorgen war er nach dem Aufwachen auf ihre Seite des Bettes gekrochen und hatte sie an sich gedrückt. Während er Brust und Bauch an ihren Rücken schmiegte, erzählte ihm Marie ausgiebig von einem älteren Amtsrichter, der immer ganz bedeutsam aufträte und sie am letzten Donnerstag zu einem Abendessen beim Italiener eingeladen hatte, um ihr ein paar wichtige Geheimnisse anzuvertrauen. Diese hatten sich bei der Pasta dann als Banalitäten entpuppt. Beim Tiramisu waren sie endgültig reichlich plumpen Komplimenten gewichen. Es war schön, Maries genüsslicher Beschreibung zuzuhören, und sie hatten beide im Bett über den Amtsrichter gelacht.

Ja, Marie schien endlich unbesorgt und entspannt. Georg liebte es, ihre Wärme zu spüren, er zog ihren Po so eng wie möglich an sich heran, schob seine rechte Hand unter ihr dünnes Nachthemd und legte die Hand auf ihren Bauch, während er mit seinem linken Arm unter ihren Nacken fuhr. Sie waren unter ihrer Bettdecke wie ein einziger Körper. Er hatte gehofft, es würde nun das passieren, was sich schon oft aus einer solchen Aufwachsituation ergeben hatte. Sein Wunsch konnte Marie nun wirklich nicht verborgen bleiben, und er wartete auf ein kleines Zeichen von ihr, vielleicht würde sie sich zu ihm umdrehen und ihm einen Kuss geben, das vertraute Startsignal.

Er würde ihr danach dann vorschlagen, demnächst bei ihr in Düsseldorf zu lernen. Aber es kam kein Zeichen, im Gegenteil, sie schien plötzlich wieder recht angespannt. Als er begann, mit seiner Hand über ihren Bauch zu streicheln und durch leichten Druck sein Begehren zu verdeutlichen, sagte sie nur: »Bitte heute Morgen nicht, Georg, mir ist nicht danach.« Den ganzen Vormittag über war er nervös, auch ein wenig verärgert. Erst am Nachmittag, als sie ihn zum »Mittagsschlaf« einlud, wurde er lockerer. Er nahm sich sogleich vor, die Zeit danach für die Eröffnung seines Planes zu nutzen, aber es lag ein Schatten auf ihrem Beisammensein und Georg blieb nicht verborgen, dass Marie nur ihm zuliebe in den Mittagsschlaf eingewilligt hatte. Als sie danach ganz ruhig nebeneinander lagen, spürte er, dass es wieder einmal nicht der richtige Moment für Vorschläge war. Er blieb stumm und war am Ende eingeschlummert.

»Noch etwas zu trinken, junger Mann, ein Bier vielleicht?«, fragte die Kellnerin. »Lieber noch einen ordentlichen Kaffee«, erwiderte Georg und unterstrich seinen Wunsch mit einem Lächeln. Er ärgerte sich darüber, bis heute nicht den Mut aufgebracht zu haben, Marie um eine Erklärung zu bitten. Da war doch etwas, das spürte er seit drei Wochen! Hatte sie Zweifel? War sie in jemand anderen verliebt? Aber jetzt war er in Langenheim und die nächsten Tage würde sein Vater im Mittelpunkt stehen. Da würde es nur abends längere Telefongespräche mit Marie geben, nach neun, wenn es billiger war und sie ausführlicher reden konnten. Vielleicht sollte er ihr einen Brief schreiben?

Die Kellnerin brachte den Kaffee. Die Mädchen am Tisch am Fenster baten um die Rechnung. Aus dem Nachbarzimmer klang das Klickklick der Billardkugeln.

»Möchten Sie ein Stück Kuchen zum Kaffee? Sie sind doch der junge Herr Mertens, nicht wahr?« Frau Haase stand vor ihm mit einem Teller, auf dem ein Stück Käsekuchen lag. »Ich habe Sie gleich an Ihrem blonden Lockenkopf erkannt. Sie haben sich kaum verändert. Der Käsekuchen geht auf’s Haus. Sie sind so still heute, so ganz für sich, ist was mit Ihnen?«

Er nahm den Kuchen und erzählte ihr, dass sein Vater im Krankenhaus liege und man nicht wisse, wie es ausgehen wird. »Ja, dann ist mir alles klar«, sagte Frau Haase teilnahmsvoll und dehnte wie früher die Vokale. »Gute Besserung für Ihren Vater und schön auch, dass Sie mal wieder bei uns vorbeigeschaut haben!« Frau Haase verschwand in der Küche. Georg beeilte sich mit dem Kuchen, trank den Kaffee und zahlte. Er hatte viel zu lange im Café Haase gesessen.

Es war kurz nach fünf, als Georg in Professor Nordmanns kleinem Sprechzimmer im achten Stock Platz nahm. Er hatte sich sehr beeilt und ärgerte sich, als der Arzt ihm schon beim Hineinbitten sagte, dass er leider nur wenig Zeit hätte. »Es ist ein kleinzelliger Krebs, Herr Mertens, der leider schnell streut und sich gern ausbreitet.« Nordmann füllte Kaffee in die beiden Tassen, die seine Sekretärin bereitgestellt hatte. Seinen großen ledernen Schreibtischstuhl hatte er schon zuvor weit hochgefahren. Jetzt sah er auf Georg herab, der auf einem schlichten Holzstuhl vor dem weißen Schreibtisch des Chefarztes saß.

»Ich hab es Ihrer Mutter schon gesagt, vermutlich ein Bronchialkarzinom, also Lungenkrebs. Wir haben jedoch den Primärtumor bisher nicht finden können. Das kommt leider immer wieder vor, ein metastasierendes Tumorleiden mit unbekanntem Primärtumor. Da kann man chirurgisch, also operativ nichts tun.« Georg nickte.

»Und die Blutübertragung heute Morgen?«

»Die Blutübertragung ist in solchen Fällen wichtig. Wie ich Ihnen schon sagte, wir kriegen sonst den Hämoglobinwert nicht in die Höhe. Morgen um neun will ich bei Ihrem Vater mit der Therapie beginnen, da nutzen wir die Wirkung des frischen Blutes, Ihres Blutes, das Sie gespendet haben. Das hilft Ihrem Vater sehr, Sie werden es sehen. Allerdings«, hier stockte Professor Nordmann und drehte mehrfach einen silbernen Kugelschreiber mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand, »ich möchte noch einmal wiederholen, dass Ihr Vater jetzt wissen muss, wie es um ihn steht. Wahrscheinlich ahnt er längst, dass es keine Bandscheiben-Probleme sind.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Professor Nordmann. Meine Schwester und ich mögen dieses Versteckspiel auch nicht.«

»Dann reden Sie mit Ihrer Mutter! Ich möchte nicht nur, ich muss Ihrem Vater erklären, was eine kombinierte Chemo- und Radio-Therapie ist und warum wir sie jetzt beginnen.« In Professor Nordmanns Stimme war ein ärgerlicher Beiklang nicht zu überhören.

»Ich verspreche Ihnen, dass mein Vater über seinen Zustand Bescheid wissen wird, bevor Sie morgen früh mit der Therapie beginnen. Das bin ich meinem Vater schuldig!« Das hatte ein wenig zu kräftig geklungen, dachte Georg, fast markig. Er fand einfach nicht den richtigen Ton mit diesem Chefarzt.

Professor Nordmann nickte. »Gut dass wir das geklärt haben, Herr Mertens.« Er machte eine kleine Pause, legte den Kugelschreiber aus der Hand und griff zu seiner Kaffeetasse. Auch Georg trank von seinem Kaffee. »Ich muss Sie jetzt jedoch um Verständnis bitten, wenn ich mich gleich wieder aufmache. Sie wissen ja, die Patientin mit dem Tumor im Kopf. Mein Kollege will sie morgen früh gleich operieren. Da ist noch einiges für mich zu tun.«

»Eine Frage noch, Professor Nordmann: Wird mein Vater sehr leiden müssen?«

»Das hängt davon ab, wie er auf die Therapie anspricht. Wir werden mit einer leichten Chemotherapie beginnen, vergleichsweise gut verträglich, und sie mit strahlentherapeutischen Maßnahmen koppeln. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht, Herr Mertens. Die Zytostasen, also die Chemotherapien, sind heute nicht mehr so radikal wie noch vor ein paar Jahren. Die Patienten reagieren mit sehr viel weniger Übelkeit. Sie werden das morgen sehen. Seien Sie guten Mutes!« Mit diesem Satz öffnete Professor Nordmann die Zimmertür, führte Georg auf den Flur, schloss sein Zimmer ab, nickte Georg noch einmal aufmunternd zu und ging mit langen Schritten davon. Georg blickte dem Mann im weißen Kittel nach. Kleinzellig, hatte er gesagt, das klang gemein.

Auf Station 8 wurde schon alles für die Nacht vorbereitet. Die rothaarige Schwester kam ihm entgegen, nicht mehr im weißen Schwesternkittel, sondern in einem braunen, engen Cordminirock, dessen Wirkung ihr offenbar bewusst war. Sie lächelte ihn an, drehte sich um und ging zum Fahrstuhl. Im knappen Rock zeichnete sich jede Bewegung ihrer Schritte ab. Erst als sie sich im Fahrstuhl zu ihm umwandte, wurde Georg bewusst, dass er sie nicht aus dem Blick gelassen hatte. Sie lächelte, er schlug die Augen nieder. Marie trug keine Miniröcke, sondern meistens Hosen.

In Vaters Zimmer empfing ihn Mutter mit lautem Vorwurf. Wo er denn gewesen sei, sie habe ihn schon vor Schwäche zusammengebrochen irgendwo in der Stadt liegen sehen, solche Sorgen habe sie sich gemacht. »Lass es gut sein, Charlotte«, sagte Vater mit klarer Stimme, gar nicht mehr elend und krank. Georg sah, dass Vaters Gesicht weniger grau wirkte als am Morgen, auch die Lippen zeigten eine Spur Röte. Seine Mutter hatte ihm die Haare akkurat zur Seite gekämmt.

Vater streckte ihm die Hand entgegen, sagte »danke« und nach einer Weile »für das Blut«.

Damit hatte Georg nicht gerechnet. Auch Charlotte war bei diesem Satz ganz ruhig geworden. Dann strahlte sie, goss Kaffee aus der roten Thermoskanne in eine jener hohen Tassen, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, und reichte sie ihm. Während Georg den Kaffee trank, ging sie ans Fenster, wo auf der Fensterbank drei große Blumensträuße in schlichten Vasen steckten. »Hat Vater nicht wunderbare Sträuße bekommen, Georg? Der ist von Schnakel, vom Juniorchef selbst, und der gelbe dort vom alten Schnakel mit handgeschriebener Karte.«

»Ich würde gern ein paar Minuten mit Vater allein sein«, sagte Georg. Das Strahlen in Mutters Gesicht erstarb. »Habt Ihr etwa Geheimnisse vor mir?«, fragte sie und presste sich ein Lachen ab.

»Ja«, sagte sein Vater, trocken und ernst.

Machte ihm die Situation im Krankenzimmer Spaß? Vaters Augen gingen wach von Georg zu Charlotte, sein Blick hatte etwas Herausforderndes. Georg war erleichtert. Das frische Blut wirkte offensichtlich. Sicher wollte Vater jetzt selbst von ihm wissen, was denn die tatsächliche Diagnose sei. Vielleicht würde es daraufhin ein wirklich gutes, ehrliches Gespräch geben, ein Gespräch, wie sie es seit Jahren nicht mehr geführt hatten. Immer nur dieses kurze Gerede, dieser Austausch über das Nötigste, diese Belanglosigkeiten. Seit dem großen Streit damals immer nur dasselbe!

Mutter brabbelte von Undank, schließlich sei sie ja jeden Tag am Bett, aber nun komme Georg und schon solle es ein Männergespräch werden. Sie sprach »Männergespräch« so aus, als sei es etwas Unanständiges.

»Versteh doch«, sagte Vater, »ich möchte Georg endlich von meinem verborgenen Leben als Zuhälter erzählen, da wollen wir dich nicht dabei haben.« Georg musste lächeln. Vater sprach zwar leise, aber war wie ausgewechselt. Als Mutter nah vor Georg stand, zischte sie ihm zu: »Dass du mir nur nichts sagst.«

Georg stellte den Stuhl so ans Fußende des Bettes, dass sein Vater ihn ohne Anstrengung sehen konnte. Sie schauten sich still an. Georg suchte noch seinen ersten Satz, als Vater bereits begann. »Wir haben in den letzten Jahren eher wenig miteinander gesprochen«, Vater räusperte sich, »du bist ja auch immer nur kurz in Langenheim geblieben, und wenn du da warst, hattest du deine Bücher dabei, hast dich mit Roland getroffen oder dein Rad genommen und warst stundenlang unterwegs. Irgendein Bedürfnis nach einem Gespräch gab es wohl nicht. Am Anfang dachte ich, du würdest dich immer noch für diese Ringbohm-Sache schämen.«

Georg war überrascht. Er hatte nicht erwartet, dass Vater das Gespräch an sich ziehen würde, und war erst recht verwundert, dass er dazu die uralte Ringbohm-Geschichte ansprach. Georg war nur auf eine Frage gefasst gewesen. Aber Vater fragte nicht nach der wirklichen Ursache seiner Krankheit, sondern legte eine Leutseligkeit an den Tag, die Georg ihm in dieser Situation nicht mehr zugetraut hatte. »Ich will dir mal die Wahrheit sagen«, Vater senkte die Stimme und flüsterte: »Ich hatte mich gefreut, als ich hörte, du hättest mit der Ringbohm am Waldsee, du weißt schon …« Vater machte eine kleine Pause, »naja, eine verheiratete Frau, drei Kinder, da tut man so etwas eigentlich nicht, aber ich mochte ihren Mann nie, diesen aufgeblasenen Herrn Doktor, und irgendwie war ich sogar erleichtert. Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, wir hatten immer nur diese braven Mädchen, mit denen du Musik machtest, zu Gesicht bekommen mit ihren Geigen und Bratschen.« Vater stockte. »Und dann die Ringbohm, eine wirklich aparte Frau, eine Sauerei, sie zu verführen, aber dennoch, gratuliere. Mein Sohn, das sah ich, hatte Geschmack, auch wenn sie ja einiges älter war als du. Und er, dieser Herr Doktor Ringbohm, kommt zu Charlotte und beschimpft sie wegen deiner amourösen Abenteuer! Dieser Idiot!«

»Vater, es war gar nicht so, wie du denkst, es war nur …«, warf Georg ein, war sich aber gar nicht sicher, ob er jetzt sehr viel Energie investieren sollte, um seinem Vater zu erklären, was am Waldsee geschehen war.

»Du wärst damals nicht Hals über Kopf nach Köln abgehauen«, sagte sein Vater, »Monate, bevor dein Studium begann. Du brauchst dich auch gar nicht zu rechtfertigen für diese Flucht, das ist Jahre her und gehört wohl dazu, wenn man jung ist. Ich war auch mal achtzehn.« Vater hatte früher ein paarmal erzählt, wie er mit siebzehn oder achtzehn einer Freundin in Breslau imponieren wollte und dabei fast ertrunken wäre. Es war an einem See gewesen, irgendwo in Schlesien, der breiter war, als Vater gedacht hatte, aber er hatte dem Mädchen versprochen, er könne den ganzen See durchschwimmen. Hoffentlich würde Vater jetzt nicht diese uralte Geschichte ausgraben.

»Als ich 1939 nach Berlin kam, war ich noch keine zwanzig. Da kam zwar der Krieg, aber die Mädchen machten dennoch große Augen, wenn ich abends sang.« Vater lachte. Er wollte offenbar auf gar keinen Fall über seine Krankheit sprechen. Georg spürte, wie er anfing zu schwitzen. Wie konnte er das Gespräch auf das eigentliche Thema bringen? Sollte er Vater zwingen? Hinzu kam jetzt, dass das Bier im Haase und vor allem der viele Kaffee schon seit einigen Minuten einen kräftigen Druck ausübten und er Vater eigentlich kurz allein lassen müsste. Aber wäre es ratsam, das Gespräch in dieser Situation zu unterbrechen?

Vater erzählte von der braunhaarigen Paula, einer Berliner Fabrikantentochter, die ein eigenes Cabrio besaß, mit dem sie am Wochenende zu den Seen hinausgefahren seien. Dass sie eine ganze Gruppe waren, die sich am Müggelsee einsame Stellen suchte, wo man nackt baden konnte. Dass an fast jedem Wochenende irgendwo gesungen und getanzt wurde, bis dann der Krieg alles überschattete. Paula habe Anfang 42 Berlin verlassen, ihr Vater hatte sie zu Freunden aufs Land geschickt. In Sicherheit. Er habe sie nie wiedergesehen. Mit Helma, der alten Breslauer Freundin aus Schultagen, sei es dann allerdings enger geworden, aber 1944 sei auch das auseinandergegangen, als sie mit ihrer Mutter in den Schwarzwald ging und in Freiburg zum Arbeitsdienst musste. Und als man ihn im gleichen Jahr dann trotz der Augenprobleme doch noch eingezogen habe, stand keine Frau für ihn am Bahnhof und niemand habe geweint.

»Der Krieg und die Liebe vertragen sich nicht gut, Georg.« Vater schaute ihn direkt an und machte eine Pause.

Merkte Vater nicht, dass jetzt nicht der rechte Ort für solche Plaudereien war? Glaubte er denn wirklich an die Bandscheibengeschichte? In wenigen Minuten würde Mutter ins Krankenzimmer zurückkehren. Es sah nicht so aus, als könne er bis dahin noch den Dreh zum Gespräch über die Krankheit finden. Georg wurde nervös. Er musste jetzt dringend pinkeln. Vater war in seiner Erzählung bei Marianne angelangt, einer jungen Frau in Berlin, die Kontakte nach Babelsberg hatte. Fast hätte es geklappt und Vaters kleines Weddinger Operetten-Ensemble wäre in einem Ufa-Film aufgetreten. Vater war nicht zu bremsen hier im Krankenhaus mit einem kleinzelligen Krebs, der gern streute!

Er sah längst über Georg hinweg, erzählte von der Reise mit der 250er BMW im Frühjahr 1943 an den Königssee, »trotz Krieg«, und hielt nicht einmal inne, als die Tür aufging und Mutter zurückkehrte. Sie sah ihren Mann, aufgeräumt und munter im Bett sitzend, und erkannte schnell, dass das Wesentliche gar nicht zur Sprache gekommen war. Ja, die Fahrt mit dem Motorrad von Berlin nach Berchtesgaden, diese Geschichte habe sie immer so gern gehört, sagte Mutter.

Georg stand auf. Ihm war schlecht. Er würde jetzt verschwinden, nur raus aus diesem Zimmer. Er ging ans Bett und gab seinem Vater die Hand. Georg wurde schwarz vor Augen, er suchte Halt bei Vaters Hand, spürte, wie die Beine wegsackten, hörte noch einen Aufschrei und alles war weg.

Vor der Wand

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