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Sommer 1971 Camille
ОглавлениеDas Gespräch am Stehtisch bei Tchibo erstarb. »Camille«, hauchte Roland. Gerade hatte Volker noch den Mund aufgerissen und Nixon einen Kriegstreiber genannt, der niemals Präsident einer Supermacht hätte werden dürfen. Georg und seine Freunde wussten, dass jetzt Hans-Gerds Erklärung der ewigen Verdammnis der USA folgen würde. Erst vor einer Woche hatte er in Geschichte ein Referat über die Supermacht und den Vietnam-Krieg gehalten, das Dr. Wagner prompt als »antiamerikanisch durchseucht« beurteilt hatte. Doch in dem Augenblick, in dem Hans-Gerd Atem geholt und den Mund geöffnet hatte, kam sie herein.
Die Jungen wurden still. Alle vier schauten sie an. »Camille«, hauchte Roland noch einmal. Da stand sie an der Verkaufstheke, bat um ein Pfund Klassik-Mischung, »oh bitte sehr, für die Kaffeemaschine, fein gemahlen, sehr fein«. Sie sprach mit diesem wunderbaren französischen Akzent, der allein die vier in Hochspannung versetzte.
Camille stammte aus Martinique, war vor fünf Jahren mit ihrem Mann hierher gekommen. Jeder in Langenheim, vor allem jeder Mann ab 15, wusste, wer Camille war, diese schlanke, schwarze, nein schokoladenbraune, wunderhübsche Frau, die Model in Paris gewesen war und noch heute gelegentlich für deutsche und internationale Modezeitschriften arbeitete. Jetzt stand sie keine anderthalb Meter vor Georg, eine mittelgroße Frau, wohl ein Meter siebzig, schätzte er. Er sah ihren langen Hals, den Übergang zum kurzen, äußerst feinen und kraus gedrehten schwarzen Kopfhaar. Sie wartete vor dem Verkaufsstand. Ein leichter, aufregender Duft ging von ihr aus, kein 4711 Kölnisch-Wasser oder Tosca, das Georg von seiner Mutter kannte, sondern etwas ganz anderes, Fremdes.
Die Kaffeebohnen liefen durch die laut scheppernde Mühle. Die Verkäuferin fragte, wie es dem Sohn ginge. »Gut, sehr gut! Paul ist im Kindergarten«, sie sprach den Namen ihres Kindes französisch aus. Da fuhr sie plötzlich mit der rechten Hand nach hinten an ihren Haaransatz, hob einige Male das krause kurze Haar mit ihren Fingerkuppen ein wenig an und ließ anschließend die Finger langsam durch ihr Haar gleiten.
Georg sah ihre schlanke Hand, die langen Finger, den goldenen Ehering und einen weiteren goldenen Ring mit drei glitzernden Steinen an ihrem Mittelfinger, die Fingernägel waren fein lackiert, nicht rot, sondern mit einem durchsichtig schimmernden Lack. Das kurze Haar war widerspenstig, es ließ sich durch die Berührung von Camilles Fingern in keiner Weise glätten oder sonstwie bändigen. Dann glitt ihre Hand langsam an ihrer rechten Wange entlang, fuhr den Hals herab und verschwand aus Georgs Blickfeld. Seine Augen wanderten zu Camilles schwarz-weiß gestreiftem Sommerkleid, das das obere Drittel des Rückens frei ließ.
Es war erst Mitte Juni, schon recht warm, aber nicht heiß, die Langenheimer Frauen trugen um diese Zeit meist noch eine dünne Jacke über dem Kleid, nicht aber Camille. Georg starrte auf ihre dunkle Haut. Sein Blick folgte dem Rücken, das Kleid saß eng, betonte den Po, schlank, keine pralle Kugel, die den Stoff spannte, sondern einfach fest und straff. Er träumte davon, ihn zu berühren.
Dann nahm sie die Packung mit dem fertig gemahlenen Kaffee, steckte das Wechselgeld mit ein paar netten Worten an die Verkäuferin in ihre kleine schwarze Ledertasche, drehte sich zu den Jungen am Stehtisch, lachte sie freundlich an und verließ das Geschäft mit einem fröhlichen und französisch akzentuierten »Auf Wiedersehen«. Die vier schauten ihr nach, ihren feinen weißen Schuhen mit den spitzen Absätzen, ihren langen schlanken Beine, die keine großen Schritte machen konnten, denn knapp über dem Knie begann das eng anliegende Kleid. Als sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war, senkten alle vier wie auf Kommando ihre Blicke auf die leeren Kaffeetassen.
»Es hat sich doch gelohnt, die sechste Stunde blau zu machen und statt Reli …«, Roland ließ den Satz unvollendet.
»Glückspilz, dieser Manfred Schümann«, sagte Volker. »Maler müsste man sein, in Paris leben und auf so eine Frau stoßen!«
»Und dann nach Langenheim mit ihr ziehen?«, wandte Georg ein.
»Pourquoi pas? Mit ihr kann man auch in Langenheim glücklich sein.«
Hans-Gerd schien keine Lust mehr auf seine Verdammung der USA zu haben und verließ mit einem »Ich muss jetzt gehen« die Runde. Die drei beschlossen, einen weiteren Kaffee zu trinken, 40 Pfennige waren für jeden noch drin. Aber das Gespräch kam nicht wieder in Gang. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen, die wahrscheinlich irgendwie um Camille kreisten.
Georgs Eltern waren letztes Jahr bei einem Abendessen gewesen, zu dem Herr Schnakel, Vaters Chef, eingeladen hatte und an dem auch Manfred Schümann mit seiner Frau Camille teilnahm. »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie elegant diese schwarze Frau ist«, hatte Mutter am nächsten Tag Bärbel und ihm erzählt. »Mit ihrem feinen Schmuck und diesen großen Augen! Bei einer Schwarzen wirken die ja noch viel ausdrucksvoller! Und ihr Mann, dieser Manfred Schümann, ein richtiger Künstler, so mit längerem Haar, aber ein ganz feiner Mann, hat in Rom gelebt und natürlich in Paris, und dann trug er den ganzen Abend so einen cremefarbenen Seidenschal!« Mutter schwärmte. Vater hatte überlegt, ein Bild des Malers zu kaufen, den Vorsatz aber bisher nicht umgesetzt. Vielleicht könnte er ihn daran erinnern. Er würde gern mit ihm ins Atelier des Malers gehen und etwas aussuchen. Da würde es wahrscheinlich jede Menge Bilder von Camille geben, vielleicht auch welche, auf denen sie …
Georg unterbrach den Gedanken. Es würde ihm ja doch nicht gelingen, Vater zu einem Atelierbesuch zu bewegen. Ihm nicht, Bärbel vielleicht. Ein Vorschlag von ihm wäre sinnlos nach diesem Streit mit Vater. Seit Georg das Buch von Peter Weiss gelesen und Vater darauf angesprochen hatte, war es richtig schlimm geworden. Aber jetzt wollte er nicht an diese elenden Streitereien und auch nicht an »Die Ermittlung« denken, jetzt nicht, wo dieses Parfum noch im Raum war und dieses Bild von Camille. Sie hatte Mutter bei dem Abendessen damals erzählt, dass sie gerade von einem anstrengenden Foto-Shooting aus Hamburg zurück sei, und Mutter hatte bei ihrem Bericht am nächsten Tag zugegeben, dass sie gar nicht gewusst hätte, was denn ein Foto-Shooting sei. Auch Georg hatte an jenem Sonntagmorgen begonnen, darüber nachzudenken, sicherlich anders als seine Mutter. Er wusste, dass Manfred Schümann neben seiner Tätigkeit als Maler die Firma Flocke, Langenheims große Strumpf- und Wäschefirma, beriet und in einem großen Haus am Stadtwald wohnte, einem Haus mit Studio. Design, Plakate, Werbeauftritte der Firma, so berichtete Mutter weiter, würden alle über Herrn Schümanns Schreibtisch gehen. Diese Tätigkeit hätte die beiden auch bewogen, sich in Langenheim niederzulassen, aber – so Vater bei dem Bericht am Esstisch voller Anerkennung – »sie haben noch eine Wohnung in Paris, im sechsten Arrondissement.«
Georg hatte bei dem Bericht zu träumen begonnen. Camille, Paris, Foto-Shooting, Models, das klang gut. Er hatte als Sängerknabe zweimal in Paris gesungen, einmal die Matthäus-Passion und einmal die frühen Italiener mit seinem Allegri-Solo. Ihr Probenleiter Gambinger hatte es damals so eingerichtet, dass sie Zeit für eine Bustour durch die Stadt hatten und sogar auf den Eiffelturm hatten steigen können. Schon damals war ihm aufgefallen, wie viele Farbige in Paris lebten. Ganz anders als in Regensburg oder in Langenheim. Ob sich Camille wohlfühlte in Langenheim? Sie war die einzige Farbige in der Stadt. Ein paar italienische Gastarbeiter waren auch recht dunkel, aber nicht farbig. Wie sich diese dunkelbraune Haut wohl anfühlte? Einige sprachen in Langenheim abschätzig von den Itakern, wenn sie die sizilianischen Männer meinten, die bei dem großen Automobilzulieferer arbeiteten. Ob Camille auch jemals abschätzige Bemerkungen gehört hatte? Der Gedanke irritierte ihn, er hoffte, dass dies nie geschehen sei und nie geschehe, und er sah noch einmal ihre lange schlanke Hand, die mit den krausen Haaren spielte.
»Scheiße, ich muss zur Bahn«, sagte Volker plötzlich und hatte es eilig. »Ich mach mich auch auf, Georg«, sagte Roland, »ich hab gleich noch ’ne Tennisstunde.«
Georg trank den Rest Kaffee aus und stellte die Tasse vorsichtig auf das Tablett am Tresenrand. Mit einem undeutlichen »Auf Wiedersehn« verließ er das Geschäft. Es ärgerte ihn, dass für die siebte und achte Stunde noch eine Probe des Schulorchesters angesetzt war. Sie übten für die Feier zum Schuljahresabschluss mit Zeugnisübergabe, die in zwei Wochen anstand. Er hatte seiner Mutter gesagt, dass er nicht vor halb vier zu Hause sein würde, aber er hatte wenig Lust auf die Probe. Der Corelli klang eh schief und das Stück von Biber war langweilig, auch wenn es den Geigen einiges abverlangte. Ein Sextaner würde auf dem Klavier Schumanns Kinderszenen spielen, Andreas Wingert, der bei der gestrigen Probe gezeigt hatte, dass er wirklich talentiert war. Zum Glück hatte Georg noch fast eine halbe Stunde bis zum Probenbeginn um halb zwei. Er nahm darum nicht den direkten Weg zum Gymnasium, sondern entschied sich für den Gang Richtung Nordbahnhof, um dann den Fußweg an der Lippe entlang zu nehmen.
Der Gedanke an einen Besuch im Atelier von Manfred Schümann kam sofort zurück. Er konnte aber doch nicht einfach bei ihm klingeln und sagen, ich bin Georg Mertens, ich möchte gern ihre Bilder ansehen und wollte fragen, ob Ihre Frau auch da ist. Es hieß, Manfred Schümann male nicht immer jugendfrei und auch nicht nur abstrakt. Ob Camille für ihn Modell sitzt? Wenn sie in Modezeitschriften zu sehen war, präsentierte sie meist die jüngste Kollektion des Langenheimer Strumpfherstellers, immer waren ihre langen schlanken Beine im Vordergrund, immer aufregend. Doch der Besuch im Atelier müsste über Vater vermittelt werden, über wen sonst? Warum hatten sie sich in der letzten Zeit nur so zerstritten? Warum reagierte Vater immer so aufbrausend und abwehrend zugleich, sobald das Gespräch auf die Nazizeit kam? Gut, Georg klagte immer gleich an. Aber wie sollte man anders über diese Jahre sprechen. Neutral? Verständnisvoll? Mitfühlend gar? Nein!
Georg hörte das Pfeifen eines Zuges und sah, wie am Ende der Straße in Höhe des Nordbahnhofs die Schranken heruntergelassen wurden. Er blieb stehen. Eine blaue Diesellok schob sich von rechts ins Bild, ein Güterzug passierte den Übergang. Es war ein Güterzug mit Viehwaggons, mit diesen altmodischen gedeckten Wagen aus braun gestrichenem Holz mit großer Schiebetür und kleinem Fensterchen an einer Seite. Vor seinem inneren Auge tauchte auf, wie sie darin schrien, wie sie an die verriegelte Waggontür hämmerten, wie sie hinter dem Fensterchen nach Luft rangen, wie der Gestank der Fäkalien im überfüllten Waggon sie fast ohnmächtig werden ließ. Und eine Hand, die gegen die Tür hämmerte, war braun, schokoladenbraun und schlank, mit einem glitzernden Ring am Mittelfinger, und der Zug fuhr weiter, von Langenheim nach Beckum, nach Münster, nach Buchenwald, nach Maidanek, nach Auschwitz, mit Lili Tofler und den Zeuginnen und Zeugen darin. Er würde an der Rampe halten mit 20 oder 25 Waggons und in jedem Waggon waren 50 Leute und der Zug würde pfeifen, wie dieser jetzt in Langenheim pfiff, und über tausend Menschen gingen an der Rampe entlang, würden sortiert und die meisten würden gleich weiter zu den Schornsteinen geführt. Und da waren Boger und der Gesang von der Schaukel und der Unterscharführer Stark und der Tod. Georg schüttelte den Kopf, er wollte diese Bilder aus seinen Gedanken herausschütteln, diese Szenen, die ihn seit der Lektüre des Buches verfolgten, wann immer eine Lok pfiff, irgendwo ein alter Güterwagen stand oder er wie heute einen Güterzug vorbeifahren sah. Er blieb noch eine Weile stehen, auch als der letzte Waggon den Übergang passiert hatte und die Schranken sich langsam wieder hoben. Wie hatte das geschehen können? Niemand hatte die Züge gestoppt, mit denen Hunderttausende in den Tod transportiert wurden. In Waggons wie diesen da, die er gerade gesehen hatte, gezogen von Lokomotiven, die heute noch fuhren, von Menschen bedient, die heute noch Lokomotiven bedienen, Züge bewegen.
Georg bog nach links auf einen Fußweg ein und setzte sich auf eine der Bänke, die hier den Flusslauf der Lippe säumten. Noch einmal hörte er aus der Ferne den langgezogenen Pfiff des Güterzuges. Dann war es ganz still. Georg streckte die Beine von sich und sah auf das Wasser, auf dem eine Ente mit ihren Jungen ganz ruhig dahin schwamm.
Vor drei Wochen hatte er »Die Ermittlung« gelesen. In der Klasse hatten sie als Gegenwartsroman Heinrich Bölls »Der Zug war pünktlich« besprochen und Dr. Schubert, ihr Deutschlehrer, hatte eher nebenbei ein oder zweimal Peter Weiss’ Drama erwähnt. Als Georg im Regal der Buchhandlung Bärlinghausen das Taschenbuch entdeckte, sah er auf dem Einband, dass der Autor seinem Drama den Untertitel »Oratorium in 11 Gesängen« gegeben hatte und es war eigentlich diese Besonderheit, die ihn zum Kauf des Buches verführt hatte. Warum »Oratorium«? Schon nach wenigen Seiten merkte er, dass dieses Drama sich ganz anders mit dem Dritten Reich auseinandersetzte als die Romane von Heinrich Böll oder Günter Grass’ »Katz und Maus«, das er zuvor gelesen hatte. Er legte »Die Ermittlung« nicht mehr aus der Hand. Nie zuvor hatte er solch einen Einblick in die Nazizeit bekommen. Und es waren Prozessakten, nichts war erfunden. Es war alles schrecklich wahr. So war es gewesen. Zu so etwas sind Menschen fähig. Auch Dr. Schubert hatte ihm nicht erklären können, warum Weiss das Drama ein »Oratorium« genannt hatte.
»Ich will damit nichts mehr zu tun haben, nichts mehr. Ich will kein Deutscher mehr sein, verstehst du, kein Deutscher mehr. Ich gehe in die Schweiz, die waren wenigstens neutral.« Georg stand vor seinem Vater, der kurz vor Beginn der Tagesschau in seinem Sessel Platz genommen hatte und mit der rechten Hand gerade die Zigarrenkiste öffnen wollte.
»Georg, du spinnst ja total!« Vater zeigte ihm einen Vogel.
»Nein, ich spinne überhaupt nicht. Sobald ich das Abi habe, hau ich aus Deutschland ab. Du wirst sehen, ich gehe wirklich in die Schweiz, in die französische Schweiz, und ich werde meinen Namen ändern, nichts Deutsches mehr, Mertens, jeder weiß, das ist Deutschland. Ich hasse dieses Deutschland!« Georg sprach schnell, seine Stimme überschlug sich fast. »Nach dem, was ihr getan habt, kann man doch nicht mehr Deutscher sein!«
Sein Vater nahm die Brille ab und schaute ihn mit großen Augen an. »Das ist doch alles Unsinn!«
»Nein, das ist kein Unsinn, ganz und gar kein Unsinn. Ich weiß, Vater, du schämst dich nicht, Deutscher zu sein, im Gegenteil: ›Steht ein Soldat am Wolgastrand? Ta, tata ta, tata ta ta ta!‹ und ich frage mich oft, ob du wirklich keinen Grund hast, dich zu schämen? Aber du ertränkst ja die ganze Vergangenheit in deinen Operettenarien.« Georg sprach immer schneller. Sein Herz klopfte. »Doch, ich, ich wandere aus, sobald ich mit der Schule fertig bin, geh ich weg aus diesem Land. Und wenn du das nicht willst, dann warte ich eben, bis ich einundzwanzig und volljährig bin. Ich will nicht mehr deutsch sprechen, kein Wort mehr, kein einziges.«
»Das ist doch absolut lächerlich! Seit du dieses komische Buch gelesen hast, wirst du zum Psychopathen!« Vater setzte die Brille wieder auf.
»Psychokranke, das wart doch ihr! Ihr, die ihr diesem Idioten nachgelaufen seid, die ihr Millionen von Juden einfach vergast habt, nur weil Adolf Hitler es euch befahl. Hier kannst du lesen, wie sie es getan haben, wie Ärzte ihre Versuche an lebenden Mädchen vollzogen haben. Ich les es dir vor.« Georg hielt »Die Ermittlung« aufgeschlagen in seiner Hand. Er zitterte, sein Herz schlug schnell, er spürte, wie das Blut vor seinem Kehlkopf pulsierte, und konnte nicht verhindern, dass vor lauter Heftigkeit Tränen in seine Augen stiegen und er gar nicht lesen konnte. Vater stoppte ihn.
»Diese Leute konnten gar nicht anders, Georg, wenn die ihre Pflicht nicht erfüllt hätten, hätte man sie an die Wand gestellt. Davon habt ihr ja keine Ahnung!« Vaters Gesicht lief rot an. Er griff zur Senoussi-Packung neben der Zigarrenkiste. Mutter verließ fluchtartig das Wohnzimmer, »wir haben doch nichts davon gewusst, Georg, rein gar nichts«, und ließ die Tür hinter sich laut ins Schloss fallen.
Georg hatte sich wieder gefangen und las jetzt:
»Wie groß waren die Gruppen der Menschen,
die Sie zur Tötung abzuführen hatten?
Im Durchschnitt 150 bis 200 Stück
Waren Frauen und Kinder darunter
Ja
Fanden Sie es richtig
dass Frauen und Kinder
zu diesen Transporten gehörten
Ja, damals bestand eben
die Sippenhaftung«
Vater sprang aus seinem Sessel auf. »Hör auf, das vorzulesen, ich will das nicht hören! Ich will das in meinem Haus nicht hören!«
Vater lief jetzt im schnellen Schritt durch das Wohnzimmer. Aber Georg setzte nach: »Vater, das waren wehrlose Familienväter, das waren Frauen und Kinder, keine bewaffneten Soldaten der feindlichen Armee, gegen die man kämpfen musste, nein, Männer, Frauen und Kinder, die nur einen ›Fehler‹ hatten, sie waren Juden oder sonstige ›Untermenschen‹.«
»Ich habe dir gesagt, dass ich das nicht hören will, Georg. Ich weiß das, aber ich will es nicht hören!« Vater schrie. »Natürlich war es schrecklich, was da geschah, aber was hätte ein Einzelner ausrichten können? Was hättest du in diesen Jahren getan? Du bist zehn Jahre nach Kriegsende auf die Welt gekommen, du hast in deinen 16 Jahren nur Frieden und Wohlstand erlebt und glaubst, du kannst jetzt richten über all die, die damals ihre Pflicht taten?«
»Vater, sag mir bitte eins: Du warst in der Kriegszeit bei der Reichsbahn, bis auf diese kurze Unterbrechung 1944. Du hattest bei der Bahn eine wichtige Aufgabe, das hast du ein paarmal erwähnt, du warst in der Reichsbahndirektion in Berlin. Hast du gewusst, wer in diesen Zügen war, die da von Berlin nach Auschwitz fuhren? Was hast du gewusst? Was? Sag es mir bitte!«
»Nichts habe ich gewusst, nichts!« Vater schrie wieder. An seinen Augen hinter den Brillengläsern sah Georg, welche Wut er empfand. Die Hand mit der Zigarette zwischen den Fingern zitterte. Dann nahm er einen langen Zug, inhalierte über Sekunden hin. »Ich habe Fahrpläne entworfen, Georg. Ich habe sie optimiert, an ihnen herumgefeilt. Am Schreibtisch. Ich habe solche Züge nie gesehen. Es gab am Ende immer weniger Loks und Rollmaterial. Ganze Strecken fielen wegen Bombenschäden aus. Da war es meine Aufgabe, den Bahnbetrieb trotz alledem irgendwie aufrechtzuerhalten, einen einigermaßen passablen Fahrplan zu gewährleisten. Wir wussten doch gar nicht, dass es KZs gab!«
»Ich kann das nicht glauben, dass ihr alle nichts gewusst habt! Lies dieses Buch, Vater, ihr habt den Menschen die Hölle bereitet.«
»Ich werde den Teufel tun, dieses Buch zu lesen! Und sag nicht noch einmal ›ihr habt‹, dazu hast du kein Recht.« Vaters Stimme war jetzt leise und drohend geworden. Doch dann brach es aus ihm hervor. »Ich habe den Menschen nicht die Hölle bereitet! Ich nicht!« Vater betonte jede Silbe. »Du bereitest mir jetzt die Hölle! Du, mein eigener Sohn!« Mutter riss die Tür auf.
»Ja, schämst du dich denn gar nicht, Georg, deinen Vater so aufzuregen! Das hat dein Vater wirklich nicht verdient.« Sie ging auf Vater zu, der sich an einem Wohnzimmersessel abstützte. »Wie kann der Dr. Schubert dir nur ein Buch empfehlen, das deinen Vater geradewegs zum Herzinfarkt treibt.«
Das war vor einer Woche gewesen. Seitdem waren Vater und er sich aus dem Weg gegangen. Mutter hatte gestern noch einmal ganz ruhig nachgefragt, ob er denn tatsächlich nach dem Abi in die Schweiz auswandern wollte. Er hatte nur genickt.
Die Entenmutter auf der Lippe schwamm mit ihren Jungen nah ans Ufer heran. Sie schnatterte laut und hoffte offenbar auf etwas Essbares für sich und ihre Kleinen. Georg hatte nichts in der Tasche. Nein, es war nicht die Zeit, Vater zu bitten, ein Bild von Schümann zu erwerben und ihn zum Kauf mit ins Atelier zu nehmen. Überhaupt schien Georg plötzlich ein Bilderkauf etwas ganz und gar Unwirkliches zu sein.