Читать книгу Hitler-Jugend - Michael Kater - Страница 11
Оглавление[Menü]
Mädchen im Dienst der NS-Politik
Irma Grese wuchs in den 20er- und frühen 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts als Tochter eines Landarbeiters im mecklenburgischen Wrechen unweit von Berlin auf und trat schon in jungen Jahren der Hitler-Jugend bei. Das hübsche, blonde Mädchen, das seine Mutter früh verloren hatte, empfand sich, wie sie später zugab, als ängstlich und dazu prädestiniert, von den Mitschülerinnen tyrannisiert zu werden. Sie wollte besonders gut sein, doch ihre schulischen Leistungen ließen zu wünschen übrig. Dafür gefiel ihr der HJ-Dienst, dem ihr Vater ablehnend gegenüber stand. Bald schon war sie als fanatisches Mitglied in der HJ-Organisation für Mädchen, dem BDM, aktiv. Irma betätigte sich zunächst als Schwesternhelferin, arbeitete dann in einer Molkerei und war 1942 gerade 18 Jahre alt, als sie sich überreden ließ, sich im nahe gelegenen Frauen-KZ Ravensbrück zur ‘SS-Helferin’ ausbilden zu lassen. Die Ausbildung in diesem Lager war hart. Die NS-typische ‘Disziplin’ lernten die SS-Helferinnen, indem sie bei der grausamen Behandlung von Häftlingen zusahen und auch selbst aktiv wurden; außerdem kam es zwischen ihnen und den SS-Wachen zu sexuellem Verkehr. Beides sollte dazu dienen, den Mädchen jegliche konventionellen Moralvorstellungen zu nehmen. Nach Abschluss ihrer SS-Ausbildung wurde Irma im März 1943 nach Auschwitz versetzt. Dort wurde sie ‘SS-Aufseherin’, und man kannte sie bald als ‘Hyäne von Auschwitz’. „Sie war eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe“, erinnert sich die ehemalige KZ-Insassin Gisella Perl. „Sie hatte eine perfekte Figur, ein klares, engelhaftes Gesicht und die fröhlichsten, unschuldigsten blauen Augen, die man sich nur vorstellen kann.“ Grese, die angesichts ihrer Schönheit von der Idee besessen war, nach dem Krieg Filmstar zu werden, schritt in eng anliegender Uniform mit sorgfältig frisiertem, goldblondem Haar durch das Konzentrationslager, in der Hand eine Reitgerte oder -peitsche. Die inhaftierten Frauen fürchteten sie wegen ihres Sadismus. Ein Anklagevertreter warf ihr später vor, auf Häftlinge so lange eingeschlagen zu haben, bis sie umfielen; anschließend habe sie auf die am Boden liegenden Frauen mit „schweren Stiefeln und aller Kraft“ eingetreten. Grese galt nach einer Weile im KZ als Nymphomanin, die sich männliche wie weibliche Häftlinge sexuell gefügig gemacht und auch führende SS-Männer wie den Lagerarzt Josef Mengele und den Lagerkommandanten Josef Kramer zu ihren Liebhabern gezählt haben soll. In Auschwitz war sie die jüngste und brutalste KZ-Aufseherin, zuständig für 30 000 gefangene Frauen. Als ein SS-Mann, mit dem sie ein Verhältnis hatte, im Frühjahr 1945 – etwa zu der Zeit, als Anne Frank dort an Typhus starb – ins KZ Bergen-Belsen versetzt wurde, folgte ihm Grese nach und wurde von britischen Soldaten bei der Befreiung der Häftlinge an diesem Ort des Grauens angetroffen. Zusammen mit anderen weiblichen SS-Angehörigen wurde Grese im Bergen-Belsen-Prozess angeklagt, den die britische Militärregierung in Lüneburg durchführte. Die deutsche Presse berichtete breit über ihren Fall, dennoch konnten Hitlers ehemalige Untertanen kaum glauben, dass eine so attraktive junge Frau zu derart üblen Taten fähig gewesen war. Grese wurde als Kriegsverbrecherin schuldig gesprochen und am 13. Dezember 1945 in der Justizvollzugsanstalt Hameln gehängt. In der Nacht zuvor hatte sie nicht geschlafen, sondern mit zwei anderen verurteilten SS-Frauen viel gelacht und die ganze Zeit über altbekannte Nazilieder gesungen. Als der Henker ihr die Schlinge um den Hals legte, war in ihrem Gesicht keinerlei Reue zu erkennen, vielmehr sagte sie ihm, er solle die Sache schnell erledigen. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Irma Grese 22 Jahre alt.1
Ihre Laufbahn war zwar für junge Frauen, die im BDM geschult worden waren, nicht unbedingt typisch, wirft aber die wichtige Frage auf, was deutsche Mädchen nach ihrer Verabschiedung aus der Hitler-Jugend taten und wie stark sie an der Gestaltung des ‘Dritten Reiches’ beteiligt waren. Zu dem letztgenannten Punkt gibt es bislang im Wesentlichen zwei Thesen. Die eine besagt, für Hitlers Aufstieg vor 1933 und für das, was anschließend im ‘Dritten Reich’ geschah, seien Männer und Frauen gleichermaßen verantwortlich gewesen. Zwar hätten die Frauen nicht an der Front kämpfen können und in der Regel keine Juden umgebracht, sie hätten aber ihre Männer bei diesen Taten unterstützt – entweder direkt, indem sie die nationalsozialistischen Überzeugungen ihrer Männer teilten und ihnen moralisch den Rücken stärkten, oder indirekt, indem sie schwiegen und die Männer politisch wie militärisch einfach gewähren ließen.2 Der zweiten These zufolge bildeten die Frauen aufgrund der ideologischen Definition der Nationalsozialisten eine untergeordnete, von den Verfechtern des männlichen Supremats beherrschte Gruppe, die durch biologische und andere Gegebenheiten in ungewollte Rollen und sogar in einen Opferstatus gedrängt worden sei; dies habe sich besonders deutlich gezeigt, als der Krieg seinem schrecklichen Ende entgegenging.3
Man könnte meinen, Mädchen, die sich im ‘Dritten Reich’ durch Eltern, Lehrer oder Gruppendruck gezwungen sahen, dem BDM im Alter von 10 bis 18 Jahren beizutreten, seien eher Mitläuferinnen als Täterinnen gewesen. Doch genau wie die Jungen erhielten auch die Mädchen mit zunehmendem Alter mehr Verantwortung, und je stärker sie sich daran gewöhnten und sich in ihrer Rolle gefielen, desto schuldiger wurden sie. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass Mädchen und Frauen in der nationalsozialistischen Gesellschaft niemals in höchste Positionen aufrückten: Selbst Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink hatte einen männlichen Vorgesetzten.4 Der Herdeninstinkt, der die Jungen zur Gruppen- und Bandenbildung motivierte und schließlich zur Beteiligung an Überfällen und Morden veranlasste, war bei den Mädchen weit weniger ausgeprägt. Die Tatsache, dass die Jugendbewegung der Weimarer Zeit nur zu einem Drittel aus Mädchen bestanden hatte,5 könnte darauf hindeuten, dass Mädchen weniger Gefallen daran fanden, in Menschenmassen aufzugehen, und eher dazu neigten, ihre Eigenständigkeit zu wahren. Als junge Frauen waren viele ehemalige Mitglieder des ‘Jungnationalen Bundes’ und anderer nationalistischer Jugendgruppen der Weimarer Zeit nach 1933 für einen Eintritt in den BDM zu alt, strebten aber auch nicht in die von Scholtz-Klink geführte ‘NS-Frauenschaft’. Das einzige politische Engagement solcher Frauen mochte darin bestehen, im eigenen Wohnzimmer ein Hitler-Porträt aufzuhängen und mit einem Mann verheiratet zu sein, der schließlich NSDAP-Mitglied wurde.6
Mädchen konnten durchaus Anteil an der Macht erlangen und ein gewisses Maß an Grausamkeit an den Tag legen, aber nie so sehr wie die Jungen oder jungen Männer.7 Bei der Beschäftigung mit dem Schicksal der Mädchen und jungen Frauen in Hitlers Jugendorganisation dürfen zwei Faktoren nicht außer Acht gelassen werden. Erstens wurden die Mädchen ähnlich wie die Jungen in die nationalsozialistische Jugendbewegung eingegliedert, ohne dass bei der Planung von oben ein besonderer Unterschied zwischen den Geschlechtern gemacht worden wäre. Im Hinblick auf die Führungsstruktur, die grundlegende psychologische und ideologische Schulung sowie viele alltägliche Aufgaben wurden Hitlerjungen und BDM-Mädchen nominell gleich behandelt. Den NS-Autoritäten kam nie der Gedanke, dass Frauen aufgrund ihres niedrigeren Rangs innerhalb der NS-Hierarchie der menschlichen Spezies und der an ihnen deshalb wahrgenommenen geistigen und körperlichen Attribute für eine politische Massenorganisation nicht in Frage kommen könnten. Infolgedessen war bei den in ein und dasselbe organisatorische Korsett gezwängten Hitlerjungen und BDM-Mädchen häufig ein dysfunktionales Verhalten zu beobachten. Zweitens erschütterte die ab September 1939 völlig geänderte Zielsetzung der HJ die Mädchen, die keine kriegerische Lebensweise gewohnt waren, weit mehr als die Jungen. Für die Mädchen, die nun plötzlich stärker für kriegswichtige Bereiche benötigt wurden, war die Umstellung von Volkstanz und Wandern auf ausgesprochen politische Aufgaben und eine militärische Haltung besonders radikal und traumatisch. Selbst angesichts der Ausnutzung von Jungen als Kindersoldaten hatten die Mädchen in der Endphase des Krieges in einer Umgebung, die den ihnen vermittelten Vorstellungen vom Mädchensein und von weiblichen Tugenden diametral entgegengesetzt war, noch stärker zu leiden als die Jungen.