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„Macht Platz, Ihr Alten!“
ОглавлениеIn einem 1992 veröffentlichten Beitrag unterzieht der bekannte Historiker Hermann Graml seine Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus einer kritischen Reflexion. Der ehemalige Hitlerjunge, Jahrgang 1928, gelangt zu dem Schluss, die Hitler-Jugend (HJ) sei für ihn in vielerlei Hinsicht attraktiv gewesen. Von herausragender Bedeutung erscheint ihm dabei, dass das mächtige politische System des ‘Dritten Reiches’, dem die HJ ihre Entstehung verdankte, ihn und seine Freunde „hemmungslos hofiert[e] und umschmeichelt[e]“ und dass ihn die Zugehörigkeit zur größten jemals existierenden deutschen Jugendorganisation mit Stolz erfüllte. Angezogen haben ihn die in der HJ gesungenen hymnischen Lieder und kultartigen Aktivitäten, zu denen auch der bei der Aufnahme in die NS-Bewegung zu leistende Treueschwur auf den obersten Führer, Adolf Hitler, gehörte. Wenn Kirche, Schule, Elternhaus und HJ sich darum stritten, wem die oberste Entscheidungsbefugnis über die Kinder zukam, genossen Graml und seine Freunde es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und des Interesses der Erwachsenen zu stehen, und schlugen sich am ehesten auf die Seite der HJ, weil sie „mehr Modernität“ und Zukunftsgewandtheit ausstrahlte als die anderen Institutionen. Als Jugendliche glaubten sie, vom NS-Regime besonders unterstützt zu werden, weil es ihnen größere Unabhängigkeit von den Eltern und freiere Beziehungen zu gleichaltrigen Mädchen verschaffte. Im Gegensatz zu Familie, Kirche und Schule war die HJ nicht durch Traditionen und Tabus belastet, und junge Leute sahen in ihr die erregende Chance, Achtung zu erlangen und Verantwortung zu tragen. Den beginnenden Krieg und die Einberufung zur Wehrmacht akzeptierten Graml und seine Freunde einfach als gegebene Tatsache, schließlich hatten sie in der HJ schon eine paramilitärische Schulung durchlaufen. Nach jahrelanger Vorbereitung auf den Kriegsfall empfand die deutsche Jugend bei der Aussicht auf einen Fronteinsatz keine Angst. Graml erinnert sich vielmehr, damals durch eine „Lust am Abenteuer, am Wagnis, am Risiko“ motiviert gewesen zu sein und der Gefahr gerne ins Auge gesehen zu haben.
Allerdings gefiel ihm bei der Hitler-Jugend nicht alles, und manche Inhalte, die dort vermittelt wurden, widersprachen seiner Erfahrung. Unterricht in ‘Rassenkunde’ und Vorstellungen von einem ‘germanischen Weltreich’ wirkten auf ihn abstrakt und weit hergeholt. Weder die nationalsozialistische Vision vom größeren ‘Lebensraum’ noch die Vorstellung von einer deutschen ‘Herrenrasse’ vermochten sein Interesse zu wecken, und trotz der ihm vermittelten Weltanschauung verstieß er durchaus gegen nationalsozialistische Dogmen. Beispielsweise freundete sich Graml nach eigener Aussage mit sowjetischen Kriegsgefangenen an, die in örtlichen Betrieben Zwangsarbeit leisteten, und war dann auch als Flak-Schütze mit sowjetischen Söldnern befreundet, die Seite an Seite mit ihm und anderen Angehörigen seines Zuges kämpften. Rückblickend betrachtet, widerstand Graml also der völligen Unterwerfung unter die HJ, obwohl ihm deren Geist und Unternehmungen zusagten.1
Unter dem bezeichnenden Titel Der helle Tag bricht an. Ein Kind wird Nazi hat die 1921 geborene deutsche Schauspielerin und Schriftstellerin Margarete Hannsmann vor einigen Jahren ebenfalls Memoiren veröffentlicht. Sie erzählt, wie sie sich mit Hilfe der HJ allmählich von ihren Eltern – und vor allem von ihrem autoritären Vater – emanzipierte, und berichtet, dass sie sich als 15- oder 16-jähriges Mädchen bei einem landwirtschaftlichen Arbeitseinsatz der HJ wie eine verantwortungsvolle Erwachsene vorgekommen sei. Als ihr ein älterer, gut aussehender HJ-Führer den Hof machte, fühlte sie sich geschmeichelt, und das anschließende Verhältnis mit ihm gab ihr ein Gefühl von Freiheit. Der Höhepunkt ihrer HJ-Zeit war, dass man ihr im Bund Deutscher Mädel (BDM) einen mittleren Führungsposten anvertraute und sie Verantwortung für jüngere Mädchen übernehmen konnte. Tief enttäuscht zeigte sie sich hingegen von der gefühllosen, kühl-beherrschten Art, in der ihr der HJ-Führer nach dem Ende ihres Verhältnisse begegnete, und empört, als Kameradinnen sie fälschlicherweise beschuldigten, aus einem gemeinschaftlichen Umkleideraum Geld gestohlen zu haben. Das Aufwachsen in der HJ hatte seine demütigenden wie auch vergnüglichen Seiten.2
Für jüngere, einfache Mitglieder wie Graml und Hannsmann dürfte die Erinnerung an die HJ-Zeit zumindest unmittelbar nach dem Ende des Kriegs durch bittersüße Erinnerungen an freud- und leidvolle Erlebnisse geprägt gewesen sein. Die vorhandenen Memoiren höherrangiger HJ-Führer sind jedoch – bei aller nachträglichen Selbstkritik – meist von einem kaum verhohlenen Stolz auf die frühere Stellung durchzogen und bieten anschauliche Schilderungen von Art und Ausmaß der einst besessenen Macht. An ihnen zeigt sich, dass für Jugendliche, die in einer sich schnell verändernden, neu strukturierten Welt nach Sicherheiten suchten, trotz der scharfen Reglementierung gerade der autoritäre Charakter des NS-Regimes und seine ‘rassenpflegerisch’ verwirklichte, gnadenlose sozialdarwinistische Ideologie einen wesentlichen Anziehungspunkt darstellten. Einem wohldefinierten nationalsozialistischen Führerschaftskredo zufolge machte dieser Wesenszug sie gegenüber den ihnen unterstellten jüngeren und schwächeren Kindern und Jugendlichen stark; außerdem gab er ihnen gegenüber dem nationalsozialistischen Durchschnittsdeutschen gleich welchen Alters ein unvergleichliches Überlegensheitsgefühl und gegenüber nicht-nationalsozialistischen Deutschen sogar fast absolute Macht.3
Diese Beobachtungen werfen Fragen nach einer Komplizenschaft jüngerer wie älterer HJ-Mitglieder bei der Festigung und – in erweitertem Sinne – auch beim Zusammenbruch des ‘Dritten Reiches’ auf. Stellen muss man diese Fragen selbst dann, wenn sie sich nicht alle beantworten lassen. Können z. B. Heranwachsende im (damals regulären HJ-)Alter von 10 bis 18 Jahren, auf die sich normalerweise kein Strafrecht (oder höchstens das Jugendstrafrecht) anwenden lässt, dafür zur Verantwortung gezogen werden, dass sie sich an den Aktivitäten der Jugendorganisation eines diktatorischen Regimes selbst dann beteiligt haben, als diese verbrecherisch waren? Oder sind die Betreffenden strafrechtlich verantwortlich, wenn sie in einer etwas späteren Lebensphase als Rekruten oder Freiwillige Krieg gegen unschuldige Nachbarstaaten geführt haben? Viele junge Menschen kamen ohne echte eigene Entscheidung schon als Kinder in die HJ. Beispielsweise sorgten Eltern oder Lehrer dafür, weil sie – vor Einführung der allgemeinen HJ-Mitgliedspflicht – meinten, dieser Schritt verspräche ihren Zöglingen später bessere Aufstiegschancen im Staat. Oder die Kinder vermochten sich dem unter Gleichaltrigen herrschenden Konformitäts- und Solidaritätsdruck nicht zu entziehen. Außerdem übten in der damaligen Zeit schicke Uniformen und die Utensilien der vormilitärischen Ausbildung – z. B. Luftgewehre – auf viele junge Leute eine große Faszination aus. Leicht zu verstehen ist auch, wie attraktiv und befriedigend es ist, zu einer großen, dominanten und schützenden Gemeinschaft zu gehören und beim gemeinschaftlichen Singen, Marschieren und Zelten mitzumachen. Und vor allem war da der allwissende und allmächtige Vater, Adolf Hitler, der in einer unsicheren, von einer anhaltenden Wirtschaftskrise und wiederkehrenden Kriegsängsten geprägten Zeit enorme Sicherheitsgarantien bot. So sehr Autorität einerseits Kinder einschüchtert und bei ihnen im Falle von Ungehorsam Angst auslöst, so sehr gibt sie ihnen andererseits auch Sicherheit, solange die Kinder einverstanden sind, sich an vorgeschriebene Verhaltensnormen zu halten, die ihnen nicht zu abstoßend vorkommen. Es war eine der großen Propagandaleistungen der nationalsozialistischen Herrscher, dass sie eine politische und ideologische Weltanschauung zu bieten vermochten, die jungen Menschen Status, Gewissheit und Macht in einem solchen Maße gewährte, dass männliche wie weibliche Teenager sie nahezu bedenkenlos annehmen und dauerhaft befürworten konnten. Durch die ausgeklügelte Propaganda, zu der die Propagierung der ‘Rassentheorie’ und der ‘Überlegenheit des deutschen Volkes’ gehörte, vermochte Hitler, privates wie öffentliches Verhalten zu beeinflussen und sowohl die Unterstützung der öffentlichen Meinung für das NS-Regime als auch die enge Bindung des Volkes an den ‘Führer’ zu stärken. Die Jugend mit ihren Idealen und ihrer Energie dürfte bei ihrer Identitäts- und Sinnsuche für solche Wertvorstellungen besonders anfällig gewesen sein.4
Etwas anders stellt sich das Problem der Komplizenschaft dar, wenn man sich bei der Hitler-Jugend auf die Übergangsphase vom Jugendlichen zum jungen Erwachsenen konzentriert. Hier ergibt sich die Frage: Wann hätte ein Jugendlicher die Möglichkeit gehabt, sich für oder gegen den Aufstieg zu einem höheren Führungsposten zu entscheiden? Die Entscheidung, ein solches Angebot anzunehmen, war nämlich freigestellt und setzte ein gerüttelt Maß an nationalsozialistischer Überzeugung voraus, die bei manchen 16- bis 18-Jährigen allerdings genauso eloquent zum Ausdruck kam wie bei doppelt so alten waschechten Nazis. Man kann berechtigterweise sagen, dass 17-jährige HJ-Führer, die ein paar hundert HJ-Mitglieder unter sich hatten, sich im Gegensatz zu den 10-jährigen Pimpfen insoweit schuldig machten, als sie ihren Untergebenen bewusst nationalsozialistische Werte vermittelten und sie dadurch zu Rassenhass und Kriegslüsternheit gegen Polen, Russen und Juden aufstachelten. Wenn die Kinder diese Konditionierung und Gehirnwäsche durchlaufen hatten, tauschten sie später das Luftgewehr gegen eine Maschinenpistole und ließen sich bereitwillig gegen Hitlers Feinde einsetzen.
Noch komplizierter wird dieses Thema in der Übergangsphase vom reifen HJ-Mitglied zum pflichtschuldigen Angehörigen der Wehrmacht oder des ‘Reichsarbeitsdienstes’ (RAD). Das Verhalten eines früheren Hitlerjungen im Krieg hing selbst bei allgemeiner Dienstpflicht nicht selten davon ab, wie ernst der Betreffende die in der HJ praktizierte paramilitärische Routine und die dort vermittelten Glaubenssätze genommen hatte. Dies entschied dann möglicherweise darüber, ob er im Krieg seine Feinde tötete oder gefangen nahm und ob er auf Befehl Nichtkombattanten, also Zivilisten, erschoss. Die Gewissheit, die das NS-Regime ihm in Friedenszeiten durch eine straff strukturierte totalitäre Diktatur gegeben hatte, wurde im Krieg bei den Streitkräften, wenn auch auf etwas andere Weise, aufrechterhalten: An die Stelle einer von der nationalsozialistischen Ideologie beherrschten Befehlskette traten nun die bewährten Kriegsregeln der Wehrmacht. Wie sich erwies, wirkten die nationalsozialistischen und die Wehrmachtsregeln nach 1938 häufig so zusammen, dass es unter diesen Bedingungen den ehemaligen (einfachen wie führenden) HJ-Mitgliedern als deutschen Soldaten schwer fiel, sich eine humanitäre Gesinnung zu bewahren. Das Befehls- und Autoritätsmuster, an das sich die Wehrmachtssoldaten im Krieg halten konnten, bedeutete für sie weitgehend eine Stärke, letztlich aber auch eine Schwäche. Es beseitigte für die Soldaten alle Grauzonen und vereinfachte ihre Wahlmöglichkeiten durch den Hinweis auf eine Entscheidung oder einen Wunsch des ‘Führers’, doch das hielt nur so lange an, wie es den ‘Führer’ gab.
Die vom ‘Dritten Reich’ gebotene, scheinbar kohärente Weltanschauung war von dem Geist und der Atmosphäre der letzten Jahre der Weimarer Republik und ihrer Gesellschaft meilenweit entfernt. In dem zerfallenden demokratischen Staat war die pluralistische Öffentlichkeit von einer Vielzahl widerstreitender Ideologien und Pläne geprägt. Von den jungen Menschen glaubten nur wenige vertrauensvoll daran, dass die Regierung für Arbeitsplätze, Sicherheit und nationale Größe sorgen würde. Unsicherheit und Verzagtheit führten etwa bei Studenten dazu, dass sie im Vergleich zur Gesamtbevölkerung dreimal so häufig Suizid begingen – ein Phänomen, das es so weder vor noch nach dieser Zeit jemals in der neuzeitlichen deutschen Geschichte gegeben hat.5 Peter Loewenberg zufolge betraf dieses Problem die Personengruppe der etwa zwischen 1903 und 1915 geborenen Mädchen und Jungen, die dann 1933 zwischen 18 und 30 Jahre alt waren und knapp ein Drittel der deutschen Bevölkerung ausmachten.6 Diese relativ große Gruppe hatte wirtschaftlich, gesellschaftlich, körperlich und psychisch stärker zu leiden als die übrige Bevölkerung. Als Kinder wuchsen die Betreffenden in der Zeit des Ersten Weltkriegs auf, und damit begann auch ihr Leid. Psychologisch gesehen, wurden sie und ihre Mütter von ihren Vätern, die in den Schützengräben kämpften, im Stich gelassen. In wirtschaftlicher Hinsicht förderte die – bis weit in die Zeit der Blockade durch die Alliierten nach 1918 zu beobachtende – unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wohnungen und Brennstoff Hunger, Krankheit und Tod. Verlängert wurde der Schmerz der Kinder, als die Väter als völlig geschlagene Verlierer aus dem Krieg heimkehrten. Viele füllten die Vaterrolle nur noch nominell aus; sie verstanden ihre Kinder nicht mehr und wurden von diesen häufig als Rivalen um die Gunst der Mutter begriffen.7 Andere kehrten nie heim: Im Krieg waren zwei Millionen Männer ums Leben gekommen und hatten Witwen und Halbwaisen hinterlassen.8 Die katastrophalen Folgen der bis 1924 rasant anwachsenden Nachkriegsinflation weckten in vielen jungen Leuten Angst vor realer oder potenzieller Verarmung, und dieses Gefühl wurde ab Mitte der 1920er-Jahre und insbesondere während der Weltwirtschaftskrise ab Ende 1929 durch die hohe Arbeitslosigkeit und die Lohneinbußen noch verstärkt. Bei Hitlers Machtübernahme war diese deflationäre Rezession noch in vollem Gange.9 Als aus den zu dieser Generation gehörenden jungen Männern dann Lehrlinge, Gesellen, junge Kaufleute oder Studenten und somit angehende Vollmitglieder der deutschen Arbeitnehmerschaft (und aus den jungen Frauen angehende Ehefrauen vermeintlicher Familienernährer) wurden, löste das verbreitete Gefühl wirtschaftlicher Unsicherheit bei ihnen tiefe Zweifel hinsichtlich ihrer sozialen Stellung aus. Wer aus den mittleren und unteren Gesellschaftsschichten auf einen sozialen Aufstieg vertraut hatte, sah den Weg dorthin auf einmal durch Hindernisse versperrt, und die Angehörigen der mittleren bis oberen Gesellschaftsschichten kämpften verzweifelt gegen eine soziale Deklassierung an. Viele, wenn nicht die meisten der zur genannten Gruppe zählenden jungen Leute fühlten sich in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren um die ihnen eigentlich doch zustehenden Chancen betrogen. Sie suchten daraufhin ihr Glück in wachsendem Maße bei radikalen Alternativen. Die Zeit war reif für Versprechungen und Unterstützung aus einer neuen Quelle, die die jungen Menschen wieder Hoffnung für sich und die Zukunft ihres Staates schöpfen ließ.10
Zusätzlich kompliziert wurden die vielfältigen Schwierigkeiten durch die außerordentlichen Spannungen, die zwischen den Angehörigen dieser jungen Generation und ihren Eltern bestanden. Von Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu Hitlers Machtübernahme war der Generationskonflikt ein beherrschendes Thema.11 Dieser Konflikt kam nicht nur in den alltäglichen sozioökonomischen und politischen Beziehungen zum Ausdruck, sondern auch in den Künsten und der Literatur; er wurde in vielen Romanen, Bildern, Bühnen- und sogar Musikstücken thematisiert.12 Er war ein entscheidender Faktor für die deutsche Jugendbewegung, in der junge Leute einem Teil ihrer Sorgen, nicht zuletzt solchen mit ihren Eltern, zu entkommen suchten. Manch einer wurde Mitglied in der Antifaschistischen Jungen Garde (Antifa), der Jugendorganisation des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes, und lieferte sich gegen Ende der Weimarer Republik in den Großstädten mit den Sturmabteilungen (SA) der Nationalsozialisten Straßenschlachten. Am anderen Ende des ideologischen Spektrums fanden sich junge Leute, die dem vom frommen lutherischen und nationalkonservativen Establishment geförderten Jungnationalen Bund angehörten.13
Als Gründungsdatum der deutschen Jugendbewegung gilt das Jahr 1901, als sich in Steglitz – einem damals noch halb dörflichen, dabei mittelständischen Vorort von Berlin – einige männliche evangelische Jugendliche zusammenschlossen, um auf den Materialismus und die bürgerliche Selbstzufriedenheit zu reagieren, die Begleiterscheinungen der raschen Industrialisierung des jungen Kaiserreichs im ausgehenden 19. Jahrhundert waren. Die Jugendlichen, die sich ‘Wandervögel’ nannten, begegneten der „Welt des steigenden Überflusses und des raschen technischen Fortschritts“ mit Skepsis und Überdruss, wie der britische Historiker Walter Laqueur erklärt, der als gebürtiger Deutscher in den 1920er-Jahren einer schlesischen Jugendgruppe angehörte. Laqueur schreibt, die Jugendbewegung sei zunächst „eine unpolitische Form der Opposition gegen eine Zivilisation“ gewesen, die „der jungen Generation wenig zu bieten hatte“ – ein „Protest gegen den Mangel an Vitalität, Wärme, Gefühl und Idealen“. Diese jungen Leute – sowohl Jungen als auch Mädchen – betonten den Individualismus: Von Kulturpessimisten wie Lagarde, Schopenhauer und Nietzsche inspiriert, wollten sie ihr eigenes Leben außerhalb der Städte und fern von zu Hause, von den Eltern und Lehrern leben. Ohne festen Aufenthaltsort und Schule wanderten sie über Land, ließen sich von selbst auferlegter Einfachheit und Aufrichtigkeit leiten, trugen selbstgefertigte Kleidung, sangen wiederentdeckte Volkslieder, nahmen am Lagerfeuer einfache Mahlzeiten zu sich und verschrieben sich einem sexuell ‘reinen’ Lebenstil. Sie waren auf der Suche nach einem romantischen Absolutum, das man seit dem 19. Jahrhundert als ‘blaue Blume’ bezeichnete. Besonders fesselnd empfanden sie bei dieser Suche Formen des Mystizismus, deren Quellen sie bei den Kosaken in den russischen Steppengebieten oder auch bei buddhistischen Priestern in fernöstlichen Tempeln fanden. Für ihre Eltern war das meiste davon fremd und kaum zu verstehen. Insofern war das Thema des Generationskonflikts schon im ersten Kapitel der Geschichte der deutschen Jugendbewegung angelegt. Obschon apolitisch, fanden die Aktivitäten der jungen Leute doch im weiteren Rahmen präliberaler, romantischer – und in gewisser Hinsicht wieder zum Leben erweckter – gesellschaftlicher und politischer Wertvorstellungen des Mittelalters statt. In bewusstem Gegensatz zu den Idealen der Aufklärung wurde Rationalität zugunsten von Emotionalität hintangestellt.14
Trotz aller offenen Verachtung für Gesellschaft, Politik und Staat begeisterte sich die frühe deutsche Jugendbewegung für den Eintritt des Deutschen Reichs in den Ersten Weltkrieg. Den Krieg betrachtete sie als extrem idealisierten Kampf und das Ringen in der Schlacht als etwas Natürliches und Organisches. Auch der Nationalgedanke besaß weiterhin einen hohen Stellenwert. Als unverwirklichte Idee hatte er im Mittelalter, in der romantischen Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts und dann wieder im Zeitalter der Restauration nach 1848 eine Rolle gespielt. Der Erste Weltkrieg wurde daher als Katalysator eines riesigen Reinigungsprozesses begrüßt, der viele europäische Nationen – insbesondere den jungen, modernen deutschen Nationalstaat – vom Materialismus befreien und uralte Wertvorstellungen wiederbeleben würde. (Beim Kampf für ihre Länder strebten junge Franzosen und Engländer, wenn auch auf andere Weise, ähnlich idealistische Ziele an, wie ihre Briefe und Tagebuchaufzeichnungen belegen.)15 Bei einer Schlacht in der Nähe der belgischen Ortschaft Langemarck warfen sich am 10. November 1914 tausende kriegsfreiwilliger ‘Wandervögel’ auf die Briten und wurden niedergemäht. In den Augen der überlebenden Angehörigen dieser Generation waren sie symbolhaft Teil eines enormen Opfers, das für die Nation und für die eigene wie auch zukünftige Generationen junger Deutscher gebracht worden war.16 Von da an bildeten Langemarck-Gedenkfeiern ein charakteristisches Merkmal der sich entwickelnden Jugendbewegung.17
Nachdem von den 12 000 ‘Wandervögeln’, die zur Fahne geeilt waren, nicht einmal die Hälfte heimkehrte,18 verlagerte sich nach 1918 der Schwerpunkt der deutschen Jugendbewegung. Elitär und antimodern war sie schon immer gewesen, doch anders als im Kaiserreich wurde sie nun außerdem in wachsendem Maße martialisch, hierarchisch, drill- und disziplinbesessen, uniformverliebt sowie rassistisch und begegnete Mädchen in ihrer Mitte mit Skepsis. Dadurch entfremdete sich die Jugendbewegung dem neuen politischen System der Weimarer Republik, die als parlamentarische Demokratie auf Gleichheit fußte und deren Vertreter 1919 den demütigenden Versailler Vertrag unterzeichnet hatten. Tatsächlich nahm die Jugendbewegung sogar eine regelrecht feindselige Haltung ein. Auf die ‘Wandervögel’ folgten die noch asketischeren Gruppierungen der ‘Bündischen Jugend’, die mit demokratischer Parteipolitik nichts zu tun haben wollten.19 Sie behaupteten zwar immer, überparteilich zu sein, standen ideologisch gesehen aber rechts von der Mitte. Schon bald entstanden jedoch im Umfeld der politischen Parteien sowie der evangelischen und der katholischen Kirche eigene engagierte Jugendorganisationen. Soweit sie sich mit der eigentlichen ‘Bündischen Jugend’ überschnitten, teilten sie das bestimmende Merkmal der deutschen Jugendbewegung nach dem Krieg: die antidemokratische Einstellung samt der damit einhergehenden Ablehnung all dessen, wofür die die Weimarer Republik stand, vor allem ihre Modernität. Nur eine kleine Minderheit der Jugendbünde – nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein – war republikanisch inspiriert und unterstützte die neue politische Ordnung.20 Offen politisch waren die Ableger der Parteien wie der mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) verbundene Bismarckbund oder die aus einer früheren kommunistischen Jugendorganisation hervorgegangene Antifa. Auf der extremen Rechten fand sich ein nach dem Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) benannter Jugendverband, die Hitler-Jugend.21
Da die verschiedenen Jugendbünde über Mittel und Ziele uneins waren, entstanden ernste strukturelle Schwächen, die zu Fluktuation führten. Wie das typische Beispiel der kommunistischen Jugendgruppen zeigt, wurde ständige Veränderung allmählich zur einzigen Konstante in der Jugendbewegung, und diese entwickelte ihre notorische Unbeständigkeit zu einer Zeit, als auch die Weimarer Republik selbst immer instabiler wurde. Zwischen 1918 und 1933 bestand die Geschichte der Jugendbewegung aus einer „ununterbrochene[n] Kette von Zusammenschlüssen, Spaltungen und Wiedervereinigungen“.22 Zu dieser Unbeständigkeit kam noch der Umstand, dass der Generationskonflikt, der 1901 das Verhältnis der ursprünglichen Jugendbewegung zu den Erwachsenen geprägt hatte, für die Jugendbünde nun selbst zum Problem wurde. Ende der 1920er-Jahre übernahmen Mitglieder, die bei Erreichen des Erwachsenenalters nicht gehen wollten, das Kommando über neue Mitgliedergenerationen und stießen bei diesen zunehmend auf Ablehnung.23
Angesichts eines versagenden politischen Systems, drückender wirtschaftlicher Not und fehlender Zukunftshoffnung sowie angesichts verständnisloser Eltern und statischer, nur um sich selbst kreisender Jugendgruppen blieben jungen Männern und Frauen zwischen 1929 und 1933 wenig Zufluchts- und Orientierungsmöglichkeiten. Das war die Gelegenheit, auf die manche Führer der nationalsozialistischen Bewegung unter Hitler gewartet hatten. „Macht Platz, Ihr Alten!“24 war damals einer ihrer Schlachtrufe, der Deutschlands entfremdete Jugend zwangsläufig beeindruckte. In ihrer Propaganda verbreiteten viele führende Nazis, die Regierung der Weimarer Republik lasse die jungen Menschen im Stich, denn sie schaffe für sie keine Einrichtungen und überlasse sie mit ihren Problemen den zerstrittenen Jugendbünden. Geschickt nutzten und verschärften die Nationalsozialisten die zwischen den Generationen bestehenden Spannungen für ihre eigenen Zwecke.25 Angesichts der die jungen Leute stigmatisierenden Arbeitslosigkeit bemühten sich verschiedene Unterorganisationen der NSDAP, Arbeitsplätze zu schaffen und Erwerbsarbeit zu vermitteln. Eine dieser Organisationen war die HJ, die – anders als die elitären Jugendbünde – besonders den unteren Gesellschaftsschichten attraktiv erschien.26
Und während Hitler vielen jungen Menschen wie ein Vater oder älterer Bruder erschien, den sie entweder nie gehabt oder früh verloren hatten, sahen ebenfalls viele in der NS-Bewegung samt ihren Gliederungen eine für die Jugend geschaffene Partei. Das, was von der NS-Bewegung auf der Straße an Formationen zu sehen war, wirkte jung: die SA, die SS und der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund, der von seiner universitären Basis aus seit Mitte der 1920er-Jahre in Deutschlands Bildungsbürgertum eine Vorreiterrolle für den Nationalsozialismus spielte.27 Vor allem aber waren die Mitglieder der NSDAP selbst augenfällig jung: Zwischen 1925 und 1932 betrug das Durchschnittsalter aller Neumitglieder rund 31 Jahre. Damit stand sie besser da als alle anderen damaligen Parteien außer der KPD.28 Im Übrigen erhielt die NSDAP gegen Ende der Weimarer Republik bei den Reichstagswahlen zumindest in städtischen Wahlbezirken tendenziell mehr Stimmen von jungen als von älteren Wählern, weil die Not in den Städten am größten war.29
Wenn gegen Ende der Weimarer Republik desillusionierte junge Männer und Frauen mit Blick auf die eigene Zukunft auf die wachsende NS-Bewegung setzten, so galten sie umgekehrt den NS-Führern auf dem anstehenden Weg zum Erfolg als Mitstreiter und erschienen ihnen auch für die weitere Verwirklichung ihres ‘Tausendjährigen Reiches’ als unverzichtbar. Obwohl es zwischen 1919 und 1933 keine einheitliche nationalsozialistische Jugendpolitik gab, geht aus den Worten und Taten einzelner Parteivertreter verschiedentlich eine begeisterte Einstellung zur Jugend hervor. Hitler hatte sich für Jugendprobleme anfangs nicht interessiert, weil die Heranwachsenden zu jung waren, um wählen oder Parteimitglied werden zu können. Daher war es für ihn z. B. unbegreiflich, dass einzelne seiner Anhänger Mitte der 1920er-Jahre einen nationalsozialistischen Studentenbund gründen wollten.30 Doch als er sich von der Richtigkeit der Idee erst einmal hatte überzeugen lassen und außerdem feststellte, dass Jungen von mehr als 16 Jahren in den Großstädten gut bei Straßenkämpfen einzusetzen waren, sträubte er sich nicht länger und machte der Jugend Avancen. Zweifellos von noch raffinierteren Taktierern wie Joseph Goebbels und Gregor Straßer beeinflusst, erkannte Hitler 1930 an, dass man junge Menschen als Nachwuchs zur Sicherung des Fortbestands der Bewegung benötigte. Und so sagte er im Sommer desselben Jahres zu Münchner Studenten, deren sozioökonomische Lage allmählich verzweifelt wurde, sie sollten „sich reiches Wissen“ aneignen, „damit sie im neuen Reich führende Stellungen einnehmen“ könnten.31 Albert Speers spätere Andeutung, Hitler habe, um das Überleben seines Regimes zu sichern, (schon immer) besonderes Interesse an der Aufnahme junger Menschen in die Bewegung gezeigt, trifft erst für die Zeit ab 1930 zu. 32 Aber selbst dann mussten seine Berater sich ständig bemühen, dieses Interesse bei ihm wach zu halten. Aus der ambivalenten Einstellung des ‘Führers’ gegenüber der Jugend lässt sich teilweise erklären, warum der Altersdurchschnitt seines Gefolges bis zum Ende des ‘Dritten Reiches’ immer weiter anstieg, statt durch das Hinzukommen junger Leute zu sinken, und warum letztlich auch die NSDAP selbst an Überalterung litt.33 Es besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dieser Ambivalenz samt dem dadurch entstehenden zentralen Problem einer strukturellen Verknöcherung und den grundlegenden Schwächen in der Organisation der Hitler-Jugend und der von ihr beabsichtigten Mitgliederschulung.
Es gab durchaus hochrangige Nationalsozialisten, die scharfsinnig und frühzeitig erkannten, wie wichtig Führungsfragen waren und dass es dabei auf die rechtzeitige Einbindung der Jugend ankam, doch besaßen ihre Erklärungen und Entscheidungen nie die gleiche Autorität wie die des ‘Führers’. Zu einer Zeit, als nach dem Ersten Weltkrieg bekannt war, dass die Geburtenrate in Deutschland zurückging,34 äußerte Goebbels, an dessen intelligente politische Einsichten niemand in Hitlers Gefolge heranreichte: „Führer werden geboren, Führerschichten dagegen erzogen. Zur Politik wird man berufen, zur Verwaltung kann man unterrichtet, gedrillt, angeleitet und gezüchtet werden.“35 Zwei Jahre nach dieser 1930 getroffenen Feststellung erklärte NSDAP-Reichsorganisationsleiter Straßer, es sei die Pflicht der jungen Generation, zusammen mit den Frontsoldaten „alleiniger Träger zukünftiger Politik“ zu sein.36
Die junge Generation, an die Straßer sich ab 1933 wandte, bildeten nun die nach 1915 Geborenen. Der gemeinsame Nenner der Angehörigen dieser Personengruppe war, dass ihre Eingliederung in die Hitler-Jugend zwischen dem Beginn der Herrschaft Hitlers und deren Ende erfolgte, genauer gesagt zwischen 1933 und 1944, dem letzten Aufnahmejahr. Durch dieses Kriterium bedingt ist die „NS-regimespezifische Jugendkohorte“ keine „Generation“ in dem klassischen Sinn, dass ihre Mitglieder die Erzeuger der nächsten Generation gewesen wären, sondern nur in dem Sinn, dass sie innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne dieselbe wesentliche Erfahrung teilten.37 Da die HJ-Mitglieder normalerweise 10 bis 18 Jahre alt waren, gehörten die ältesten der zur „NS-regimespezifischen Jugendkohorte“ zählenden Personen also dem Geburtsjahrgang 1916 an und die jüngsten dem von 1934. Sie alle „sind in den NS-Staat hineingewachsen“, wie es der deutsche Parlamentarier und ehemalige Hitlerjunge Erhard Eppler in seinen Erinnerungen beschreibt.38 Der kollektiven Erfahrung dieser Personengruppe wollen wir uns nun zuwenden.