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Dienst in der Hitler-Jugend
1938 erschien in einem Schullesebuch unter der Überschrift Kameradschaft eine Geschichte, die ein Hitlerjunge namens Hans Wolf verfasst hatte. Sie beginnt folgendermaßen:
„Der Tag war heiß und der Weg weit. Die Sonne glutete in der fast baumlosen Heide. Der Sand flimmerte. Ich war müde. Meine Füße brannten in den neuen Halbschuhen, jeder Tritt schmerzte, und ich dachte immer nur an Rast und Wasser und Schatten. Ich biß die Zähne zusammen, um nicht schlappzumachen. Ich war der Jüngste und zum ersten Male auf Fahrt. Vor mir ging Rudolf, der Führer. Er war groß und stark. Sein Tornister wuchtete schwer und drückend auf den Schultern. Rudolf trug das Brot für uns sechs Jungen, den Hordentopf und eine Reihe von Büchern, aus denen er uns des Abends in der Bleibe immer so feine und spannende Geschichten vorlas. Mein Affe barg nur ein Hemd, ein paar Turnschuhe, Waschzeug und das Kochgeschirr, daneben eine Zeltbahn für Regentage und Strohlager. Und doch glaubte ich, den Tornister nicht mehr schleppen zu können. Die Kameraden waren alle etwas älter und schon viel gewandert. Ihnen machten die Hitze und der Marsch wenig aus. Sie seufzten ab und zu und tranken lauwarmen Kaffee aus den Feldflaschen. Immer mehr blieb ich zurück. Dann wieder versuchte ich, durch Laufen den Abstand zu verringern. Auf einmal schaute Rudolf sich um. Er stutzte, sah mich in der Ferne heranschleichen und wartete. Die Kameraden schritten weiter einer Waldgruppe zu, die am Horizont sichtbar war. ‘Müde?’, fragte Rudolf mich freundlich? Ich bejahte verschämt. Wir gingen langsam nebeneinander her. Ich humpelte. Aber ich wollte es Rudolf nicht wissen lassen. Als wir an eine Wacholderstaude kamen, setzte sich der Führer und sagte: ‘Etwas verschnaufen!’ Erleichtert warf ich mich nieder. Ich wollte nicht sprechen. Ich hatte Scheu. Rudolf gab mir zu trinken. Ich dankte und lehnte mich behaglich nach hinten über, froh, die wehen Füße ausstrecken zu können, und auf einmal schlief ich … Als wir weitermarschierten, schmerzten die Füße weniger, und der Affe drückte auch nicht mehr so. Ich war darüber sehr froh.“1
Hans Wolfs Geschichte fasst das Wesentliche des Gemeinschaftserlebnisses in der Hitler-Jugend zusammen. Auf beispielhafte Weise wird hier veranschaulicht, warum die HJ für Millionen von Jungen und Mädchen attraktiv war und warum sie – zumal in den ersten Jahren des ‘Dritten Reiches’– so gut funktionierte. Da in der Geschichte wesentliche nationalsozialistische Werte zum Ausdruck kommen, hielt man sie für geeignet, in der Volksschule als Lesestoff für Dritt- und Viertklässler eingesetzt zu werden. Schon der Titel deutet an, dass es wichtig ist, als kleines Individuum einer größeren Gemeinschaft anzugehören – letztlich der organisch gewachsenen ‘Volksgemeinschaft’. Die Erfahrung, in schwierigem Gelände als Jüngster in einer Gruppe mühsam mitzumarschieren, ist den jungen Schülern nicht unbekannt und erinnert sie daran, wie klein und schwach sie doch für sich allein sind und wie wichtig es ist, von einer Gruppe stärkerer Kameraden unterstützt zu werden. Führer dieser Kameraden ist Rudolf, der stärkste von allen. Er kümmert sich nicht nur um die körperlichen Bedürfnisse seiner Schützlinge – er trägt den Brotvorrat für alle –, vielmehr ist er durch die Texte, die er vorliest, auch ihr geistiger Mentor. Auch in der Hitler-Jugend war es so, dass die stärkeren Mitglieder ihre schwächeren Kameraden unterstützten und gescheite Führer für die körperliche und geistige Anleitung zur Verfügung standen. Während körperliche Aktivitäten – wie der Marsch unter sengender Sonne in fast baumloser Heide –, so unerträglich sie auch sein mochten, die Sehnen und Muskeln der Jungen stählten, schulten die abendlichen Lesungen und Diskussionen ihren Geist und erweiterten ihr Wissen um germanische Sagen und nationalsozialistische Ideologie, zu der auch der Führerkult gehörte. Rudolf selbst ist in der Heide als Führer ein leuchtendes Vorbild. Opferbereitschaft und Treue sind für ihn wichtig, besonders unter widrigen Umständen, und letzten Endes würde er seinen Trupp insgesamt genauso schützen wie den kleinen Hans, den er vor völliger Erschöpfung und Zusammenbruch bewahrt.
1938, als diese Geschichte in deutschen Klassenzimmern gelesen wurde, war das ‘Dritte Reich’ nicht mehr weit entfernt von einer Zeit mit viel längeren Märschen durch völlig baumlose und noch heißere Gegenden als die, in der die Geschichte spielt; doch diese Märsche sollten dann dem nationalsozialistischen Endziel dienen, in fremden Ländern neuen Lebensraum zu gewinnen. Hauptzweck der HJ war, die deutsche Jugend auf die Verfolgung eines solchen Zieles vorzubereiten, so wie es der Zweck von Hans’ Geschichte war, alle Jungen und Mädchen im entsprechenden Alter daran zu erinnern, dass es für sie wichtig sei, der HJ beizutreten.
Natürlich war die Hitler-Jugend, genau wie viele andere Institutionen des ‘Dritten Reiches’, von ihren Ursprüngen her kaum das Ergebnis systematischer Planung und auch längst nicht immer Ausdruck monolithischen Zusammenhalts, wie man es von einer totalitären Diktatur wie der Hitlerschen vielleicht erwartet hätte. In mancherlei Hinsicht war diese Diktatur selbst weit heteromorpher und weniger durchstrukturiert, als der ‘Führer’ und seine Statthalter es gerne gehabt hätten.2 Insofern mag Hans Wolfs Schilderung – Kameradschaft, Harmonie und Opferbereitschaft unter einem starken, allwissenden Führer – im Hinblick auf die tatsächliche Effizienz und innere Funktionstüchtigkeit der ‘Volksgemeinschaft’ und ihrer politischen Institutionen (vielleicht sogar einschließlich der Hitler-Jugend selbst) übertrieben sein. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die meisten Kinder und Jugendlichen die Unternehmungen der HJ mochten und sich in ihrem Schoß gut aufgehoben fühlten, zumal sie wussten, dass sie anschließend die Träger der Politik des neuen Reiches sein würden. Von ihren subjektiven Ansichten her zu urteilen, hatten sie das tatsächliche Gefühl, dazuzugehören, mitzumachen und robusten, aber fürsorglichen Führern als bereitwillige Befehlsempfänger zu dienen. Bei der Beurteilung von Ausnahmen und Widersprüchlichkeiten muss man daher berücksichtigen, dass unter den jungen Menschen in Nazideutschland ein breiter und allgemeiner Konsens bestand.