Читать книгу Woodstock - Michael Lang D. - Страница 6
Prolog
ОглавлениеEs ist 10 Uhr am Montag, 18. August 1969: Jimi Hendrix spielt vor vierzigtausend Zuschauern. Etwa eine halbe Million Menschen sind in der Nacht zuvor abgereist. Viele müssen arbeiten, andere sind zu ihren Familien zurückgekehrt, die sich wegen der widersprüchlichen Meldungen über das Chaos in Woodstock Sorgen gemacht haben. Während ich von der Bühne auf die Menge hinabschaue, sehe ich, wie immer mehr Menschen aufbrechen. Jimi registriert das auch und sagt: »Ihr könnt gehen, wenn ihr wollt. Wir jammen hier bloß ein bisschen. Ihr könnt gehen oder klatschen.« Er blickt hinauf zu ein paar Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brechen – es sind die ersten seit geraumer Zeit. »Der Himmel steht uns noch bei, wie ihr seht«, murmelt er.
Wir, die wir ganz nahe bei der Bühne stehen, sind völlig gebannt von Jimi und seiner Band of Gypsys. Die Jungs haben die ganze Nacht durchgemacht, womöglich sind sie sogar noch viel länger wach – wie viele von uns, die seit Tagen kaum mehr als ein paar Stunden geschlafen haben. Trotz allem haftet Jimi, der deutlich Dreck unter seinen Nägeln hat, in seinem weißen Fransenhemd immer noch etwas Majestätisches an. Jerry Velez, der blutjunge Percussionist, bearbeitet schweißgebadet die Congas. Juma Sultan schwingt wie ein purpurner Derwisch die Maracas und seine Percussionschlegel. Und dann sind da noch Jimis alte Kumpel aus Armyzeiten: Gitarrist Larry Lee mit einem grünen Fransentuch um den Kopf, das seine Augen bedeckt, und Billy Cox, Jimis treuer Bassist, der einen bunten Turban trägt. Im Hintergrund immer in Bewegung der famose Experience-Drummer Mitch Mitchell.
Jimi entschuldigt sich, weil er zwischen zwei Songs seine Gitarre stimmt. »Nur Cowboys sind nie verstimmt«, sagt er lachend. In einem Augenblick scherzt er mit dem Publikum und ruft einem »Mädchen in gelben Unterhosen« hinterher, mit der er am Abend zuvor herumgeschäkert hat, in einem anderen dirigiert er die Band mit einem Blick oder einer Handbewegung und schließlich versinkt er in seinem Riff, taucht mit seiner Gitarre in ferne Sphären ab. Als er wieder auftaucht, konzentriert er sich ganz auf die relativ kleine, aber enthusiastische Menge vor ihm. Mitgefühl und Dankbarkeit schwingen mit, als er das Wort an uns richtet: »Ihr habt alle sagenhaft viel Ausdauer – drei Tage lang habt ihrs ausgehalten! Ihr habt der Welt gezeigt, was ein bisschen Liebe, Verständnis und Musik ausrichten können.«
Kurz darauf erleben wir etwas vollkommen Einzigartiges: Von »Voodoo Child« leitet er über zu »The Star-Spangled Banner«. Billy Cox und Larry Lee strecken sich, fast so, als stünden sie stramm. Ich bin, wie alle anderen, völlig gebannt davon, wie Jimi die Melodie aufbaut, wie er Rückkopplungen und Verzerrungen hinzufügt. Die Nationalhymne, das wird mir schlagartig klar, wird nie mehr dieselbe sein wie zuvor. Jimi hat sich in unsere kollektive Erfahrung eingeklinkt. All das emotionale Chaos und die Verwirrung, die wir als in den 1960er-Jahren aufgewachsene junge Amerikaner durchlebt haben, strömen in diesem Moment aus den Lautsprechern. Jimis Song versetzt uns auf ein Schlachtfeld, auf dem uns Raketen und Bomben um die Ohren fliegen, auf Demonstrationen und Friedensmärsche, bei denen sich die Polizei und wütende Bürger gegenüberstehen. Es ist eine eindrucksvolle Stellungnahme gegen den Krieg, gegen ethnische und soziale Ungerechtigkeit und ein Weckruf, der uns mahnt, die Risse zu kitten, die durch unsere Gesellschaft gehen.
Während ich Jimi zuhöre, wandern meine Gedanken zurück zu einem Abend in einem kleinen Nachtclub in Manhattan, in dem ich als 16-Jähriger aus Brooklyn John Coltrane Saxofon spielen sah. Auch er nahm mich mit auf eine musikalische Reise, und wie Hendrix war er eine Offenbarung.
Dieses ganze Unternehmen – das Festival und der Weg dorthin – war gekennzeichnet von Augenblicken wie diesen. Was getragen war von unerschütterlichem Optimismus und wahnwitzigen Ideen und sich anfühlte wie eine Abfolge etlicher Beinahecrashs und kleiner Siege, die nur durch das Zusammenwirken engagierter und nimmermüder Helfer errungen wurden, gipfelte in einem dreitätigen Festival, wie es die Welt zuvor noch nie gesehen hatte. Erinnerungsfetzen flackern auf. Ich sehe die schwangere Joan Baez im Regen stehen, wie sie einfach nur den Augenblick genießt. Ich sehe Jerry Garcia, der an der free stage rumhängt und sich mit ein paar Kids, die er nie zuvor gesehen hat, einen Joint teilt. Ich sehe die Blitze, die nachts über den Himmel zucken, und die Mitglieder der Hog-Farm-Kommune, die den Leuten vor der Hauptbühne, die ihre Plätze nicht verlassen wollen, Schalen mit Müsli reichen. Ich sehe, wie Crosby, Stills and Nash um halb vier Uhr morgens auf der Bühne stehen und »Suite: Judy Blue Eyes« spielen, den Song, der mich Monate zuvor von den Socken gehauen und davon überzeugt hatte, die damals noch unbekannte Band zu buchen. Ich sehe, wie Pete Townshend Abbie Hoffman mit seiner Gitarre eins überbrät und Sly Stone mit seiner Family die Menge zu einem mitreißenden call and response animiert, das niemanden unberührt lässt.
Unter denjenigen, die bis jetzt geblieben sind, sehe ich eine Menge müder Gesichter; es sind die Hardcorefans und diejenigen, die einfach nicht gehen wollen.
Ich gehe quer über die Bühne und nehme den Weg über die provisorisch errichtete Fußgängerbrücke in unser Trailerlager, wo ich ein paar Minuten für mich allein sein will, bevor ich mich mit den Folgen und Nachwirkungen dieses sagenhaften Wochenendes beschäftige. In den vergangenen vier Tagen habe ich insgesamt vielleicht sechs Stunden geschlafen, und so langsam spüre ich das auch.
Meine Partner John Roberts, Joel Rosenman und Artie Kornfeld sind bereits abgereist. Mir wird klar, dass ich Joel und John das ganze Wochenende über nicht gesehen und fast nichts von ihnen gehört habe, und ich frage mich, was sie von der ganzen Sache halten. Wie es Artie ergangen ist, weiß ich. Als ihm klar wurde, dass es keine Möglichkeit gab, die Menge davon abzuhalten, unsere Zäune zu überrennen, dass von den Zehntausenden, die zu unserer kleinen Party kamen, keiner für ein Ticket zahlen würde, wurde er kurz panisch. Doch er sammelte sich schnell wieder, und während er diverse LSD-Trips einwarf und den Künstlern, die er zur Bühne führte, die Erlaubnis, sie filmen zu lassen, abzuringen versuchte, hatte er die beste Zeit seines Lebens.
Wir alle hatten die beste Zeit unseres Lebens.
Für mich war Woodstock ein Test, bei dem es darum ging herauszufinden, ob die Menschen meiner Generation tatsächlich aneinander glaubten und an die Welt, die wir aufbauen wollten. Wie würden wir uns verhalten, wenn wir Verantwortung übernahmen? Konnten wir das friedvolle Miteinander, das uns vorschwebte, tatsächlich verwirklichen? Ich war überzeugt davon, dass, wenn wir unseren Job richtig machten und mit dem Herzen dabei waren, wenn wir den Weg ebneten und den richtigen Ton trafen, alle sich mit ihrem höheren Selbst verbinden würden und etwas ganz und gar Unglaubliches schaffen konnten.
Woodstock wurde zu einem Symbol für unsere Solidarität. Das bedeutete mir am meisten – die gegenseitige Verbundenheit, die alle empfanden, die auf dem Festival arbeiteten, die dorthin kamen, um es mitzuerleben, und die auch Millionen von Menschen erreichte, die nicht dabei sein konnten, aber davon berührt wurden. An diesem einen Wochenende im August, zu einer Zeit, zu der es in unserem Land ziemlich hoch herging, zeigten wir uns von unserer besten Seite und schufen – wenn auch nur für kurze Zeit – genau die Art von Gesellschaft, nach der wir uns alle sehnten. Alles war richtig, die Zeit, der Ort, unsere Einstellung – wir waren richtig. Schlussendlich zelebrierten und bestätigten wir damit unsere Menschlichkeit. Es war meines Wissens eines der wenigen Ereignisse in der Geschichte, in der etwas durch und durch Freudvolles für Schlagzeilen sorgte.
Auf Max Yasgurs 600 Morgen Farmland gab jeder für sich seine Vorbehalte auf und alle wurden zu einer einzigen großen Familie. Zusammenzurücken, sich an der Musik und aneinander zu erfreuen und Teil einer so großen Menge zu sein, während ein Ungemach aufs nächste folgte – die vielen Staus, der ganze Regen –, war ein einschneidendes Erlebnis. Keine dieser Widrigkeiten konnte unsere Stimmung trüben. Tatsächlich rückten wir durch sie nur noch näher zusammen. Wir nahmen uns als das wahr, was wir im Kern tatsächlich sind: Brüder und Schwestern – und genau so nahmen wir einander an. Wir teilten alles, wir applaudierten jedem, wir überlebten gemeinsam.
Während Jimi sein Set beendet, verlasse ich meinen Trailer und schwinge mich auf mein Bike, um den Hügel hinaufzudüsen. Ich fahre eine BSA Victor, die beim Anlassen oft Zicken macht, aber heute Morgen springt der Motor gleich beim ersten Versuch an. Bei meinem Weg über das Areal, das sich mittlerweile in einen riesigen Sumpf verwandelt hat, steigt mir der strenge, üble Geruch der im Abbruch befindlichen »Stadt« in die Nase. Während ich den Hügel hinauffahre, sehe ich, wie die Crew Jimis Equipment abbaut und sich Hunderte von Menschen anschicken, den Müll von den völlig zertrampelten Feldern einzusammeln. Die Bühne, auf der eine total ausgelaugte Crew Kabel aufrollt und Instrumente verpackt, hebt sich eindrucksvoll von dem schlammigen Flickenteppich ab. Ein überdimensionales Leinentuch flattert darüber im Wind. Es sieht aus wie ein riesiges Segel, das sich von seinem Mast losgerissen hat, und erinnert mich an das Schiff aus Nimmerland. Es ist mit uns zu einem großen Abenteuer aufgebrochen und hat alle wieder sicher nach Hause gebracht. In der Ferne erkennt man den See, der uns als Haupttrinkwasserreservoir gedient hat; sein Wasserstand ist sichtbar gesunken. Noch weiter hinten, auf den Hügeln rund um das Gelände, sieht man Menschen, die von den Zeltplätzen strömen und sich auf den Heimweg machen. Die Erfrischungsstände hinter mir sind leer und verlassen. Sanitärwagen und Gülletransporter fahren über die inzwischen wieder passierbaren Straßen zum Festivalgelände hinab. Im Wald zu meiner Linken jenseits der Hurd Road entdeckt man allenthalben bunte Stoffreste und farbige Markierungen – Überbleibsel der vielen Marktstände, die hier aufgebaut worden waren.
Ich stelle den Motor ab und parke meine Maschine neben den Trümmern eines ehemaligen Gartenstuhls, in dessen Umkreis auch noch ein versiffter Schlafsack, eine kaputte Sandale und eine zerbeulte Feldflasche liegen. Das lange Wochenende, das hinter uns liegt, hat uns auf die Probe gestellt, doch wir haben den Test bestanden.
Der Weg, der uns hierherführte, war außergewöhnlich – gelegentlich sogar ein wenig magisch. Hunderte von Menschen begleiteten mich auf dieser Odyssee und arbeiteten unermüdlich selbst gegen die ärgsten Widrigkeiten an.
Ich weiß nicht genau, wie es jetzt weitergehen wird. Finanzielle Probleme sind absehbar und man wird sich um die angeschlagene Woodstock-Ventures-Gesellschaft kümmern müssen. Aber das Wichtigste ist, dass Woodstock überhaupt zustande gekommen ist.
Während ich hier oben vom Hügel aus hinabschaue, erinnere ich mich an den vergangenen Freitag, an den Moment, als Richie Havens, ein Kerl wie ein Baum, in einem orangefarbenen Dashiki die Bühne betrat. Er eröffnete das Festival, was schlicht und einfach daran lag, dass er und seine Band bereits da waren und als Erste loslegen konnten. Als wir über die Brücke zur Bühne gingen, verriet sein Blick großes Erstaunen und dann flackerte sogar ein wenig Angst in seinen Augen auf, angesichts der atemberaubend großen Menschenmasse, die sich über mehrere Kilometer vor der Bühne zu erstrecken schien.
»Wir fangen gerade an zu begreifen«, sagte ich.
Woodstock war eine Chance, ein Augenblick, ein Zuhause, etwas, worauf wir alle gewartet und hingearbeitet hatten. Als Richie zu singen begann und rhythmisch auf seine Akustikgitarre eindrosch, als wäre es eine talking drum, war ich mir zum ersten Mal richtig sicher, dass alles gut würde. Die Show lief, das Festival hatte begonnen. Es war der Moment, auf den alles ausgerichtet war, was wir in den vergangenen zehn Monaten getan hatten – und ich war überglücklich.
Plötzlich hält ein Pick-up hinter mir an und jemand reißt mich aus meinen Träumen. »Michael! Artie hat gerade angerufen. Sie brauchen dich an der Wall Street – und zwar pronto!«