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Vorwort
ОглавлениеDieses Buch begann an einem trüben Sonntagnachmittag bei einer guten Tasse Tee. Unser Gespräch kam auf das Tagesevangelium, in dem von einem höchst unkonventionellen und unhöflichen Verhalten Jesu die Rede ist. Einer kanaanäischen Frau begegnete er richtig unverschämt und brüskierend. Wir gestanden uns gegenseitig unser Erstaunen über diese weitgehend unbekannte Seite Jesu.
So wie wir meinen viele, Jesus von Nazareth so halbwegs zu kennen. Wer konfrontiert sich denn mit dem Sperrigen, Fremden und gar nicht Bequemen in den Reden und im Auftreten Jesu? Und was entgeht einem von der spirituellen Kraft und Lebendigkeit Jesu, wenn man dies nicht tut? Ist unsere Beziehung zu ihm vielleicht deshalb oft so fad, so irrelevant für das normale Leben und letztlich banal, weil wir ihn nur in der schönen, domestizierten Verpackung haben wollen?
Neigen wir nicht in allen unseren Beziehungen dazu, das Unbekannte zugunsten des Bekannten zu minimieren? Dabei lebt jede Beziehung von einer grundsätzlichen Spannung. Es ist die Spannung zwischen einer selbstverständlichen Vertrautheit und einer faszinierenden Fremdheit. Der oder die andere bleibt uns immer ein Stück weit unbekannt und damit überraschend neu und interessant. Für eine lebendige Beziehung braucht es beides, Freiraum und Geborgenheit, Nähe und Distanz. Vertrautheit allein kann zu einer Alltagsbanalität im Umgang führen und eine Beziehung der inneren Spannung berauben. So erzeugt das Vertraute mitunter Distanz, während das Fremde durch das geweckte Interesse Nähe ermöglicht.
Das vorerst unverständliche, ja befremdende Verhalten Jesu im erwähnten Sonntagsevangelium war für uns der Anstoß, über seine „fremde Gestalt“ nachzudenken. Den meisten ist Jesus in irgendeiner Weise vertraut, auch wenn es nicht selten nur die spärlichen Reste von Erzählungen sind, die wir in unserer Kindheit über seine Wunderheilungen und seine Sorge um Ausgestoßene gehört haben. Er ist und bleibt die faszinierendste Persönlichkeit der Menschheit. Immer wieder tauchen aber auch Jesusworte auf, die in ihrer eigenartigen Fremdheit aufhorchen lassen. Sie stellen das Vertraute infrage. Die vorliegenden Gespräche haben genau diese relativ unbekannten oder zumindest gerne verdrängten Textstellen aus den vier Evangelien zum Ausgangspunkt gewählt.
„Der am Herzen des Vaters ruht, hat Kunde gebracht.“ So steht es im Prolog des Johannesevangeliums. Auf die Frage des Apostels Philippus antwortete er: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ (Joh 14,9) Das bedeutet: Jesus ist die Zugänglichkeit zum innersten Geheimnis Gottes. Er hat den Vorhang des Nichtwissens und der Trennung zwischen Gott und Mensch entfernt. Wenn wir dennoch im Folgenden von der unbequemen und fremden Seite Jesu sprechen, soll damit keineswegs implizit von einem Rest willkürlicher oder bösartiger Unberechenbarkeit Gottes gesprochen werden. Ganz und gar nicht.
Es ist auch verständlich, dass Menschen, die an Jesus Christus als Gottes Sohn glauben, sich nicht gerne mit dem Menschen Jesus auseinandersetzen wollen. Jedoch eröffnet sich gerade durch die totale Menschwerdung das Geheimnis einer erlösten Begegnung mit Gott. Gott ist das offene, lichte Geheimnis unfassbarer Nähe und Barmherzigkeit. Diesem Geheimnis rund um die Person des Jesus von Nazareth wollen wir nachgehen. Jesus ist uns vertraut und fremd zugleich. Er gehört nicht den Gläubigen allein. Er gehört auch den Verunsicherten und Zweiflern. Er ist nicht der Garant einer wohltemperierten Religiosität für jene, die zum kirchlichen Innenkreis gehören. Obwohl er seinen Jüngern die Freundschaft angeboten und alles mit ihnen geteilt hat, bleibt ein Moment der Unverfügbarkeit, das um eines reifen, gott- und weltoffenen Glaubens willen wahrzunehmen und in seiner Bedeutung hervorzuheben ist. Jesus ist nicht nur „der liebe Jesus“, wie wir uns ihn manchmal in kindischer Manier vorstellen – ein Jesus, der keinen Anstoß erregt, der niemanden verunsichert und sich den Erwartungen der Frommen fügt.
Bedauerlicherweise gibt es eine Menge von Jesusbildern, die genau diese Klischees vertiefen. Sie entschärfen seine Bedeutung, verwässern seinen Anspruch und verharmlosen seine Botschaft. Jesus kann emotional verkitscht werden, sodass die herausfordernde Lebensrelevanz seiner Person nicht mehr zum Vorschein kommt. Man kann ihn auch auf das sozialkritische und revolutionäre Potenzial seiner Lebensweise und Botschaft reduzieren. Das hätte zumindest eine politische Stoßkraft für unsere Welt, die sich in einer extremen sozialen Schieflage befindet. Oder man verengt die menschlich-göttliche Weite Jesu auf ein ganz subjektives, pietistisches Format, sodass eine Begegnung mit ihm zu einer einseitig frommen Vereinnahmung verkommt. All diese einseitigen Bilder sind das Resultat der vielen Versuche einer sträflichen Domestizierung Jesu. Deshalb ist es wichtig, im Auftreten und in der Botschaft Jesu besonders jene Momente zu beachten, die sperrig sind und eine tiefere Nachfrage sowie eine persönliche Involvierung erfordern. Das vorliegende Buch ist dem nicht-konformen, unbequemen Jesus auf der Spur.
Dabei versuchen wir auch selbst, unsere Vorstellung von Jesus von falschen Wünschen und Projektionen zu reinigen. Mit dieser Klärung können auch Enttäuschungen einhergehen. Für uns bleibt als zentrale Frage: Herr, wer bist Du? In welchem Gesicht begegnest Du uns heute? Welche Nähe und Fremdheit mutest Du uns heute zu? Das Wahrnehmen der fremden Gestalt Jesu ermöglicht vielleicht auch eine Solidarität mit allen, die trotz persönlicher Anstrengung keinen Zugang zu Gott finden. Dieser Aspekt der inneren Verbundenheit mit allen Fragenden, Suchenden und Zweifelnden ist uns wichtig. Der unbequeme Jesus holt uns auf jeden Fall aus unserer Komfortzone heraus. Wer bereit ist, kann sich auf eine Begegnung mit ihm einlassen.
Hermann Glettler und Michael Lehofer