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1 Brutal unharmonisch

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Mt 10,34-36

Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.

HG: Ein pakistanischer Bischof hat mir erzählt, dass ein hochrangiger muslimischer Geistlicher einmal in seiner Gegenwart Jesus als jene Person bezeichnete, „die nie ein Schwert angegriffen hat“. Er wollte damit seinem offensichtlich geschätzten Gesprächspartner ein Kompliment machen und vielleicht auch über die traurige Tatsache der in Pakistan fast alltäglichen Verfolgung von Christen hinwegtrösten. Dieser aus der Sufi-Mystik kommende Ehrentitel trifft genau das Wesen Jesu. Er ist es, der Gewaltfreiheit gepredigt und einen radikalen Gewaltverzicht für sich und seine Gemeinschaft vorgelebt hat. Umso schockierender und unverständlicher ist die Aussage Jesu über sein Kommen auf die Erde. Er sei gekommen, das Schwert zu bringen und nicht Frieden. „Schwert“ steht in dieser Aussage für „Entscheidung“. Und Entscheidung beinhaltet immer eine Scheidung. Oft gar eine blutige. Wie lässt sich also diese singuläre Hardcore-Passage aus dem Mund Jesu verstehen? Leicht ließe sie sich für eine Radikalisierung seiner Anhängerschaft missbrauchen – was ja tatsächlich immer wieder geschehen ist.

ML: Man muss ja zugeben, dass die Geschichte des Christentums diesen Text leider auch bestätigen kann. Im Namen Jesu Christi ist viel Heil, aber auch viel Unheil in die Welt gekommen. Wie gesagt, lässt uns dieser Text ein Stück ratlos bleiben angesichts der bei Weitem überwiegenden friedliebenden Aussagen von Jesus. Und doch lohnt es sich, sich auf die Provokation einzulassen: Kann man den Frieden auch dialektisch betrachten? In einer Gruppe von Menschen, bei der man spürt, dass viele ungelöste Konflikte im Hintergrund mitschwingen, bekomme ich gelegentlich den Impuls, diese deutlich zu machen. Es entsteht der Wunsch, die Wunde offenzulegen, damit sie heilen kann. Der Chirurg muss den Menschen verletzen, um ihn zu heilen. Was diese Metapher bedeutet, ist für uns eine Alltagserfahrung. Wir müssen konfliktfähig sein, um Frieden stiften zu können. Nicht nur, sondern auch.

Ich denke desgleichen an Menschen, die sich durch eine ausgesprochene Harmoniebedürftigkeit auszeichnen und die in verschiedensten Situationen gerade dadurch Unfrieden gestiftet haben. Zweifelsohne ist die Konfliktscheu ein Faktor, der sehr viel Unglück erzeugt. Jesus erklärt seinen Jüngern, dass ein Leben mit ihm und seiner Lehre nicht unbedingt nur zu Glück und Eintracht führen muss. Bereits die Erklärung dieser Tatsache zerstreut falsche Erwartungen für ihr eigenes Leben, die sie sonst mit Jesus und seiner Lehre verbunden hätten. Jesus verweist auf die eigentliche Wirklichkeit, nämlich jene der tiefen Verbundenheit mit Gott. Die Verbundenheit zwischen den Menschen, die uns immer als erste vor Augen steht, verblasst vor diesem Hintergrund.

HG: Mit Sicherheit erteilt die extrem „unbequeme“ Aussage einem Kuschelkurs in der Nachfolge Jesu eine deutliche Absage. Jesus ist nicht der Meister oberflächlicher Harmonisierungen. Jesus provoziert Entscheidungen. Er ist radikal, weil er die Dinge „von der Wurzel her“ (lat. radix) angeht und sich nicht scheut, die Wahrheit auszusprechen. Wer mit ihm unterwegs sein will, muss sich auch auf Vorbehalte und Ablehnung bis hinein in die eigene Familie einstellen. Es kann eine schmerzliche Entscheidung notwendig sein, wenn ein Bekenntnis zu Jesus eine Dissonanz zu familiären Erwartungen erzeugt. Ich habe das Glück, dass ich meinen Weg in großer Freiheit gehen konnte. Aber was wäre gewesen und wie hätte ich reagiert, wenn meine Eltern oder Freunde sich massiv gegen meine Lebenswahl ausgesprochen hätten?

Die Nachfolge Jesu kann Leid verursachen. Für die junge Kirche war dies nichts Außergewöhnliches. Verfolgungen um des Himmelreiches willen waren ganz selbstverständlich Bestandteil des „neuen Weges“. Nicht alle wollten oder konnten ihn mitgehen. In diesem Text sind somit auch Erfahrungen der ersten Jahrzehnte der Jesusbewegung reflektiert. Die Entscheidung für Christus hat quer durch Bekannten- und Familienkreise Bruchlinien gezeichnet. Jesus hat kein verführerisches Versprechen gegeben, dass ein Leben mit ihm nur auf Zustimmung und Wohlgefallen stoßen würde. Sein radikales Wort beinhaltet damit auch nachträglichen Trost für all jene, die Widerspruch, Ablehnung und sogar Verfolgung hautnah erleben. Ich denke konkret an einige junge Bekannte aus dem Iran, die sich für die Taufe entschieden haben und in den meisten Fällen dafür von ihren Familien verstoßen wurden. In jedem Fall drückt die Ansage vom „Schwert bringen“ weder die Absicht noch das Ziel des Wirkens Jesu aus. Vielmehr zeigt sie an, was auf rätselhafte Weise sein Wirken zur Folge hatte und auch heute noch auslöst.

ML: Man kann die Aussage Jesu drehen und wenden, wie man will – sie bleibt ein Stachel im Fleisch. Eine unangenehme, etwas bittere Note in der Begegnung mit der Person Jesu, die aber in uns auch eine Bereitschafft zur Dekonstruktion erzeugen kann. In diesem Fall bedeutet Dekonstruktion, die Fiktion unserer harmonischen Wirklichkeiten aufgeben zu können beziehungsweise ermutigt zu werden, sie aufzugeben. Es ist selbstverständlich, dass man diesen Text nur als Würze in der gesamten geistigen Speise der Heiligen Schrift sehen kann. Aber ohne diese Würze würde der Kontrapunkt fehlen – wie das scharfe Gewürz in einer Speise, das Bittere in einer Schokolade. Das Ganze könnte nicht den Charakter des Offenen, des weiterhin Interessanten, des neugierig Machenden behalten. Das Neue Testament hinterlässt uns nicht ratlos, jedoch zweifelsohne mit einem fragenden, einem offenen Herzen.

HG: Für mich bleibt die Frage, warum Jesus, der vollkommen in der Gesinnung des Erbarmens gelebt und gehandelt hat, gegen Ende seines Lebens extremen Widerstand erfahren musste. Natürlich hat er diesen auch selbst provoziert. Faule Kompromisse wollte er nicht gelten lassen. Er hat sich, seinen Jüngern und uns das Leben damit nicht billig gemacht. Darin liegt für mich die Spur einer Antwort, warum Jesus die brutal unharmonischen Sätze vom „Schwert bringen“ überhaupt verwenden konnte. Sie sind mir Anstoß zu einer kritischen Selbstbefragung. Ich kenne die Versuchung, „um des Friedens willen“ oder aus Wehleidigkeit den einfacheren Weg zu wählen. Manchmal steht dahinter auch Feigheit, Unentschlossenheit oder Bequemlichkeit, gelegentlich auch die Angst, Ansehen oder Wohlgefallen aufs Spiel zu setzen. Ganz gewiss gibt es somit in der anspruchsvollen Schule Jesu – vermutlich nicht nur für mich – noch einiges zu lernen.

Die fremde Gestalt

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