Читать книгу Die fremde Gestalt - Michael Lehofer - Страница 8
4 Der typische Absolutheitsanspruch
ОглавлениеJoh 8,47-59
Jesus sprach: Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid. Da antworteten ihm die Juden: Sagen wir nicht mit Recht: Du bist ein Samariter und von einem Dämon besessen? Jesus erwiderte: Ich bin von keinem Dämon besessen, sondern ich ehre meinen Vater; ihr aber schmäht mich. Ich suche nicht meine Ehre; doch es gibt einen, der sie sucht und der richtet. Amen, amen, ich sage euch: Wenn jemand an meinem Wort festhält, wird er auf ewig den Tod nicht schauen. Da sagten die Juden zu ihm: Jetzt wissen wir, dass du von einem Dämon besessen bist. Abraham und die Propheten sind gestorben, du aber sagst: Wenn jemand an meinem Wort festhält, wird er auf ewig den Tod nicht erleiden. Bist du etwa größer als unser Vater Abraham? Er ist gestorben und die Propheten sind gestorben. Für wen gibst du dich aus?
HG: Manchmal stolpert man in eine Auseinandersetzung hinein. Das ist beim vorliegenden Text der Fall. Es ist der Ausschnitt aus einem langen Streitgespräch Jesu mit den Pharisäern und Schriftgelehrten, die seinen Absolutheitsanspruch infrage stellen. Für sie war klar: Entweder ist Jesus ein Verrückter, der die Tragweite seiner Ansprüche nicht einordnen kann, oder er ist ein gefährlicher Verführer der Massen. Eigentlich dämonisch. Es kann doch nicht sein, dass sich jemand hinstellt und behauptet, aus Gott zu sein – und darüber hinaus noch allen, die an seinem Wort festhalten, ewiges Leben verheißt. Das ist doch insgesamt eine maßlose und gefährliche Übertreibung! Jesus hat mehrfach seine Lehrautorität über jene des Gesetzes gestellt. Die von ihm gebrauchte Formel lautete: „Im Gesetz steht, ich aber sage euch.“ Das ist Lästerung pur! Wer darf denn so etwas behaupten?
ML: Wenn man Künstler näher kennenlernt, die man zuvor nur aus ihren Ausstellungen und Werken gekannt hat, kann es vorkommen, dass man von ihrer Persönlichkeit enttäuscht ist. Man hat ihre Kunst als „heilig“ und als besonders berührend erlebt. Der Mensch dahinter jedoch kann dieser imaginierten Größe nicht entsprechen. Er muss sich mit all dem abmühen, mit dem man auch selbst zu tun und zu kämpfen hat. Gleichermaßen werde ich als Psychiater manchmal gefragt, wenn ich über die Phänomene des Scheiterns in meinem Leben erzähle: „Wie kann Ihnen das passieren, wo Sie in Bezug auf Lebensführung und Lebenskunst doch so kompetent sind? Wie kommt es, dass Sie Ihr eigenes Leben nicht bewältigen? Können wir Ihnen dann überhaupt noch glauben, was Sie sagen, oder schicken Sie uns quasi in den Krieg?“
HG: Eine wichtige Selbstrelativierung! Als ich entdeckt habe, dass ein ehemaliger guter Bekannter von mir schwer alkoholkrank in einem Haus der Caritas in Graz wohnt, war ich sehr betroffen. Ich wusste, dass ich in einer ähnlich schwierigen Situation sein könnte, wenn ich nicht Ressourcen und Wegbegleiter gehabt hätte, die mir einen anderen Weg ermöglicht haben. Diese heilsame Erkenntnis der eigenen Schwäche und Verwundbarkeit hat mir sehr geholfen. Das tatsächlich „Verwundete“ in uns beziehungsweise das Wissen um unsere Verwundbarkeit verbindet uns mit jenen, für die wir in der Seelsorge da sind. Wir wissen, dass auch wir in den entscheidenden Momenten jemanden brauchen, der uns beisteht oder ein befreiendes Wort zusagt.
ML: Die eigene Verletzung bringt uns auf Augenhöhe, um die heilsame Begegnung zum Mitmenschen erst möglich zu machen. Wenn ich in therapeutischen Situationen von Patienten eine mir geltende Bewunderung merke, flechte ich nicht selten wie zufällig eine Geschichte aus meinem Leben ein, in der ich versagt habe. Damit ist meist die Augenhöhe wiederhergestellt und die therapeutische Begegnung erneut möglich. Und was die Künstler anbelangt, bin ich zu folgendem Verständnis gekommen: Es gibt einfach Menschen, die mehr aus sich herausholen, als in ihnen drinnen ist. Sie haben die Fähigkeit, für etwas durchlässig zu werden, was größer und weiter ist als sie selbst. Das repräsentiert ihr Künstlersein. Und das Gleiche gilt wohl auch für andere Berufsgruppen und menschliche Situationen. Gleichermaßen erklärt Jesus, dass nicht er selbst hier spricht, sondern dass er durchlässig für das ist, was ihm sein Vater aufgetragen hat.
HG: Jesus trägt eine geheimnisvolle Polarität in sich. Auf der einen Seite zeigt er eine Menschlichkeit, die es in dieser Intensität kein zweites Mal gibt – höchste Aufmerksamkeit und Empathie, Nähe und Berührbarkeit, Verwundbarkeit und Feindesliebe. Auf der anderen Seite absolute Souveränität, Größe und Weite, Widerstandskraft für eine neue Gerechtigkeit und einen Anspruch auf göttliche Autorität. Erst später hat man diese Polarität auf die theologische Formel gebracht: Ganz Mensch und ganz Gott. Natürlich ist auch das nur ein verlegener Hilfsausdruck für das höchst Lebendige, das in der Person des Jesus von Nazareth zum Vorschein kam. Jesus verkörpert einen Anspruch, der zum Anruf wird. Man kann mit dem eigenen Leben darauf antworten oder sich verweigern – wie es in diesem aufgeregten Streitfall geschildert wird.
ML: Der Mensch Jesus ist für jene, die ihn als Gott sehen, ein Problem. Für andere wiederum, die ihn als besonderen Menschen der Menschheitsgeschichte sehen, ist das Göttliche in ihm eine Provokation. Wir tun uns leider in unserer abendländischen Tradition so schwer, etwas dialektisch zu betrachten. Wir wollen alles auf den Punkt bringen. Die Aussage „ganz Mensch und ganz Gott“, die für Jesus gilt, impliziert auch, dass er ganz Mensch ist. Das besonders Zauberhafte an der Person Jesu ist für mich, dass er uns so unfassbar nahegekommen ist. Jesus „menschelt“ im Vollsinn des Wortes: Das ist in Wahrheit die unterschätzte Frohe Botschaft! In vielen Bibelstellen klingt die menschliche Begrenztheit Jesu durch: in der Notwendigkeit, dass er selbst Neues lernen musste; in seiner Bereitschaft, sich aus dem Konzept bringen zu lassen; in den Momenten, in denen er Zorn, Wut und extreme Freude gezeigt hat; und nicht zuletzt in seinen Tränen. Die menschliche Begrenztheit ist im affektiv bewegten Jesus deutlich zu sehen. Diese Begrenztheit ist nicht enttäuschend, sondern ganz im Gegenteil ermutigend. Für einige bestimmt auch unbequem.
HG: Was auch in die vier Evangelien aufgenommen und nicht retuschiert wurde. Sehr wohl im Gegensatz zu den apokryphen Evangelien, die ein durch und durch glattes, fast kitschiges Bild von Jesus zeichnen. So soll zum Beispiel gemäß dem Thomasevangelium Jesus als Fünfjähriger am Sabbat zwölf Spatzen aus Lehm geformt und sie zum Leben erweckt haben. Übrigens findet sich diese Passage auch im Koran in der fünften Sure. Offensichtlich war dem Verfasser das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas bekannt. All diese frommen Übertreibungen, die das Einfache, aber auch Schroffe und Unbequeme in der Gestalt Jesu nicht wahrhaben wollen, waren ausschlaggebend, diese Schriften nicht in die Sammlung des Neuen Testaments aufzunehmen. Man konnte in ihnen nicht das inspirierte Wort Gottes erkennen.
ML: Gerade das Menschliche ist also, wenn ich das richtig verstehe, ein Zeichen der Offenbarung. Das macht eben das Besondere der christlichen Religion aus. Dieses unfassbare, unretuschierte, uneingeschränkte Nähe-Angebot Gottes an uns. Das wird in diesem Text deutlich. Die zutiefst menschliche Figur Jesus hat deswegen keinen überheblichen Absolutheitsanspruch. Er kann den Absolutheitsanspruch ohne Überheblichkeit anmelden, weil er nicht versucht, sich zu einem Übermenschen zu stilisieren. Er ist Gott, aber kein Übermensch.
HG: Auch nicht Halbgott, sondern wie in der schon erwähnten christologischen Formel ausgedrückt, beides zu hundert Prozent – ganz Mensch, ganz Gott. Eine paradox anmutende doppelte Ganzheit. Das ist das Urdogma der christlichen Religion, ihr eigenartiger Absolutheitsanspruch, wenn man so will. Für mich war das immer schon faszinierend, weil in der Person Jesu eine innere Brechung der unterschiedlichsten Erwartungen, Vorstellungen und Projektionen zum Vorschein kommt. Durch das Zeugnis eines sehr leidenschaftlichen und weltoffenen Priesters konnte ich schon als junger Mensch die Person Jesu in einer 3D-Plastizität kennenlernen. Gerade das Nicht-Glatte und Nicht-Konforme hat mich an der Person Jesu fasziniert. Jesus entzieht sich jedenfalls den vielen menschlichen Zuschreibungen. Er ist nicht der Superheld und nicht der Messias im politischen Sinn, der scheinbar alles regeln und lösen kann. Im Ölberg von Getsemani weint er aus purer Angst. „Für wen gibst du dich aus?“ Ganz genervt fragen die Kritiker ihren Landsmann, den Rabbi aus Galiläa, nach seiner Identität. Bequemer wäre es für sie und für uns gewesen, wenn sich Jesus als ein religiös begabter Lehrer neben vielen anderen ausgegeben hätte. Aber sein Anspruch weist auf das Ganze. Seine Selbstaussage provoziert eine Entscheidung – für ihn oder gegen ihn. Er ist einzigartig und formuliert selbstbewusst diese Einzigartigkeit. Das ist das Spannende.
ML: Es ist eine Absolutheit, die sich als totale Radikalität begreift, aber nicht als Absolutheit, die sich wünscht, andere Wirklichkeiten zu bekriegen.
HG: Für diesen Satz sollte man dir den theologischen Nobelpreis verleihen. Offen bleibt, ob und inwiefern Religion immer einen Absolutheitsanspruch in sich tragen muss – auch wenn es nicht um einen kindischen Wettbewerb gehen darf, wessen Religion besser, richtiger oder erfolgreicher ist. Gemäß einem aufgeklärten Religionsverständnis wäre es natürlich angenehmer, wenn sich religiöse Überzeugungen selbst relativieren und harmonisch in ein breites spirituelles Marktangebot einfügen würden. Lessings „Nathan der Weise“ wird dafür meist als das grundlegende Toleranzdokument der Aufklärung genannt. Auch diesbezüglich ist Jesus widerständiger und unbequemer, als wir meist annehmen. Er ist unverschämt selbstbewusst und demütig zugleich.