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II.

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Wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, verknüpfe ich den größten Teil dieses Zeitraums mit der Wohnsiedlung in Widzew. Sie war mein Mikrokosmos, in dem sich das Leben abspielte und man die täglichen Abläufe nicht in Frage stellte. Die sich wiederholenden Vorgänge ergaben eine Konstanz, die ein Kind für sein Wohlbefinden braucht. Im Herbst verbrachte ich die Freizeit auf dem Spielplatz mit dem schwarzen Schotter, im Winter verabredete ich mich morgens mit meinen Klassenkameraden in der Schule und traf sie nachmittags bei ihnen oder bei mir zu Hause.

Ab dem siebten Lebensjahr besuchte ich die Volksschule Nummer 5, die in den späten sechziger Jahren erbaut und nach einem linientreuen Polen benannt worden war. Seinen Namen weiß ich nicht mehr, er wird in die damalige Ideologie der Volksrepublik gepasst haben. Es ist eigenartig, welche Probleme ein Kind bewegen und woran man sich auch über die zeitliche Distanz hinweg zu erinnern vermag. Gut möglich, dass mir ein banales Detail wie die mit knallgelber Ölfarbe gestrichenen Wände der Schule gerade deshalb noch heute vor Augen sind, weil sie mit meinem Ästhetikbewusstsein nicht im Einklang stehen oder weil sich die helle Lichtspiegelung markant von der restlichen Umgebung unterschied. Kleine Nichtigkeiten, die aber nachhaltig wirken.

Die Schule lag nicht weit von der Wohnsiedlung entfernt, an einer vielbefahrenen Hauptverkehrsader der Stadt. Zu Fuß benötigte ich keine fünf Minuten, um von zu Hause die Klassenräume zu erreichen.

Gemessen an der Schülerzahl war die Schule nicht besonders groß. Wenn man allerdings das Ego der Direktorin als Maßstab nimmt, dürfte sie die größte in Lodz gewesen sein. Ihr lag so sehr am Herzen, uns gut auszubilden und eine Wissensbasis für den weiteren Lebensweg mitzugeben, dass die Erinnerung an ihren mahnend ausgestreckten Zeigefinger vermutlich bis heute bei jedem ehemaligen Schüler der Volksschule zu Schüttelfrost führt.

Jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn stellte sich in abwechselnder Reihenfolge einer der Lehrer vor die Eingangshalle der Schule und überprüfte, ob wir unsere Schulpantoffeln mitgebracht hatten. Um den Schulboden nicht unnötig zu verschmutzen, war es Pflicht, extra Schuhe für die Schule mitzubringen. Hatten wir sie mit, durften wir zu den Umkleideräumlichkeiten in den Keller gehen und unsere Alltagskleidung gegen die dunkelblaue Schuluniform und die Schulschuhe tauschen. Stellte der Pädagoge mit seinem kritischen Blick hingegen fest, dass sich das mitgebrachte Schuhwerk nicht für den Boden der Anstalt eignete, wurde man wieder nach Hause geschickt, um mit einem anderen Paar einen Folgeversuch zu starten.

Ich persönlich war ein Kandidat, der seine Schulpantoffeln in regelmäßigen Abständen daheim liegen ließ und nach dem missglückten Versuch, sich an einer Aufsichtsperson vorbeizuschmuggeln, grundsätzlich eine Extrarunde drehen musste. Dadurch verpasste ich regelmäßig den Morgenappell in der Schulaula, was mich nicht weiter tragisch stimmte und sich auch auf mein späteres Leben nicht negativ auswirken sollte. Selbst damals hielt sich die Trauer in Grenzen, denn trotz eines verpassten Montagsappells verblieben immer noch vier Wochentage, an denen ich die Nationalhymne mitsingen konnte.

Der Schulalltag selbst wird sich nicht großartig vom Unterricht in anderen europäischen Staaten unterschieden haben. Ohne besondere Anstrengung durchlief man die einzelnen Klassen und vertraute dem Lehrer, der die Gespräche mit den Banknachbarn ignorierte. Und ebenso wie in jedem anderen Land fieberten die Schulkinder dem Licht am Ende des Tunnels entgegen und zählten die Tage an allen Fingern doppelt und dreifach ab, bis der ersehnte Zeitpunkt kam: die Schulferien.

Die Sommerferien verbrachte ich bei meinen Großeltern. Sie wohnten weit von Lodz entfernt in einer kleineren Ortschaft auf dem Lande. Immerhin in einer Kleinstadt, aber für uns Lodzer war alles, was außerhalb der Stadtgrenze lag, schlicht Dorf und Land. Wir setzten die Menschen außerhalb der Stadt mit Landwirten gleich, deren Kühe jeden Tag aufs Neue gemolken werden mussten. Das allgemeine Verständnis beschränkte sich somit auf die logische Vermutung, dass diese »Bauern« weder Elektrizität oder fließendes Wasser hatten. Kleinere Städte oder gar Ortschaften konnten wir uns in unserer kindlichen Naivität nicht vorstellen: Wenn man nicht aus Lodz kam, kam man vom Dorf. Das gilt im Übrigen für die Bewohner von Warschau bis heute.

Jedenfalls war die weite Entfernung bis zum Wohnort meiner Großeltern ein Problem, denn ein Besuch kam nur in Frage, wenn die Fahrzeit von einem knappen Tag sich auch für einen entsprechend langen Aufenthalt dort lohnte. Dementsprechend sah ich meine Oma und meinen Opa verhältnismäßig selten, durchschnittlich zweimal im Jahr. Und wenn wir uns endlich sahen, dann glücklicherweise über einen längeren Zeitraum hinweg.

Meine Großeltern waren fabelhaft und in meinen Erinnerungen sind sie es bis heute geblieben. Es waren Großeltern, die sich alle Eltern für ihr Kind wünschen und auch die Kinder für sich selbst, da sie einem keinen Wunsch verweigern können. Natürlich haben sie den Bogen nicht überspannt und mich oft zurechtgewiesen, wenn mein Verhalten nicht ihren Vorstellungen entsprach. Sie taten es aber auf eine passive Weise und vertrauten auf den gesunden Menschenverstand ihres Enkels. Bis auf wenige, kaum erwähnenswerte Ausnahmen brauchten sie aber auch nicht zu befürchten, von mir an die Grenzen ihrer Belastbarkeit herangeführt zu werden.

Immer Anfang August erlaubten mir meine Eltern, einen Teil der Sommerferien bei den Großeltern zu verbringen, und fuhren mich zu ihnen hinaus aufs Land. Es ist kaum anzunehmen, dass meine Eltern dies schweren Herzens taten und nicht loslassen wollten. Sie freuten sich und profitierten davon, indem sie ein paar Wochen lang Ruhe in der städtischen Einraumwohnung genießen konnten, ohne sich dabei um mich sorgen zu müssen.

Mir persönlich gefiel der Abstand zu den Eltern ebenso. Wo sonst hätte ich mein Wissen über die Anatomie der Frösche und Blindschleichen tiefgründiger anwenden und ausbauen können als im Garten meiner Großeltern? In einem Garten, der über alle sonderbaren Tierarten der Region verfügte, man musste nur genügend tiefe Löcher in den Rasen buddeln. Es gab Tage, an denen man Regenwürmer ausgrub, die länger, fetter und glitschiger waren als alle in Lodz. Und zog man sie in die Länge, deckten sie durchaus einen viertel Meter auf dem Zollstock ab. Vermutlich ist mir deshalb die Angst vor Spinnen oder sonstigen behaarten Insekten, die meine städtischen Spielgenossen an den Tag legten, bis heute fremd geblieben.

Wenn ich einen durchschnittlichen Tagesablauf der Sommerferien vor meinem geistigen Auge Revue passieren lasse, stelle ich fest, dass er in krassem Gegensatz zum Schulalltag stand. In Lodz wurde ich in aller Herrgottsfrühe von meiner Mutter geweckt, um meinen Pflichten nachzugehen. Oma Marie hingegen ließ mich in der Ferienzeit lange ausschlafen. So lange, bis ich nicht mehr konnte. Großvater Lucian war zum Zeitpunkt meines Aufwachens schon längst mit dem Fahrrad ins Büro geradelt.

Nach dem Aufstehen nahm sich Oma dann die Zeit, mich zu fragen, was ich in der letzten Nacht geträumt hätte. Wir frühstückten gemeinsam, anschließend legte sie mir einen Riegel Vollmilchschokolade auf den Tisch und erkundigte sich, was ich gerne zu Mittag essen würde. Dann verabschiedete sie sich von mir, um für wenige Stunden zur Arbeit zu gehen, und verließ das Haus in Richtung Hort. Sie war Krippenleiterin und froh, ein eingespieltes Team zu haben und sich auf ihre Mädels verlassen zu können.

Bis zur Mittagszeit war ich auf mich gestellt und durfte mit meiner Freizeit anstellen, wozu ich Lust hatte. Kurz nach zwölf Uhr hörte ich ihren Schlüsselbund an der Außentür klirren. Oft war sie dann mit zwei Plastiktüten beladen, in denen sie ihre Einkäufe trug. Sobald sie ihren Mantel an der Garderobe aufgehängt hatte, schlug sie mir vor, ihr beim Zubereiten des Mittagessens zu helfen. In dieser Zeit unterhielten wir uns ausführlich und sie erzählte mir die spannendsten Geschichten.

Wie sie den Haushalt so nebenher geführt hat, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben, immerhin war sie berufstätig. Bei meinem Opa war die Sache klar: Er war Projektleiter in einer verstaatlichten Firma, Organisation oder irgendeiner Genossenschaft und arbeitete von morgens bis zum späten Abend, manchmal bis in die Nacht hinein. Falls er im Büro nicht viel zu tun hatte, schaute er über Mittag zum Essen vorbei, aber das hatte Seltenheitswert.

Die Großeltern besaßen die Fähigkeit, mich mit ihren Erzählungen in Bann zu ziehen. Unsere Unterhaltungen fesselten mich jeden Tag aufs Neue, wobei sie mich zugleich bildeten und erzogen. Der Respekt gegenüber meinen Großeltern, der zweifelsohne ein anderer war als der gegenüber meinen Eltern, ermöglichte es ihnen, meinen jungen Charakter zu formen. Ich hörte ihnen aufmerksam zu, um kein Detail zu verpassen, und fragte nach dem richtigen Vorgehen in bestimmten Situationen. Sie ihrerseits erörterten das Für und Wider und erlaubten mir, kontroverse Ansichten zu äußern. Sie waren stets offen und ehrlich und erklärten mir die Welt. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar: für das vermittelte Wissen, die Fähigkeiten und die Werte.

Eines Tages fragte mich Oma, was ich später, wenn ich erwachsen wäre, beruflich einmal machen möchte. Über die Antwort staunte sie nicht schlecht und ich meinerseits verstand überhaupt nicht, weshalb sie plötzlich Tränen in den Augen hatte. Anstatt mich auszulachen, bewahrte sie trotzdem die Contenance und setzte sich mit den von mir geäußerten Vorteilen des gewünschten Berufs auseinander. Für einen Jungen dieses Alters ist es nun mal das Größte, sich bei hoher Geschwindigkeit aus dem Wagen hinauszulehnen und auf diese Weise seinen Mut unter Beweis zu stellen.

Sie sah mich mit einem ungläubigen Blick an und meinte mit heiterer Stimme: »Erzähl das Opa und besprich mit ihm die Vorteile. Und frag ihn zugleich, welche anderen Berufe zu dir passen würden.« Dann fuhr sie mit ihrer Hand durch meine Haare und gab mir damit ihre Freude letzten Endes eindeutig zu verstehen.

Ach ja, meine Antwort auf ihre Frage lautete: »Müllmann«.

Der perfekte Mann für mich

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