Читать книгу Der perfekte Mann für mich - Michael M. Zagorowski - Страница 6
IV.
ОглавлениеEin neues Schuljahr hatte angefangen und der Alltag kehrte in die Bildungsanstalten der Volksrepublik Polen ein. Mit der Genauigkeit eines schweizerischen Uhrwerks fanden morgens die Schulappelle mit den üblichen Parolen statt, gegen zwei Uhr nachmittags wurde man nach Hause entlassen und versuchte, sich auf irgendeine sinnvolle Art zu beschäftigen, bis ein Elternteil eintraf.
Eines Tages erledigte ich die Hausaufgaben und erschrak beinahe, als meine Mutter in die Einraumwohnung stürmte. Sie tat es mit einer Vehemenz, die mich glauben ließ, der dritte Weltkrieg sei ausgebrochen und sie müsse unser gesamtes Hab und Gut vor der einmarschierenden Armee retten.
Ihren Mantel und ihre Handtasche schleuderte sie auf das Sofa und holte sowohl für mich als auch für sich selbst eine warme Jacke aus dem Kleiderschrank. Meine warf sie mir zu und sprach mit lauter Stimme: »Zieh sie an, wir müssen sofort zur Post, ein Telegramm aufgeben! Drüben im Einkaufszentrum ist gerade die Hölle los!«
Meine Mutter war außer Atem, da sie schnellstmöglich in den fünften Stock gerannt war, wo sich unsere Wohnung befand. Die Ausnahmesituation musste nicht betont werden, das wurde mir sofort deutlich. So befolgte ich, ohne eine Frage zu stellen, ihre Anweisungen, versuchte noch die Schuhe anzuziehen, schaffte aber nur, den Klettverschluss des linken Schuhs herunterzuziehen. Dann rannten wir die fünf Stockwerke hinunter zur Tramhaltestelle, um die heranfahrende Straßenbahn gerade noch zu erwischen. Dass ich dabei den rechten Schuh verlor, entging meiner Mutter in der Hitze des Gefechts völlig. Erst nach einem lauten Geschrei von meiner Seite realisierte sie das Unglück und kehrte um, während ich mich auf das Trittbrett der Straßenbahn stellte und wartete, bis sie nachkommen würde. Sie holte den Turnschuh von der Fahrbahn und sprang fuchsteufelswild in die Tram. Wir setzten uns nebeneinander und sie reichte mir wortlos den Schuh. Ich mied ihren Blick und zog den Klettverschluss hoch, um hineinzuschlüpfen.
Mutter war noch lange außer Atem.
Nachdem die Tram die gewünschte Haltestelle beim Postgebäude erreicht hatte, stürmte meine Mutter auch diese Treppe hinauf und rannte auf den Telegrammschalter zu, der – wie so oft in der damaligen Zeit – nicht besetzt war. Die gute Fee am Schalter hatte ihr Tagessoll an Telegrammen vermutlich übererfüllt und entspannte sich mit ihrer Arbeitskollegin vom Schalter für Sammelmarken bei gut verdünntem Tee und harten Weizenmehlkeksen.
Mutter hüpfte von einem Bein auf das andere und gab der Postbeamtin, die abseits saß, zu verstehen, dass es pressiere. Gleichzeitig unternahm sie den taktisch sinnvollen Versuch, nicht zu arrogant zu erscheinen und das Feingefühl der Staatsangestellten nicht zu verletzen, wodurch sich die Pause erheblich verlängert hätte. Schließlich stand die Beamtin von ihrem Stuhl auf, trat sichtlich genervt dem Telegrammschalter näher und nahm die Adresse meiner Großeltern auf, an die das Schreiben gerichtet war. Nachdem sie die Empfängeradresse eingetragen hatte, senkte sie die Kugelschreibermine auf das Formularfeld Nachricht. Dann nickte sie, schaute erwartungsvoll in Mutters Gesicht und gab so zu verstehen, dass sie bereit sei. Um potenzielle Fehlerquellen zu vermeiden, diktierte meine Mutter den Text langsam und deutlich: »KOMMT SOFORT NACH LODZ! WASCHMASCHINEN ZU KAUFEN, AUCH OHNE WARTELISTEN! SOPHIE.«
Mir war der Ernst der Sache durchaus klar. Waschmaschinen waren in der polnischen Planwirtschaft keine Selbstverständlichkeit und durchaus erwähnenswert. Aber nachdem meine Mutter die einzelnen Wörter ausgesprochen hatte, veränderte sich das Gesicht der Postbeamtin wie das eines Kindes, das gerade das schönste Weihnachtsgeschenk bekommen hat. Ihren weit aufgerissenen Mund und ihre tränenden Augen werde ich nie vergessen.
Noch in derselben Nacht nahm Oma Marie das Telegramm entgegen. Ob sie auf die Neuigkeit genauso reagierte wie Mutter oder die Postangestellte, kann ich nicht beurteilen. Ich wage es aber zu bezweifeln, denn ich erlebte Oma Marie zwar als eine sehr liebevolle Person, aber ihre Gefühle beherrschte sie immer. An der Tatsache, dass sie Opa dennoch rumgekriegt hat und beide durch die folgende Nacht einer erhofften neuen Waschmaschine entgegengefahren sind, ändert das nichts. Kurz vor fünf kamen sie in Lodz an und klingelten meine Eltern aus dem Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde ich von meinem Vater für den bald beginnenden Unterricht geweckt und erfuhr von unserem Besuch. Das stimmte mich überglücklich. Zu sehen bekam ich die Großeltern morgens nicht mehr, denn sofort nach ihrer Ankunft waren sie mit meiner Mutter ins Einkaufszentrum gefahren, um sich noch vor der Geschäftsöffnung in die Schlange zu stellen. Der Grund ihrer Abwesenheit war auch mir verständlich, sodass ich gerne bereit war, auf ein Wiedersehen bis nach der Schule zu warten. Den ganzen Schultag fieberte ich der Begegnung entgegen. Die Schlussglocke entließ mich kurz nach eins aus dem Unterricht und ich rannte, so schnell ich konnte, nach Hause. Die fünf Hausetagen hinaufgestürmt und an der Wohnung angekommen, empfingen mich traurige Gesichter. Der Grund dafür brauchte nicht explizit erwähnt zu werden und war mir gleichwohl egal: Die Waschmaschinen waren bereits am Abend zuvor ausverkauft gewesen. Mit ihrem heiteren Blick und einem Ausdruck der Freude sah mich Oma Marie die Wohnung betreten. Den Schulranzen warf ich in die Ecke und lief in ihre weit geöffneten Arme. Opa kam sogleich hinzu und meinte mit leiser, bedächtiger Stimme: »Schau mal, Marie, da ist ja endlich unser Enkel.« Sie umarmten mich beide recht fest und ich versank in ihren Körpern. An meinem Hinterkopf fühlte ich ein Stechen. Kurz darauf hörte ich Mutter sagen: »Leg das Buch zur Seite, Papa, sonst hast du gleich einen Enkel mit einer Blutwunde.«
Der Druck verschwand und ich fing an, die Situation zu verstehen: Die Freude über das Wiedersehen war auf Opas Seite ebenfalls groß. Während er Oma und mich gleichzeitig umarmte, hatte er das zuvor gelesene Buch weiterhin in seiner linken Hand behalten und während der Umarmung unabsichtlich gegen mein rechtes Ohr gedrückt. Daher rührte der Schmerz. Er entschuldigte sich und legte das Buch zur Seite. Auf dessen Titelbild war das Gesicht eines Samurai zu sehen gewesen. Es beeindruckte mich, denn es entsprach nicht dem, was ich gewöhnlich sah.
Gemeinsam setzten wir uns an den Tisch. Oma holte aus ihrer Reisetasche eine in Geschenkpapier eingepackte Schachtel und reichte sie Opa hinüber, der sodann vortäuschte, sie zu öffnen. An meinem Gesichtsausdruck wird er erkannt haben, wie aufgeregt ich war, und schob das Paket vorsichtig über die Tischplatte. »Hier, damit unser Enkel auch einen Grund zur Freude hat«, sagte er mit einem Zwinkern.
Ich riss die Verpackung auf und fand darin einen batteriebetriebenen Roboter, der nach Inbetriebnahme piepsende Geräusche von sich gab. Er blinkte an allen möglichen Stellen, bewegte die Beine vor und zurück und strahlte in sämtliche Richtungen wie das goldene Gebiss von Leonid Breschnew. Damit war die Herkunft des Roboters geklärt: Es handelte sich um einen importierten Artikel aus der UdSSR. Dieser Tatsache stand ich gleichgültig gegenüber, denn ich besaß jetzt ein tolles, neues Spielzeug. Und seine ausländische Herkunft machte es eher noch wertvoller, als es ohnehin schon war.
»Aber gerne doch«, erwiderte Oma, als ich mich bei ihnen für das schöne Geschenk bedankt hatte und Opa umarmte.
»Für euch haben wir nur eine Kleinigkeit mitgebracht«, fuhr Oma fort und sah Mutter an. Aus ihrer Handtasche griff sie ihr Portemonnaie heraus, wobei sie Schwierigkeiten hatte, den klemmenden Reißverschluss zu öffnen. Mutter hatte den Eindruck, sie versuche gerade einen Schein aus ihrer Brieftasche zu holen, und unterbrach die Tätigkeit mit der Aussage: »Aber Mama! Ihr wisst doch genau, dass es an Geld nicht fehlt und wir es nicht brauchen. Wir kommen mit dem verdienten Einkommen zurecht!«
Sowohl die Großeltern als auch meine Eltern wussten zu gut, dass falscher Stolz aus dieser Aussage eine Lüge machte und wie weit diese von der Realität entfernt war. Dem Besuch war die große Pfandflaschensammlung in der Küche nicht entgangen, die nur darauf wartete, am Monatsende, wenn das Geld zum Leben knapp wurde, gegen ein paar Groschen eingetauscht zu werden. Dafür konnte man nämlich, zumindest wenn man sich in die langen Schlangen einreihte, etwas Essbares ergattern und der eingetauschte Betrag wirkte sich nicht unerheblich auf das Haushaltsbudget aus.
Oma ließ sich von der für beide Seiten unangenehmen Situation nicht beirren. Wie erwähnt, hatte sie einen herzlichen und zugleich sehr starken Charakter. Sie suchte in ihrer Brieftasche weiter und atmete erleichtert auf, als sie einen Umschlag aus ihrer Tasche herauskramte und ihn Mutter mit den Worten überreichte: »Sophie, es ist kein Geld, es sind Lebensmittelmarken. Die könnt ihr bestimmt wunderbar gebrauchen.« Opa anblickend, fuhr sie fort: »Lucian und ich werden sie bis zum Ablaufdatum nicht mehr einlösen können und ihr habt hier in der Stadt sicher eine Gelegenheit, sie gegen etwas Wertvolleres einzutauschen. Hier gibt es genügend Menschen, die mehr Geld haben, als sie ausgeben können. Sie werden dankbar sein, euch die Marken abkaufen zu können, da sie ihr Kontingent bereits aufgebraucht haben und für Geld nichts bekommen.« Sie riss den Umschlag auf und holte zwei Lebensmittelscheine heraus. »Hier, schau dir das an! 200, 300 und 500 Gramm Fleisch, Zucker, Mehl und Reis. Und mit einem Kind unter sieben erhältst du sogar 250 Gramm Butter! Wenn ich die Marken bei uns auf dem Land eintausche, bekomme ich nur ein Substitut, billige und abgelaufene Margarine, die alt ist und stinkt. Nicht einmal Pulvermilch, die bei uns gar nicht erhältlich ist. Du dagegen bekommst hier echte Butter, weil dein Sohn keine sieben Jahre alt ist.«
Gegen diese Aussage protestierte ich energisch. Aber im Raum interessierten mein Einwurf und die Entrüstung über die Unwissenheit über mein Alter niemanden. Erst später leuchtete mir ein, weshalb es so maßlos heruntergesetzt worden war.
Mutter steckte die Marken wortlos ein. Mag sein, dass ihre Gedanken um die begrenzten Möglichkeiten kreisten, die ihr zur Verfügung standen, um sie einzutauschen.