Читать книгу Dominik Nerz - Gestürzt - Michael Ostermann - Страница 5

Оглавление

I

DIE DIAGNOSE

Die Einsicht hat sich die Strada Provinciale 27 ausgesucht. Gesäumt von Olivenbäumen schlängelt sich die einspurige, mit rauem Asphalt belegte Straße durch die Hügel der Toskana von Monte Rocchina hinab nach Monsummano Terme nordwestlich von Florenz. Hin und wieder öffnet sich der Blick auf die von der tief stehenden Sonne beschienene, weite Ebene des Arno. Eine schöne Gegend. Dass sich die Einsicht ausgerechnet diesen Flecken Erde auserkoren hat, um sich im Gehirn festzusetzen, empfindet Dominik Nerz als passend. Hier in Italien hat seine Karriere als Radprofi vor fünf Jahren vermeintlich so richtig Fahrt aufgenommen. Hier begann auch der Weg in jene Sackgasse, in der er nun schon so lange feststeckt. Jetzt, am 20. September 2016, ist das Ende der Sackgasse erreicht, geht seine Karriere zu Ende. Noch nicht offiziell, aber in seinem Kopf. »Was würde denn passieren, wenn das wirklich dein letztes Rennen wäre?« Diese Frage taucht hier auf dieser Straße in der Toskana auf. Und die Antwort gleich mit: »Das Einzige, was passieren kann, ist, dass es dir endlich wieder besser geht, dass du tatsächlich wieder ein glücklicher Mensch werden kannst.«

Die Aussicht, wieder glücklich zu sein, ohne Schmerz, ohne den Frust, ohne das Gefühl, nicht er selbst zu sein, hat etwas Befreiendes. Nerz ist gerade 27 Jahre alt geworden, eigentlich das beste Alter für einen Radprofi. Aber glücklich ist er mit seinem Leben schon lange nicht mehr. In den Jahren zuvor hat er seinen Körper fast zugrunde gerichtet. Mutwillig, bis an den Rand des Todes. Weil er bei der Tour de France unter die besten zehn im Gesamtklassement fahren sollte. Er hat trotzdem immer weitergemacht, seinen Körper geschunden, weit über die Grenze des Verträglichen hinaus. In der Saison 2015 ist er mehrmals schwer gestürzt. Seinem von einer Magersucht gezeichneten Körper gönnt er dennoch keine Pause. Er macht einfach weiter, weil sein Sport das so vorsieht und er das verinnerlicht hat in all den Jahren, in denen er seit seiner Kindheit Rennen gefahren ist. Die schweren Stürze zehren seinen abgemagerten, auf Höchstleistung getrimmten Körper noch weiter aus, bis er sich schließlich ganz verweigert. Seit Monaten schon blockiert er die Anforderungen, die an ihn gestellt werden. Nicht immer, aber immer wieder. Erst kurz bevor Dominik Nerz an diesem Nachmittag die Einsicht überkommt, dass dies sein letztes Rennen als Radprofi sein wird, hat sein Körper es wieder getan – einfach nicht mehr mitgemacht.

Der Giro della Toscana zählt nicht zu den bedeutenden Rennen im Kalender des internationalen Profiradsports. Der Rad-sport-Weltverband UCI hat die aus zwei Etappen bestehende Veranstaltung in die Kategorie 2.1 eingeordnet, die zweitniedrigste Stufe für Profirennen. Sie dient als Vorbereitung auf die Lombardei-Rundfahrt, den letzten großen Eintagesklassiker der europäischen Saison. Die erste Etappe führt über 174,7 Kilometer von Arezzo nach Montecatini Terme. Das Profil ist durchaus anspruchsvoll, aber nichts, was einem ausgewiesenen Kletterspezialisten wie Dominik Nerz Angst einjagen müsste. Kurz vor der Zielrunde ist noch ein etwas steilerer Anstieg zu bewältigen. Das Feld nimmt Tempo auf, es wird um die beste Position gekämpft. Auch Nerz hat sich vorne eingereiht. »Ich hatte immer ein gutes Renngespür«, sagt er. »Ich habe hochgeschaut, abgeschätzt, welche Straße wir nehmen und nur gehofft: ›Bitte nicht die linke, weil es da einen Berg hochgeht, den ich nicht eingeplant habe. Und so, wie die da gerade reinfahren, überlebe ich das nicht.‹ Dann ging es in den Berg rein.« Es ist noch nicht der eigentliche Anstieg, in den das Feld da hineinjagt, sondern eine kürzere, steile Rampe kurz davor, die auf dem Streckenprofil nicht verzeichnet ist. Es braucht eine gewisse Explosivität, um dort vorne mit dabei zu sein. So etwas zählt nicht zu den großen Stärken von Dominik Nerz. Er mag eher die langen, gleichmäßigen Anstiege. Laktat schießt in die Beine. Nicht nur ihm ergeht das so, auch viele der anderen Fahrer sind am Anschlag. Aber bei Nerz setzt nun Panik ein, weil er ahnt, was passieren wird, wenn er durch die Belastung in den roten Bereich vordringt. Noch sind es fast 40 Kilometer bis ins Ziel. Nerz kämpft, um nicht abgehängt zu werden. Er versucht verzweifelt, seinen Rhythmus zu finden. Es gelingt ihm nicht. Er ist zu langsam, sein Körper streikt. Die Muskeln sind dicht, alles ist Schmerz. »Als ich gesehen habe, dass ich keine Chance habe, hat mir das noch mal unglaublich viel Energie gezogen. Dann kam der Kopf dazu: ›Okay, du hast es einfach nicht drauf. Du bist einfach nicht stark genug.‹ Und dann war Ende.«

Nerz verliert den Anschluss. Alleine quält er sich den darauffolgenden Anstieg hinauf. Auf der Abfahrt ins Tal überkommt ihn die Gewissheit, dass es Zeit ist aufzuhören. »Die Vorstellung, auf diesem Niveau immer weitermachen zu müssen, jedes Rennen abgehängt zu werden, egal, was du tust. Und im Gegensatz dazu sagen zu können: ›Ich lasse das mit dem Radfahren. Ich muss es nicht mehr machen.‹ Das gab mir ein gutes Gefühl.« Es ist, als habe jemand einen Grauschleier entfernt. Auf einmal nimmt Dominik Nerz die schöne Umgebung wahr, die Landschaft, das herbstliche Licht. »Es war eine herrliche Stimmung«, erinnert er sich. »Das erste Mal seit langem habe ich wieder so eine Art Glücksgefühl verspürt.« Wenig später landet Nerz im Gruppetto, wo sich die abgehängten Fahrer zusammentun. Sein Teamkollege Shane Archbold ist auch dort. Kurz darauf stößt auch Emanuel Buchmann dazu, ein weiteres Mitglied seiner Mannschaft Bora-Argon18. Mit ihnen bestreitet Nerz seine letzten Kilometer als Radprofi. Die drei unterhalten sich, scherzen. Nerz ist gelöst, weil er beschlossen hat, die Sache hier und jetzt zu beenden. Aber er will ein würdiges Ende mit einer letzten Zielankunft. Einfach während des Rennens vom Rad zu steigen, kommt für ihn nicht in Frage. Er hält durch und erreicht das Ziel als 104. von 120 Fahrern mit mehr als elf Minuten Rückstand auf den Sieger. Doch das ist jetzt nicht mehr wichtig.

Im Teamhotel bestürmt man ihn mit besorgten Fragen. Was denn los gewesen sei? Dabei wissen ja auch die Kollegen und die Teamleitung, dass er schon seit Monaten immer wieder diese Einbrüche erlebt. Diesmal bleibt Nerz gelassen, trotz all der Fragen, die ihn sonst immer unter Druck gesetzt haben. Einen kurzen Moment des Zweifels schiebt er beiseite. Dann teilt er dem Sportlichen Leiter seines Teams mit, dass er am nächsten Tag nicht wieder aufs Rad steigen wird. André Schulze fordert ihn auf, sich bei der zweiten Etappe wenigstens noch einmal an den Start zu stellen, nicht aufzugeben. Doch Dominik Nerz will nicht mehr. Sein Entschluss steht jetzt fest. Er packt seine Sachen und fährt nach Hause. Der Gedanke aufzuhören schreckt ihn nicht. Nicht mehr.

Wenige Wochen zuvor ist das noch ganz anders. Schon Ende Juni hat man ihm gesagt, dass seine Zeit als Leistungssportler vorbei ist. Nerz ist damals zur Untersuchung an der Berliner Charité, um herauszufinden, warum sein Körper immer wieder aussetzt. Tage zuvor hat er bei der Dauphiné-Rundfahrt, dem wichtigsten Vorbereitungsrennen für die Tour de France, wieder so einen Einbruch erlebt. Sein Team wird ihn deshalb nicht mitnehmen nach Frankreich zum bedeutendsten Radrennen der Welt. Stattdessen sitzt Nerz im sportmedizinischen Institut der Berliner Charité gemeinsam mit seinem langjährigen Trainer Hartmut Täumler, der den Termin vermittelt hat. Seit dem frühen Morgen hat Nerz eine Untersuchung nach der anderen über sich ergehen lassen, die nun endlich Aufschluss geben sollen darüber, was nicht stimmt mit ihm. Blutwerte, Ultraschall, Lungenfunktion, Hormonspiegel, Gelenke – alles wird überprüft. Dominik Nerz hofft, dass die Ärzte etwas finden. Damit er endlich weiß, warum sein Körper so häufig nicht mehr mitspielt. Gleichzeitig fürchtet er sich vor einer Diagnose und die damit möglicherweise verbundenen Konsequenzen. Die Ärzte stellen eine erhöhte Anzahl Anti-Körper fest, die auf eine rheumatische Erkrankung hinweisen. Das könnte ein Grund sein für die schwachen Leistungen. Doch das Problem liegt viel tiefer. Was Chefarzt Prof. Dr. Bernd Wolfahrt, der leitende Olympiaarzt des Deutschen Olympischen Sportbundes, ihm am Nachmittag mitteilt, ist für einen Leistungssportler verheerend: Nerz ist chronisch überbelastet und kann deshalb nicht mehr an die Leistungsgrenze gehen. Sein Körper sei gefangen in einem dauerhaften Regenerationsprozess, den er aber niemals abschließen könne, solange er sich im Leistungssport aufhalte, erklärt Wolfahrt. »Sie werden Ihren Körper, wenn Sie das so weiter betreiben, nachhaltig schädigen. Ich rate Ihnen aufzuhören.«

Es ist das erste Mal, dass Dominik Nerz ahnt, dass es tatsächlich vorbei ist für ihn mit dem Radsport. Aber noch kann er das nicht akzeptieren. Es ist sein bisheriges Leben, das da vor der Abwicklung steht. Eine Alternative gibt es nicht. Zumindest keine, die er sich vorstellen kann. »Nein, ich packe das. Ich komme da wieder raus«, sagt die innere Stimme. Trotzig. Wie benommen sitzt er nach dem Gespräch mit Professor Wolfahrt gemeinsam mit seinem Trainer in der Kantine der Charité. Sie schweigen lange, keiner weiß, was nun zu tun ist. Doch dann fassen sie einen Plan: erst einmal Regeneration und dann Vorbereitung auf die Spanien-Rundfahrt im September. Bis dahin soll Nerz wieder fit werden. Dafür wollen sie alles tun. Schließlich geht es auch um einen neuen Vertrag, denn der Kontrakt mit Bora-Argon18 läuft zum Ende des Jahres aus. Es ist, als hätten sie Wolfahrts Worte gar nicht gehört. »Ich brauchte ein Ziel«, erinnert sich Nerz. Erst als er am Berliner Hauptbahnhof auf seinen Zug nach Hause wartet, trifft ihn die Aussage des Arztes noch einmal mit voller Wucht, dringt ins Bewusstsein ein. Und noch ein Gefühl macht sich bemerkbar, mischt sich in die Trauer: Scham. Alleine hockt Dominik Nerz auf einer Bank auf dem Bahnsteig und stellt sich eine entscheidende Frage: »Wie konntest du es so weit kommen lassen?«

Dominik Nerz - Gestürzt

Подняться наверх