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TAG 1

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NORDINSEL

Mein Gott, so viele Grüntöne, ist mein erster Gedanke. Und mein zweiter: in spätestens sechs Wochen werde ich tot sein!Sechs Wochen. Das sind 42 Tage. Deswegen zähle ich ab Tag 1.Es ist der 10. Februar 2013.

Ich sitze im Taxi und befinde mich auf dem Weg in die City von Auckland. Vor einer Stunde bin ich in Neuseeland gelandet, nicht zum ersten Mal, aber zum letzten Mal.

Vor zwanzig Jahren bin ich zum ersten Mal hier angekommen. Seitdem hat sich einiges verändert. Die Bevölkerung ist von 800.000 auf 1.400.000 angewachsen, was sich erheblich auf den Verkehr auswirkt. Damals hat mich irgendjemand scherzhaft gefragt, was ein Stau in Auckland wäre? Auf meinen fragenden Blick hat er geantwortet:

„Wenn zwei Autos hintereinander an einer Ampel stehen.“

Davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Die Autokolonnen haben fast die Dimension europäischer Großstädte erreicht. Und von der häufig beschriebenen Relaxtheit der Neuseeländer ist hier kaum etwas zu spüren. Aucklander begreifen sich in erster Linie als Städter und je weiter man nach Süden reist, umso mehr neigen die Einheimischen dazu, die Aucklander als arrogant, hektisch und wenig hilfsbereit zu beschreiben. Ob das Vorurteile sind oder nicht, kann ich als Ausländer schwer entscheiden. Vielleicht liegt, wie so oft, die Wahrheit irgendwo in der Mitte.

Zum Glück hat sich das Licht nicht verändert. Es hat noch die gleiche Intensität, als hätte jemand die Sonne etwas heller gestellt als in Mitteleuropa. Und diese Kontraste, diese vielen verschiedenen Grüntöne, die es daheim - wo ist das nur? - nicht gibt, außer vielleicht an manchen klaren Herbsttagen.

Ich blicke nach links durchs Seitenfenster - in Neuseeland gilt Linksverkehr - und sehe unzählige einstöckige Holzhäuser an mir vorbeiziehen, alle freistehend mit weißen Zäunen, Hecken oder Steinmauern, viele auf Pfählen aus der Totara-Steineibe, die nur in Neuseeland wächst. Es gibt sogar spezielle Firmen für ‚Repiling’, welche die morschen Pfähle ersetzen. Hier und da sehe ich ein Trampolin auf dem Rasen, viele Bäume und viele Büsche. Ein Takeaway - mein Magen fängt an zu knurren - dann ein Dairy, die neuseeländische Entsprechung zu unseren Tante-Emma-Läden, welche meist von Indern oder Chinesen geführt werden und an sieben Tagen die Woche geöffnet haben.

Der Taxifahrer rechts neben mir fragt mich, wo ich herkomme.

Als ob ich das weiß!

Ich sage ihm, dass ich aus Deutschland komme. Er selbst stammt von den Fidschi Inseln und lebt schon seit über zwanzig Jahren mit seiner Familie hier. Die meisten seiner Kollegen sind Inder.

Wir machen noch ein bisschen üblichen Smalltalk. Er scheint mir noch weniger Neuseeländer zu sein als ich es sein könnte.

Manukau Road steht auf einem Straßenschild. Die Wolken ziehen schnell dahin und schieben sich immer wieder vor die Sonne. Der Taxifahrer sagt mir, dass ich Glück habe. Nur bis Anfang Januar habe es viel geregnet, ein schlechter Sommerbeginn. Aber seitdem gebe es nur schöne trockene Tage, was bei den Bauern allmählich zu Problemen führe. Die Wetterprognose sei gut. Aber man weiß ja nie. Neuseeländisches Wetter steckt voller Überraschungen. Heute auf jeden Fall ist es mit 25 Grad angenehm warm.

Parnell Road. Fast am Ziel. Rechts die Holy Trinity Cathedral: weiß, ganz aus Holz und mit rotem Dach.

Nach einer Zwanzig-Kilometer-Fahrt hält das Taxi am Backpackers und der Fahrer holt mein Gepäck aus dem Kofferraum. 67 Dollar kostet die Fahrt. Ich gebe ihm siebzig.

„Stimmt so“, sage ich.

Es ist 18:00 Uhr.

Ich habe 35 Stunden Reise hinter mir, davon 23 Stunden reine Flugzeit und zwei Zwischenlandungen, eine in Dubai und eine in Brisbane.

Vor mir sehe ich eine ehemals schöne dreistöckige Holzvilla mit spitzem Dach. Zur Linken auf dem Rasen steht ein leeres großes Meditationszelt und weiter hinten ein paar Zelte und alte Mietwohnwagen. Ich fühle den Jetlag, der Horizont scheint sich im Zeitlupentempo wie bei Dünung auf dem Meer zu bewegen.

Der Mann im Office zu meiner Rechten begrüßt mich freundlich mit ein paar Standardfloskeln. Er dürfte um die fünfzig sein und hat graues gelocktes Haar. Wir wickeln das Geschäftliche ab, ich bezahle für drei Nächte, erfahre kurz, wo sich was befindet und bekomme kurz die Hausordnung erklärt.

„Vielen Dank“, sage ich.

„You’re welcome“, antwortet er.

Als ich diese englische Redewendung vor zwanzig Jahren bei meinem ersten Aufenthalt die ersten Male hörte, glaubte ich zuerst wirklich, dass mich alle Neuseeländer willkommen heißen würden, aber ‚you’re welcome’ bedeutet ‚gern geschehen’ oder ‚keine Ursache’. Ich will damit nicht sagen, dass ich mich nie willkommen gefühlt habe. Nein! Ganz im Gegenteil. Die Freundlichkeit der Einheimischen ist in der Regel nicht gespielt, außer vielleicht dort, wo es viele Touristen gibt, wie zum Beispiel in einem Hotel oder Backpackers, aber wo ist das nicht so auf der Welt? Sucht man nach einen Ort in Neuseeland, wo über Land und Leute vielleicht am wenigsten zu erfahren ist, dann ist man in einem Backpackers an der richtigen Adresse. Die Chancen, hier einem Neuseeländer zu begegnen, tendieren gegen null.

An den Tischen auf der Terrasse sitzen circa ein Dutzend junge Leute. Mit meinen fünfzig Jahren dürfte ich ungefähr doppelt so alt sein wie der Durchschnitt. Ich höre Deutsch, Französisch, Chinesisch? Japanisch?

Ich gehe direkt in mein Zimmer im Erdgeschoss, welches eines der wenigen Einzelzimmer ist. Es ist sauber, einfach und mit Blick nach hinten auf Wäscheleinen, einen Anbau und Hintergärten. Ich öffne meinen Rollkoffer, nehme Kulturbeutel und Handtuch heraus und wasche mir im Gemeinschaftsbad Gesicht und Hände.

Wieder zurück im Zimmer stelle ich mich vor den Spiegel, der neben der Tür hängt.

Wie kann ich mich beschreiben?, frage ich mich.

Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie ich mich sehen würde, wenn ich mich selbst auf der Straße treffen würde.

Wirkt dieser Mann sympathisch? Wirkt er auf Frauen? Oder auf Männer? Wirkt er selbstbewusst? Wirkt er vertrauenswürdig? Wirkt er überhaupt?

Da ich keine einzige Antwort finde, versuche ich es mit einer möglichst sachlichen Beschreibung:

dunkles leicht lockiges halblanges Haar mit angegrauten Schläfen - dichte Augenbrauen - blaugraue Augen - Gesichtsform? Eckiges Kinn. Sonst eher rund - breiter Mund - noch alle Zähne im Original - schmale Nase - im Augenblick Dreitagebart ...

Ich trete zwei Schritte zurück.

... knapp 1.80 Meter groß - mesomorph? (Wenn ich den Ansatz von Bauch sehe, muss ich eher sagen: das war vielleicht einmal) - keine Arbeiterhände - (noch) hellhäutig vom deutschen Winter (Das heißt: ich treibe keinen Wintersport) - Jeans und rotes T-Shirt.

Das ist mein äußeres Escheinungsbild. Je länger ich mich anschaue, umso schwieriger wird es für mich, ihm meine Psyche zuzuordnen.

Mein. Mich. Meine. Was bedeuten diese Worte?, frage ich mich.

Ich wende mich wieder vom Spiegel ab.

In einem Takeaway in der Parnell Road besorge ich mir Fisch und Chips. Kaum etwas ist billiger, um sich satt zu essen. Leider macht es auch fett. Vielleicht ein Grund für die Übergewichtigkeit der Neuseeländer, vor allem der Maori. Allerdings scheinen Polynesier von ihrer Veranlagung her gute Futterverwerter zu sein - das Wort ‚Futterverwerter’ habe ich kürzlich irgendwo gelesen.

Das klingt diskriminierend, denke ich. Ich sollte besser sagen, dass sie relativ leicht Fett ansetzen.

Aber mal davon abgesehen ist Körperfülle durchaus eine Art Statussymbol.

Ich esse draußen an einem der Tische. Neben mir planen gerade eine dunkelhaarige Pariserin und eine blonde Norddeutsche, die sich offensichtlich hier kennengelernt haben, gemeinsam mit einem Sleepervan durchs Land zu reisen. Es sind zwei Schönheiten, jede auf ihre eigene Art. Sie werden sicher Bekanntschaften machen.

Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass sich Leute, die alleine unterwegs sind, in Auckland zusammentun, um gemeinsam Neuseeland zu bereisen. Aus diesem Grund gibt es hier einen viel regeren Kontaktaustausch an den Tischen als in den Backpackers anderer Städte.

Mir gegenüber sitzt ein junger Japaner mit Irokesenschnitt.

Wir kommen spontan ins Gespräch und reden über unsere Reisen. Er ist vorher alleine in Indien und Thailand unterwegs gewesen.

„Fällt dir etwas an mir auf?“, fragt er mich.

„Nein“, sage ich nach kurzer Überlegung.

Er breitet seine Arme aus und sagt lachend: „Ich habe keinen Fotoapparat dabei.“

Ich lache auch.

Kurz darauf holt er seine Gitarre aus dem Zimmer und spielt ein paar alte Sachen von den Doors, den Rolling Stones und den Beatles. Es beginnt zu dämmern und um die zwanzig Leute sitzen an den Tischen herum. Ich höre Englisch, Österreichisch, Schweizerdeutsch und Russisch?

Ich werde müde, gehe in mein Zimmer, hole dort meinen Laptop aus dem Koffer und tippe die Ereignisse dieses Tages ein. Ich überlege kurz, ob ich einen Blog erstellen soll.

Blödsinn, denke ich. Dann hätte ich wahrscheinlich tausende Schaulustige und selbsternannte Helfer am Hals.

Ich habe vor, in den nächsten sechs Wochen bis nach Queenstown im Süden der Südinsel zu reisen. Von dort will ich auf den 1748 Meter hohen Ben Lomond wandern, eine Tour, die zwar Kondition, aber keine bergsteigerische Erfahrung voraussetzt. Mein einziges Gepäck wird eine Flasche Schnaps sein, die ich auf dem Gipfel trinken werde. Ich werde am späten Nachmittag aufbrechen, um in der Dämmerung oben zu sein. Unten in meinem Auto in Queenstown wird man irgendwann meinen Laptop finden, auf dem ein Zettel mit einem Hinweis auf dieses Tagebuch geklebt sein wird. So wird es zu meinem Vermächtnis für die Nachwelt und ich kann vermeiden, dass mein Fall mit dem Vermerk ‚Tod unter mysteriösen Umständen’ zu den Akten gelegt wird.

Natürlich wird dann die Öffentlichkeit über die Medien erfahren, welcher Name sich hinter Michael D. verbirgt, aber ich will zumindest nicht derjenige sein, der ihn preisgegeben hat.

Je länger ich warte, umso kälter wird es auf dem Gipfel sein, zumindest rein statistisch. Letzte Nacht waren es zwei Grad unter null auf dem Ben Lomond.

Ich habe keine wirklich eindeutigen Aussagen darüber gefunden, ob der Tod durch Erfrieren schmerzhaft ist oder nicht. Der Alkohol wird den Schmerz aber sicher minimieren und betäuben. Es wird eine Reise ohne Rückfahrschein.

Und was passiert dann mit meiner Leiche? Vermutlich wird man sie nach Deutschland überführen wollen. Darauf lege ich keinen Wert. Wenn ich hiermit verfügen kann, dass dies nicht geschehen soll, dann tue ich das. Wenn nicht, ist es auch egal.

Allerdings sind dies alles Überlegungen, die am Computer entstanden sind. Vielleicht muss ich vor Ort aus irgendwelchen Gründen meine Pläne variieren. Vielleicht kommt mir auf der Reise dorthin eine ganz andere Idee, aus dem Leben zu scheiden, eine, die sich völlig spontan ergibt. Ich kann auch früher Schluss machen. Der Tag in sechs Wochen, der Tag 42, hat eigentlich nur symbolische Bedeutung, weil an diesem meine Maschine von Auckland abfliegen wird - mit einem unerwartet leeren Sitzplatz.

Es kann also durchaus sein, dass dieses Tagebuch nur wenige Seiten lang wird und dann wird es sowieso niemand lesen. Also hangle ich mich lieber von Tag zu Tag und entscheide die Dinge im Hier und Jetzt. Und letzten Endes ist da natürlich noch die Frage nach dem ,Warum?’.

Ja. Warum also?

Ich könnte sagen, dass ich unheilbar krank bin und in einigen Monaten unter schrecklichen Qualen sterben werde. Aber so ist es nicht.

Ich könnte auch sagen, dass ich aus enttäuschter Liebe aus dem Leben scheiden will. Das ist das klassische Motiv. Die Literatur ist voll davon. Die Leiden des jungen Werthers war in der Schule eine meiner ‚Lieblingsbücher’. Aber ist das der Grund? Enttäuschte Liebe? Oder unerfüllte Liebe? Ein Schicksalsschlag ... ?

Oder ich könnte sagen, dass ich seit Jahren hochgradig depressiv und in psychiatrischer Behandlung bin. Das bin ich aber nicht.

Nein. Es geht vor allem darum, dass ich den Bezug zu meiner inneren und äußeren Welt verloren habe. Es geht darum, dass das Wort Heimat für mich nicht mehr existiert und all die damit verbundenen Sinnbezüge. Sogar eine Wohnung habe ich nicht mehr. Es geht darum, dass ich das Gefühl habe, in einer zunehmend materiellen Welt alles erledigt zu haben, was ich mit meinen mir zur Verfügung stehenden Fähigkeiten privat und innerhalb meiner Jobs erledigen konnte.

Viele werden jetzt vielleicht denken: ‚Ist das alles? Deswegen will der Mann sich umbringen!’

So etwas passiert tatsächlich. Tut mir leid, wenn ich kein Motiv bieten kann, mit dem man sich besser identifizieren und entsprechend mitleiden kann. Natürlich stecken hinter meinen angegebenen Gründen jede Menge Erlebnisse, die sie begreifbar machen könnten, aber es ginge zu weit, sie alle schildern zu wollen. Das wäre eine Geschichte für sich.

So kann ich einfach nur sagen:

‚Game over!’

Und warum ausgerechnet in Neuseeland?

Weil das Land am ehesten all das repräsentiert, was ich immer wieder in meinem Leben ersehnt und vermisst habe:

Das bereits erwähnte Licht und die Kontraste.

Die Zahl der hier lebenden Menschen. Es sind nicht zu viele und (bei Bedarf) nicht zu wenige. (Schon immer war ich leicht agoraphobisch.)

Die Relaxtheit und das Tempo, welches im Vergleich zu Europa einen Gang heruntergeschaltet ist.

Das gemäßigte ganzjährig milde Klima. (Nur die Winter können wegen der schlechten Isolierung der meisten Häuser unangenehm sein.)

Die Natur, vor allem die Vegetation und die Meeresküsten.

Die Outdoor-Mentalität.

Und die (zumindest noch) weniger materialistische Einstellung der Menschen.

Und warum bleibe ich dann nicht einfach hier?

Ich habe bereits erfolglos alle Möglichkeiten ausprobiert, in Neuseeland bleiben zu können. Und selbst, wenn es irgendwie gehen würde, frage ich mich, ob ich mich nach einem halben Jahrhundert deutscher Kultur hier wirklich integrieren könnte? Ich würde nur ein Fremder im ‚Paradies’ bleiben.

Ich tippe die letzten Zeilen in meinen Laptop ein und werde gleich schlafen gehen.

AM ENDE

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