Читать книгу AM ENDE - Michael Pain D. - Страница 6
TAG 3
ОглавлениеIch sitze bereits um 8:00 Uhr beim Frühstück und überlege, was ich mit diesem letzten Tag in Auckland anfangen soll. Nur ein schwedisches Paar hockt am Nebentisch. Einige liegen wahrscheinlich noch im Bett, ein paar Leute sehe ich in der Küche.
Rudi kommt mit einem Becher Kaffee und einem Teller mit Toast, Marmelade und Schinken auf mich zu und fragt, ob er sich setzen darf. Diesmal spüre ich keinen Widerstand und sage:
„Sicher.“
Rudi setzt sich, schaut kurz ins Leere und blickt mich dann an.
„Mein letzter Tag“, seufzt er. „Wie schnell fünf Wochen vorbeigehen können. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich heute noch möglichst viel sehen muss.“
„Das kenne ich. Aber wie heißt es so schön. Weniger ist oft mehr. Sonst artet es in Stress aus.“
„Ja, ich weiß, aber das ist leicht gesagt. Ich habe heute noch meinen Mietwagen.“
„Ein großer Ausflug in die Natur lohnt da kaum noch. Auckland ist viel zu weiträumig.“
„Hast du eine Idee für eine kleine Tour? Was zum Relaxen.“
„Vielleicht Devonport.“
„Devonport?“
„Über die große Brücke beim Hafen, die ins Nordland führt. Es ist eine ruhige etwas bessere Wohngegend mit einem kleinen Hügel, von dem man einen guten Ausblick hat.“
„Du kennst dich anscheinend ganz gut aus?“
„Ja, das schon. Ich war vor zwanzig Jahren zum ersten Mal hier. Seitdem alles in allem fast ein Jahr. Ich glaube, ich war mehr oder weniger überall. Im Detail gibt es natürlich noch jede Menge zu sehen, aber diesmal will ich es etwas gemächlicher angehen.“
„Ja, das verstehe ich. Wenn du Zeit und Lust hast, kannst du mich gerne nach Devonport begleiten.“
Ich fühle kaum noch Widerstand gegen ihn.
„Ja, okay. Ich habe heute nichts Konkretes vor.“
Nach dem Frühstück brechen wir mit seinem Nissan Sunny auf. Wir haben unser Programm erweitert und fahren zuerst auf dem Tamaki Drive zu Kelly Tarltons Sea Life Aquarium. Am eindrucksvollsten ist der Gang auf einem langsamen Transportband durch einen durchsichtigen Tunnel, in dem man Haie und Rochen, durch die Lichtbrechung ein Drittel kleiner als normal, über sich hinwegschwimmen sehen kann. Doch das ist kein Ersatz für all das, was Neuseeland ‚live’ zu bieten hat.
Später hält Rudi beim Hafen in der Quay Street im Parkverbot.
„Macht nichts“, sagt er“, ich bin eh morgen fort.“
Wir schlendern um die Hafenbecken herum, bestaunen ein großes Kreuzfahrtschiff und gehen dann in ein Cafe in der Queen Street. Anschließend stoppen wir beim Westhaven, einem der größten Yachthäfen der südlichen Hemisphäre. Dann überqueren wir die achtspurige mehr als einen Kilometer lange Harbour Bridge und biegen rechts ab Richtung Devonport. In der Kerr Street biegen wir zum Mount Victoria Reserve, einem erloschenen Vulkan, ab, fahren hoch und parken.
Mit nur 86 Metern ist der Begriff ‚Mount’ etwas übertrieben.
Nach einem kurzen Spaziergang setzen wir uns aufs Gras und genießen den Ausblick. Vor uns liegt die Skyline Aucklands, links die Harbour Bridge und hinter uns Rangitoto Islands im Hauraki Golf. Und zu unseren Füßen breiten sich die meist freistehenden Häuser von Devonport aus. Hier und da ist die Grünfläche eines Parks zu sehen.
Rudi schaut sehnsüchtig in die Ferne.
„Ein letzter Blick.“
„Das klingt so ultimativ. Du kannst durchaus wiederkommen.“
„Ja, könnte ich. In Frankfurt hält mich nicht viel.“
„Keine Familie oder so?“
„Mit meiner Familie habe ich keinen Kontakt. Und meine Freundin hat mich vor einem Jahr verlassen.“
„Wegen ... einem anderen Mann?“
„Nein.“ Rudi muss abrupt lachen. „Wegen einer ... Frau.“
Einen Augenblick bin ich irritiert.
„Dann seid ihr wahrscheinlich nicht lange zusammen gewesen.“
„Immerhin knapp zehn Jahre.“
„Das heißt, sie hat nach zehn Jahren erst gemerkt, dass sie lesbisch ist?“
„Nein, nein. Sie ist bi. So ist das. Aber damals war eh alles recht chaotisch. Meine Narben stammen von Schlägereien. Ich hatte mal eine echt gewalttätige Phase. Viel zu viel Alkohol, übles Umfeld, eine richtige Scheiße war das.“
„Und was war da mit deiner Freundin.“
„Keine Sorge, die hab ich nicht geschlagen. Sie hat mit zum Umfeld gehört. Eigentlich habe ich sogar gewusst, wie sie gepolt ist, aber das war mir damals eh scheißegal.“
„Und wie bist du aus all dem rausgekommen?“
„Irgendwie auf dem letzten Drücker. Irgendwann hieß es nur noch: entweder das war’s jetzt, oder du unternimmst sofort was. Na ja. Ich hab dann was unternommen. Ich war auf Entzug, zeitweise in der Psychiatrie, Gruppen- und Einzeltherapie, Anti-Gewalt-Training, das volle Programm. Das ist jetzt ... acht Jahre her. Seitdem bin ich trocken und hab meine Aggressionen im Griff.“
„Gut. Das schafft weiß Gott nicht jeder. Mit Psychiatrie kenne ich mich auch ein bisschen aus, allerdings aus der anderen Perspektive. Ich habe jahrelang mit psychisch Kranken als Kunsttherapeut gearbeitet. Vor zwei Jahren ist es meinem Chef nach kräftezehrenden Kämpfen gelungen, mich loszuwerden. Er ist diplomierter Psychologe, ein reiner Kopfmensch, empathisch nach Lehrbuch. Alles streng geregelt und hierarchisch. Und zusätzlich noch Anthroposoph. Weißt du, was da ist?“
„Ja, so ungefähr. Das ist die Lehre von Rudolf Steiner. Hä, der hat meinen Taufnamen.“
„Anthroposophie ist so ein bisschen wie der Rolls Royce in der Esoterikszene. In Dornach bei Basel haben die einen regelrechten Tempel, das Goetheanum. Ein riesiger Betonklotz. Ich kann da drinnen kaum atmen, diese Masse zerdrückt mich schier. Und diese grässliche Ästhetik ...“
„He Mann! Der Typ scheint dich immer noch schwer zu beschäftigen. Komm mal runter. Das ist Vergangenheit. Du wirkst wie aufgedreht.“
„Sorry, du hast recht. Film zurück.“
„Ja, Schnitt. Klappe, die nächste.“
Ich muss mich einen Augenblick neu sammeln und mein Blick fällt auf Rudis Fuß.
„Hat dein Hinken auch mit deiner chaotischen Zeit zu tun?“
„Nein, das ist eine ganz andere Geschichte. Ich bin viel Mountainbike gefahren. Vor ein paar Jahren hatte ich einen Sturz die Treppe runter. Das Resultat war ein komplizierter Bruch. Seitdem ist die Ferse in meinem rechten Fuß ohne Gefühl. Ich sollte möglichst nicht barfuß laufen. Wenn ich in einen Nagel trete, merke ich das nicht einmal. Ich hatte einmal eine Scherbe im Fuß. Ich weiß nicht einmal, wann ich reingetreten bin. Hinter mir gab es auf jeden Fall eine längere Blutspur.“
Rudi erzählt dies nicht, wie jemand, der klarstellen will, was für ein verdammt harter Kerl er ist, sondern mit leicht gebrochener Stimme, die Abstand zu den Geschehnissen ausdrückt, aber auch, dass der Abstand noch nicht so groß ist, wie er es gerne hätte.
„Und deine aktuelle Situation?“, frage ich.
„Keine Beziehung im Augenblick. Im Job habe ich über die Jahre wieder Fuß gefasst. Allerdings stelle ich gerade alles in Frage. Kann es das gewesen sein? Es gibt irgendwie nichts Neues. Das nennt man, glaube ich, Midlife-Crisis. Hier in Neuseeland, das war mal was anderes. Und jetzt geht es wieder zurück in den gleichen scheiß Trott.“
„Wenn du ungebunden bist, kannst du dir auch überlegen, ob du hier leben willst. Es könnte sein, dass dein Beruf auf einer Skills List steht. Wenn ja, dann hättest du durchaus Chancen.“
„Ja, vielleicht. Aber erst einmal muss ich zurück.“ Rudi denkt einen Augenblick nach. „Und was läuft bei dir, mit deiner Familie und so?“
„Meine Familie ist praktisch ausgestorben. Ich glaube, es gibt noch eine ältere Schwester, aber da habe ich null Kontakt. Und eine nicht mehr Freundin. Das habe ich gründlich versaut, oder wir beide. Wie auch immer. Eigentlich ist schon seit zwei Jahren Schluss.“
„Und uneigentlich?“
„Uneigentlich definitiv. Es gab hier und da noch Momente, in denen man, in denen ich dachte, dass vielleicht ... ich rede Schwachsinn. Es ist nichts mehr zu retten. Beziehungen sind etwas Kompliziertes.“
„Aber du bist doch Therapeut?“
„Oh ja. Aber ich sage dir eins: wenn es Menschen gibt, die nicht imstande sind, ihre privaten Probleme zu lösen, dann sind es Therapeuten. Auf dem Auge sind die meisten blind.“
„Vielleicht zu studiert, zu theoretisch, zu egozentrisch ... wie dein ehemaliger Chef?“
„Ja, so in der Richtung.“
„Themenwechsel. Wir sollten was essen gehen.“
„Gute Idee.“
Wir bewundern noch still ein paar Minuten die bereits tiefstehende Sonne, deren Bahn, für unsere Augen ungewohnt, von rechts nach links verläuft. Dann fahren wir zurück in die Parnell Road und gehen zum Japaner, um Sushi zu essen.
Zuerst tauschen wir uns über die Orte aus, die wir in Neuseeland besucht haben. Rudis zwei Favoriten auf der Nordinsel sind die Coromandel-Halbinsel mit ihren zahlreichen Buchten, die zum Teil nur über Schotterpisten zu erreichen sind, mit ihren Wanderwegen durch dichten Urwald aus Rimubäumen und Baumfarnen und der Tongariro-Nationalpark, mit seinen eindrucksvollen Vulkantouren zum Mount Ngauruhoe und Mount Ruapehu, dem mit 2672 Metern höchsten Berg der Nordinsel.
Ich erwähne einen anderen Vulkanberg weiter westlich, den 1966 Meter hohen Mount Taranaki, den er aber nicht kennt.
Auf der Südinsel hat Rudi ganz im Süden an der Nordspitze des Fjordlands den viertägigen Milford Track gemacht, eine der schönsten Wandertouren weltweit, die durch üppigen Regenwald mit den höchsten Wasserfällen Neuseelands führt.
„Hast du bei einer solchen Tour kein Problem mit deinem Bein?“, frage ich Rudi.
„Nein. Schmerzen habe ich sowieso keine. Und Wandern war schon immer mein Ding, außer natürlich in den Jahren, wo gar nichts ging. Das Schlimmste beim Milford Track sind die Sandflies, diese gierigen kleinen Blutsauger. Schau mal hier“, er zeigt mir sein rechtes Bein, „die Stelle ist immer noch etwas vereitert. Die Stiche von den Biestern jucken noch nach einer Woche.“
„Am besten ignorieren. Die Neuseeländer bemerken die fast gar nicht mehr. Als ich zum ersten Mal hier gewesen bin, habe ich genauso ausgesehen. Mittlerweile geht’s. Und die Feuchtigkeit hat dir nichts ausgemacht? Die Gegend hat immerhin um die 300 Regentage pro Jahr.“
„Nein, ich mag das. Ich mag auch englisches Wetter. Und die ganze faszinierende Vegetation dort gibt es nur dank Regen.“
„Ich wollte den Track schon mehrer Male machen, aber irgendwie hat das Timing nie gestimmt.“
„Dann hole es nach. Ich kann’s dir nur empfehlen.“
Unser Essen kommt, für Rudi vegetarisches Tempura und gekochte Sojabohnen, für mich gebackenen Oktopus und Teriyaki mit Huhn. Wir genießen und schweigen. Ich trinke mit Rudis Einverständnis ein Bier.
„Und was sind deine Pläne für die nächsten Wochen?“, fragt mich Rudi.
„Morgen fahre ich nach Gisborne und dann ... ich weiß noch nicht genau.“
„Du machst nicht den Eindruck, dass du zurück willst.“
„Ja, zurück ...“ Ich versinke in Gedanken.
„Da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen.“
„Hm ....“
„Gibt’s eine Alternative?“
„Die gibt es immer.“
„Ich meine eine realistische und befriedigende.“
„Das ist nicht unbedingt immer miteinander zu vereinbaren.“
„Kannst du das näher erklären.“
„Na ja. Wirklich befriedigend ist es weder hier noch daheim. In meiner eigenen Haut stecke ich überall. Das ist die Realität.“
„Das klingt etwas depressiv, beinahe beängstigend.“
„Ich sehe das eher als nüchterne Erkenntnis.
„Okay. Was heißt das konkret? Hast du irgendeine Dummheit vor?“
„Dummheit?“
„Dummheit. Etwas Unüberlegtes. Etwas in der Art.“
„Ich versau dir noch deinen letzten Abend“, versuche ich abzulenken.
„Ist schon okay. Ich bin hart im nehmen. Ich will dich überhaupt nicht irgendwie belehren. Ich bin nicht deine Mutter.“
„Gott sei dank.“
„Alles was du tust, ist letzten Endes deine Entscheidung.“
„Ja, ich weiß.“
„Was ich überhaupt nicht mag, ist, wenn jemand jammert und das Opfer spielt.“
„Tue ich das?“
„Nein. Na ja, vielleicht ein wenig. Ich erzähle dir mal etwas. Ich kannte mal einen Typ aus der Fremdenlegion. Der hatte noch mehr Narben als ich. Er hat mir mit voller Überzeugung und lachend erzählt, er wolle gar nicht alt werden, einfach kurz und möglichst intensiv leben, dann Abgang. Fertig. Das ist okay, finde ich. Aber was rede ich da für Zeug? Du hast mich ja heute auch schon jammern hören.“
„Ja, aber in erträglichen Ausmaßen. Der letzte Urlaubstag scheißt mich auch meist an. In einer Woche sieht für dich alles bestimmt wieder rosiger aus.“
„Hm.“
Ich will ihm von einem französischen Philosophen namens Jean Améry erzählen, der vor vielen Jahren ein Buch über den Freitod geschrieben hat. Dieser sei als absurde und paradoxe seelische Verfassung weder zu verurteilen noch zu therapieren, ein Privileg des Humanen und ein langer Prozess des sich ‚Hinneigens’. Wer glaube, seine Aufgaben erfüllt zu haben, kann ohne Reue und Seelenschmerz gehen. 1978 nahm sich Jean Améry das Leben.
Ich entscheide mich zu schweigen.
„Lassen wir das Thema. Wir wissen im Augenblick beide sowieso nicht, was morgen sein wird“, sage ich.
„Ja. Schade. Wir hätten uns vor Wochen treffen sollen. Ich wünsche dir auf jeden Fall, dass du die Entscheidungen treffen wirst, mit denen du am besten leben kannst.“
Oder sterben, denke ich.
„Danke.“, sage ich. „Noch ein Dessert?“
„Nein, ich bin satt. Ich gehe zahlen.“
Ich will meinen Geldbeutel ziehen.
„Lass stecken. Ich lade dich ein.“
„Vielen Dank.“
Rudi steht auf und geht zur Kasse vor. Wir fahren zum Backpackers zurück, wechseln noch ein paar Worte, sind aber so müde, dass wir direkt in unsere Zimmer gehen. Mit halboffenen Augen tippe ich die letzten Seiten in den Laptop ein.
Geschafft!