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Kapitel 3

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Um 8.30 Uhr läutete jemand unten an der Haustür. Lein lag noch im Bett, er hatte keine Verabredung vereinbart, nicht für die nächsten drei Tage. Er drückte auf den Sensor der Gegensprechanlage neben dem Bett.

»Hello?« Auf dem kleinen Bildschirm war eine Frau in mittleren Jahren zu sehen.

»My name is Nehlinger. Im Büro haben sie mir gesagt, dass sie eine Haushaltshilfe brauchen.«

»Ah, ja, natürlich. Bitte kommen sie hoch.«

»Nehlinger, Hermine Nehlinger«, stellte sie sich nochmals vor, als sie die Wohnung betrat.

»Freut mich, Mrs. Nellinger, mein Name ist Olerson.«

»Nehlinger«, bestand sie, indem sie die Länge der ersten Silbe betonte.

»Sorry, natürlich, Neeelinger.« Lein hatte nur seinen dünnen Morgenmantel über den Schlafanzug gezogen, ein schönes Stück aus roher Seide, mit farbenfrohen chinesischen Motiven. Karen, mit der er zuletzt in England liiert gewesen war, hatte ihm das Teil zum Geburtstag geschenkt. Es war das einzige Erinnerungsstück, das er aus dieser Beziehung behalten hatte.

Lein fühlte sich immer unwohl, wenn Fremde seine Wohnung betraten, umso mehr, wenn er nicht gesellschaftsfähig gekleidet war. Dass Frau Nehlinger ihm von Anfang an sympathisch war, änderte daran auch nichts.

»Bitte, kommen Sie weiter, ich zeige Ihnen die Wohnung. Hier gleich links sind die Küche und dann das Badezimmer, rechts gegenüber die Toilette. Weiter vorne am Ende des Flurs sehen Sie links mein Schlafzimmer, rechts liegt das Wohnzimmer, das ich auch zum Arbeiten benütze. Der letzte Raum rechter Hand, zwischen Toilette und Wohnzimmer, ist das Zimmer meines Bruders. Er schläft allerdings noch.«

»Ich wusste nicht, dass sie zu zweit sind.«

»Es war nicht klar, dass er kommen würde.«

»Kein Problem. Welche Arbeiten erwarten Sie von mir? Soll ich einkaufen gehen, oder auch kochen? Ich kann aber nicht jeden Tag kommen.«

»Einkaufen und kochen brauchen Sie keinesfalls, ich bin gewohnt, auswärts zu essen. Ich brauche jemand, der die Wohnung und meine Kleidung sauber hält.«

»Also putzen, waschen und bügeln.«

»Genau.«

»Gibt es Putzmittel und Reinigungsgeräte, Bügeleisen und so weiter?«

»Ich habe keine Ahnung, ich bin eben erst eingezogen. Möchten Sie sich ein wenig umsehen, vielleicht finden Sie etwas. Ich versuche inzwischen, einen Kaffee zu machen.«

»Gut, dann schaue ich mal.«

Lein ging in die Küche, um endlich die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Das Leuchten der roten Betriebslampe erzeugte ein wohliges Gefühl in seiner Magengegend. Er war stolz nicht vergessen zu haben, die letzten Kaffeebohnen in seinem Handgepäck mitzunehmen. Als Frau Nehlinger die Küche betrat, begann sich gerade der Kaffeegeruch zu verbreiten.

»Möchten Sie auch einen?«

»Nein, danke, ich trinke gewöhnlich keinen Kaffee. Aber ich habe alles gefunden, was ich zum Arbeiten brauche, in dem kleinen Abstellraum neben der Toilette.«

»Wunderbar. Wenn etwas fehlt, bitte kaufen Sie es einfach und setzen es auf die Rechnung.«

»Gerne. Die Rechnung bekommen Sie monatlich von der Agentur. Aber wann soll ich eigentlich kommen? Am besten hätte ich Montag-, Donnerstag- oder Freitagvormittag Zeit.«

»Zweimal pro Woche ist ausreichend. Ich schlage vor, Montag und Donnerstag, vielleicht so um neun Uhr?«

»Gut, dann komme ich Montag wieder.«

»Ich gebe Ihnen gleich einen Schlüssel mit, da ich gewöhnlich um diese Zeit nicht da sein werde. Ich arbeite tagsüber in der Universität, nur abends oder nachts zu Hause. Mit meinem Bruder ist es vielleicht ein bisschen schwieriger, er lebt sehr zurückgezogen. Wenn er so wie jetzt die Tür geschlossen hat, möchte er nicht gestört werden.«

»Soll ich dann sein Zimmer nicht sauber machen?«

»In dem Fall nicht, nur wenn die Tür offen ist, bitte.«

»Ist in Ordnung. Bis Montag dann also. Schönes Wochenende noch.«

»Ebenfalls, und danke.«

Lein war verwirrt. Es war richtig beängstigend, wie gut bisher alles geklappt hatte. Jetzt wollte er seinen ersten Kaffee in der neuen Wohnung genießen. Er machte einen kurzen Blick in die Küchenschränke, aber wie er vermutet hatte, waren sie leer. Also musste er erst seine Tassen finden, die in einem der Bücherkartons untergekommen waren. Ihm fiel ein, dass er ihn gekennzeichnet hatte. Eine von Karens Leidenschaften war das Kleben von Smileys gewesen; auf jedem Notizzettel, auf jeder Nachricht brachte sie einen dieser runden gelben Kleber an, die längst aus der Mode gekommen waren. Nur sie hatte offenbar einen unerschöpflichen Vorrat davon und verzierte damit ihre Bücher, Schreibgeräte und andere bewegliche Gegenstände. Lein waren diese grinsenden Gesichter zuwider, vor allem zu kindisch, aber er konnte nichts dagegen ausrichten.

Als er die Umzugskartons befüllt hatte, war ihm ein ganzer Stapel dieses Teenagerspielzeugs in die Hände gefallen. Zwei davon hatte er benützt, um den Verbleib seiner Kaffeetassen zu markieren. Der entsprechende Karton war schnell gefunden, die Tassen heil. Vor mehr als vierzig Stunden hatte er zum ersten Mal diese Wohnung betreten, und erst jetzt trank er seinen ersten Kaffee hier. Das war absoluter Negativrekord.

Er musste unbedingt herausfinden, ob man hier in Deutschland das Wort Croissant verstand. Das Cloudnet gab keine befriedigende Auskunft, denn das Wort Hörnchen, das ihm quasi als Übersetzung vorgeschlagen wurde, verband sich mit Bildern, die ganz und gar nicht seiner Vorstellung von einem Croissant entsprachen. Auf dem Stadtplan fand er eine Bäckerei, direkt auf dem Weg von seiner Wohnung zum Labor, dort musste er heute oder morgen Erkundigungen einziehen. Ein bis zwei Croissants zum Kaffee waren sein übliches Frühstück. Wenn er sie abends auf dem Heimweg kaufen könnte, wäre er sehr zufrieden. Für jetzt musste er sich mit dem Kaffee begnügen, er konnte ja unterwegs noch etwas zu sich nehmen. Wenn es an diesem Tag auch keine Verabredungen gab, so hatte er sich doch viel vorgenommen, was erledigt werden musste.

Eine halbe Stunde später stand er bereits geduscht und rasiert vor dem Spiegel in seinem Schlafzimmer, um sich anzukleiden. Ihm war bewusst, dass sein rechter Hüftknochen um zumindest einen Zentimeter höher saß als der linke. Ob das auf unterschiedliche Längen der Beinknochen zurückzuführen war oder nur auf schlechte Körperhaltung, hatte er noch nicht herausgefunden. Sehr wohl herausgefunden hatte er jedoch, dass dieser optische Mangel korrigiert werden konnte, indem er die Unterhose an einer Seite um eben diesen Zentimeter hinaufzog. Aus irgendeinem Grund wollte das heute nicht so recht gelingen, also kümmerte er sich zuerst um seine Socken. Damit hatte er mehr Glück, schon nach wenigen Minuten saßen sie absolut gleich hoch. Schließlich gelang auch der Sitz der Unterhose.

Erst jetzt erinnerte er sich, dass er den Wetterbericht noch nicht gelesen hatte. Lein war gewohnt, von seinem Y-Com automatisch jeden Morgen darüber informiert zu werden, und tatsächlich waren auf dem Bildschirm alle Daten ersichtlich, er musste die Nachricht überhört haben. Leider würde es nicht so warm wie am Vortag, weshalb er sich entschied, entgegen seiner anfänglichen Planung auch ein Unterhemd anzuziehen. Damit war die ganze Mühe mit der Unterhose hinfällig geworden. Immer wieder hatte er Schulkameraden oder Studienkollegen beim Umkleiden dabei beobachtet, wie sie ihr Unterhemd achtlos über die Unterhose anzogen, und er hatte nie nachvollziehen können, wie man sich so in die Öffentlichkeit begeben konnte. Nur wenn das Unterhemd straff gezogen in der Unterhose saß, würde es nicht bei jeder Bewegung nach oben rutschen und dabei das Oberhemd mit aus der Hose ziehen.

Zehn Minuten später hatte Lein seine Unterkleidung in Ordnung gebracht. Sein Zeitplan war damit zwar endgültig durcheinander gekommen, aber an einem Tag ohne fixe Termine war das zu verschmerzen. Ohne Hektik kleidete er sich fertig an und ging in den Flur zum Schuhregal. Niemand, der ihm auf der Straße in seiner lässig wirkenden Kleidung begegnete, würde annehmen, dass er geraume Zeit vor dem Spiegel zugebracht hatte. Leins Vorstellung von Ästhetik bezog sich nicht vorrangig auf äußerliche, für andere sichtbare Details; ihm ging vor allem es um die Perfektion im Hintergrund. Einzige Ausnahme waren die Schuhe, nur sie durften sein inneres Streben nach Perfektion nach außen hin repräsentieren. An diesem Tag entschied er sich für hellbraune Schnürschuhe, die er am Abend zuvor noch geputzt hatte. Nachdem auch der letzte Rest Staub abgewischt war, wollte er alles nochmals im Spiegel kontrollieren, aber im Flur war keiner vorhanden. Lein griff nach seiner Geldbörse, zog einen der vielen Notizzettel heraus und fügte das Wort SPIEGEL hinzu. Dann verließ er die Wohnung.

Sein erster Weg führte ihn ins Büro der Stadtverwaltung, er wollte so rasch wie möglich seine Fingerabdrücke in Deutschland registrieren lassen. Lein war an die damit verbundenen Vorzüge längst so gewohnt, dass er keinesfalls darauf verzichten wollte.

Die Prozedur ging erstaunlich unbürokratisch vor sich. Wie in England auch konnte Lein selbst entscheiden, welchen Finger er für die Identifizierung verwenden wollte, also blieb er seiner Gewohnheit treu und nahm den linken Mittelfinger. Er legte die Fingerkuppe auf den Scanner und wartete auf die Bestätigung des Beamten. Erst als der sagte »danke, ist okay, Sie sind fertig«, bemerkte Lein, dass er seinen Finger ein wenig nach rechts gedreht aufgelegt hatte, sodass höchstens zwei Drittel seines Abdruckes fotografiert werden konnten. Erstaunlicherweise hatte der Apparat das akzeptiert, und Lein dachte nicht, dass daraus Probleme entstehen könnten.

Zufrieden verließ er das Gebäude und setzte sich ins nächstgelegene Kaffeehaus. Da in der Vitrine nichts zu entdecken war, was einem Croissant auch nur im Entferntesten ähnelte, bestellte Lein einen Schinken-Käse-Toast zu seinem Kaffee, immerhin war es fast Mittag geworden. Er holte sein Y-Com heraus, denn mit Hilfe seines nunmehr gültigen Fingerabdrucks konnte er weitere Erledigungen online vornehmen. Die Website für die Ummeldung der SIM-Card war schnell gefunden, aber Lein erhielt laufend Fehlermeldungen. Er wollte schon aufgeben und nochmals die Stadtverwaltung aufsuchen, entschloss sich aber zu einem letzten Versuch, bei welchem er seinen Finger genauso verdreht auflegte wie er es dort gemacht hatte – und es funktionierte. Er war verwundert über die Software, die unvollständige Fingerabdrücke akzeptierte, und verwundert über sich selbst, warum er gerade diesen Finger ausgewählt hatte. Lein war Rechtshänder und hielt sein Y-Com daher in der linken Hand. Um den linken Mittelfinder zu scannen, musste er folglich den Communicator in die rechte Hand nehmen, wobei das Verdrehen des Fingers nach rechts zusätzliche Mühe verursachte. Obwohl es erst drei Tage zurück lag, konnte er sich nicht mit Sicherheit erinnern, wie er das in England gemacht hatte, oder war es doch ein Finger der rechten Hand gewesen? In Abwägung aller Möglichkeiten entschied er, nicht nochmals die Stadtverwaltung aufzusuchen und lieber die beschwerliche Prozedur zu akzeptieren. Bevor er das Kaffeehaus verließ, übermittelte er noch dem Büro der Universität wie versprochen seine genaue Adresse und schloss dann gleich einen Online-Vertrag mit der örtlichen Kabelgesellschaft ab, den er auch umgehend aktivieren konnte, da die entsprechenden Anschlüsse in der Wohnung bereits installiert waren. Somit blieb ihm nur noch, die fehlenden Fernsehgeräte zu organisieren.

Lein hätte auch die in jedem beliebigen Online-Shop bestellen können und dazu nicht einmal das Kaffeehaus verlassen müssen. Er fühlte sich aber irgendwie dem älteren Herrn verpflichtet, der ihm so rasch und kostengünstig seine Kaffeemaschine repariert hatte. Schon tags zuvor hatte er sich gewundert, wie ein solch kleines Geschäft überleben konnte. Die meisten Elektrogroßmärkte rund um die Millionenstädte waren längst vom Online-Handel verdrängt worden, aber der nette Herr im Zentrum von Tübingen stand weiter mutig hinter seinem Ladentisch. Entweder hatte er ein interessantes Geschäftsgeheimnis, oder er sah schlicht keine Notwendigkeit Geld zu verdienen. So oder so, Lein wollte die Fernsehgeräte bei ihm erstehen. Der Laden war wie zu erwarten auch um die Mittagszeit geöffnet, und schon bald waren sie handelseins geworden. Der Empfehlung des Inhabers folgend entschied sich Lein für zwei Cloudnet-Fernsehgeräte mit Iris-Steuerung. Den Kauf einer ebenfalls preisgünstigen Musikanlage lehnte er mit dem Hinweis auf seine eigenwillige Beziehung zu Musik ab, deren Details er jetzt nicht erörtern könne, die aber jedenfalls das Abspielen von Musik in seiner Wohnung nicht einschloss. Ohne die Preise in Deutschland zu kennen, hatte Lein das Gefühl, die Fernsehgeräte günstig gekauft, in jedem Fall aber moralisch richtig gehandelt zu haben.

Leider konnte der nette Herr Zustellung und Montage der Geräte erst für den nächsten Tag zusagen. Lein war fest davon ausgegangen, nicht noch einen Abend ohne Fernsehapparat verbringen zu müssen, aber er brachte es nicht übers Herz, an diesem Punkt von dem Geschäft zurücktreten. Die Lieferung wurde also für Samstagvormittag vereinbart.

Zurück auf der Straße kontrollierte Lein die Notizzettel aus seiner Geldbörse. Bis auf zwei Punkte war alles erledigt, da stand nur noch CROISSANT und SALEM (wie alle seine Notizen auch diese in Großbuchstaben). Richtig, er hatte vorgehabt, die Bäckerei aus dem Stadtplan aufzusuchen. Die war ihm aber vom Stadtzentrum aus zu weit entfernt, weshalb er das Croissant-Problem auf Montagfrüh vertagte, wenn er zur Universität gehen würde. Warum aber hatte er SALEM notiert? Salem war die Hauptstadt seines Geburtsstaates Oregon, nicht weit von Eugene, wo er und sein Bruder die ersten Lebensjahre verbracht hatten. In Portland, der größten Stadt des Landes, war Lein oft gewesen, aber kaum jemals in Salem. Was war es bloß, das er eigentlich hatte aufschreiben wollen? SPIEGEL, das war’s, Spiegel hatte er schreiben wollen, weil im Flur keiner angebracht war.

Den Notizzettel in der einen Hand, die geöffnete Geldbörse in der anderen überquerte Lein in Gedanken und ohne auf den Verkehr zu achten den Stadtgraben und betrat den Alten Botanischen Garten von der Westseite her. Er setzte sich auf die erstbeste Bank und überlegte, ob die Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, richtig gewesen war. Plötzlich kamen ihm Zweifel, ob ihn die Tätigkeit hier seinem Ziel näher bringen würde. Die Hoffnung ruhte einzig auf den Kontakten zu Brasilien und China, denn in Tübingen oder Göttingen war die maschinelle Ausstattung keinesfalls ausreichend, um seine Theorie zu beweisen. Dagegen waren die Möglichkeiten an der Diamond Light Source geradezu ideal gewesen, immerhin stand dort ein Teilchenbeschleuniger zur Verfügung. Während seiner Anstellung in Durham hatte sich Lein mehrfach vergeblich bemüht, seine Versuche in die Reihe offizieller Tests aufnehmen zu lassen. Vielleicht hätte er gar nicht erst fragen sollen.

Zehn Jahre waren bereits vergangen, seit er seine zweite und endgültige Theorie der Öffentlichkeit präsentiert hatte. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass es Widerstand geben würde, neue Denkansätze fordern das geradezu heraus. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, derart heftig von allen Seiten angegriffen zu werden. Manche sogenannte Kollegen hatten versucht, ihn regelrecht zu vernichten. Inzwischen war die Aufregung um seine Arbeit abgeebbt, aber vergessen waren die Auseinandersetzungen nicht. Lein wusste jedoch, dass seine Ideen längst bis in die hintersten Winkel aller Gehirne gedrungen waren; wie ein Virus würden sie sich im Unterbewusstsein seiner Gegner festsetzen und irgendwann die Oberhand gewinnen. Er musste nur den richtigen Moment abwarten, um dann mit einem neuen Anlauf geradewegs auf den Nobelpreis zuzusteuern.

Das jäh auftauchende Gesicht von Herrn Lehmann, Wilhelm, riss ihn aus seinen Träumen. Natürlich nur bildlich gesprochen, denn auch Lehmanns Gesicht war hier im Botanischen Garten nicht real, aber in der Fantasiewelt einer glorreichen Zukunft machte ihm allein der Gedanke an den übereifrigen Bürokraten Angst. Auch wenn er ihn noch kaum kennengelernt hatte, waren die Warnsignale nicht zu übersehen. Leins Menschenkenntnis konnte rasch und treffsicher beurteilen, und ein Pedant wie Wilhelm konnte Leins Pläne von Anfang an zum Scheitern bringen. Gern hätte er sich ihm zuliebe auf den ersten Arbeitstag vorbereitet, aber dazu wusste er noch viel zu wenig über seine Mitarbeiter und die konkreten Arbeitsbedingungen. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als flexibel auf alle Eventualitäten zu reagieren.

Als Lein sich endlich von seinen Gedanken losriss und überlegte, wie er den Rest des Nachmittags sinnvoll nützen könnte, verriet ihm ein Blick auf sein Y-Com, dass es bereits 18.20 Uhr war. Er musste also mehr als vier Stunden auf der Parkbank zugebracht haben. Nicht, dass er etwas Wichtiges versäumt hätte, alle wesentlichen Besorgungen waren erledigt, aber es beunruhigte ihn, nicht zu wissen, was er vier Stunden lang gemacht hatte, außer zwei, drei Gedankengängen nachzugehen.

Ein plötzlich einsetzendes Hungergefühl zwang Lein sich aufzuraffen. Er verließ den Park und hatte bald ein italienisches Lokal gefunden, wo er sich eine Pizza Tonno und zwei Glas Bier genehmigte. Mit Bedauern musste er feststellen, dass er seinem selbst gewählten Stammlokal bereits am dritten Tag untreu geworden war.

Als Lein nach Hause kam, saß Peer in der Küche.

»Willst du nicht ins Wohnzimmer kommen?«, fragte Lein.

»Hier ist es doch viel gemütlicher. Komm, setzt dich zu mir!«, bestand Peer, der auf der schmalen Bank unter dem Fenster Platz genommen hatte

Lein blieb demonstrativ an der Türschwelle stehen und sah an Peer vorbei zum Fenster hinaus.

»Soll ich dir ein Bett besorgen, es steht eines im Lager.«

»Keine Rede, ich komme mit meinem Schlafsack wunderbar zurecht. Außerdem werde ich dir nicht lange zur Last fallen.«

»Du fällst mir nicht zur Last.«

»Aber erfreut bist du auch nicht, mich zu sehen. Du hast gehofft, ich würde nicht kommen.«

»Vielleicht habe ich dich nicht so bald erwartet. In Durham war ich bereits fünf Jahre, als du kamst.«

»Das stimmt nicht, ich habe dich auch davor schon besucht.«

»Geblieben bist du erst nach meiner Scheidung. Woher wusstest du überhaupt, wo du mich findest?«

»Frag einen Zwillingsbruder, woher er etwas weiß!«

»Du meinst Verbindungen, die man logisch nicht erklären kann?«

»Hast du das nicht selbst in deiner ersten These formuliert?«

»Dabei hatte ich nicht an Menschen gedacht.«

»In deiner zweiten These schon.«

»Hast du die auch gelesen? – Ach richtig, es ist ja dein Beruf, alle wichtigen wissenschaftlichen Publikationen zu lesen.«

»Du überschätzt dich. Außerdem war es mein Beruf.«

»Hast du etwa aufgehört zu schreiben?«

»Ich habe den Sinn verloren.«

»Den müssen andere finden, nicht du selbst.«

Eine Weile schwiegen sie einander an, Leins Kopf war leer, er musste sich erst wieder an die Situation gewöhnen.

»Brauchst du Geld, brauchst du sonst etwas?«

»Danke, ich komme zurecht«, beruhigte ihn Peer, »ich habe mein Y-Com samt dem Code für die Kaffeemaschine, falls du ihn nicht geändert hast. Ich brauche also nur die Nummer des Pizzaservice und deinen linken Mittelfinger.«

»Ich hatte es beinahe vergessen.«

»In nur zwei Jahren?«

»Du wusstest sicher nicht, dass man sich in Deutschland erneut registrieren muss.«

»Du hast doch noch nicht ...?«

»Doch, gleich heute Vormittag.«

»Und du hast vergessen, dass nur zwei Drittel unseres Abdrucks übereinstimmen?«

»Keine Sorge, mein Unterbewusstsein war auf deiner Seite.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.«

»Wenn du meinst.«

Wieder schwiegen sie eine Weile. Lein fühlte sich unwohl in der Küche, aber er wusste, dass er Peer jetzt zu nichts zwingen konnte. Er hatte nur die Wahl zu bleiben, oder das Gespräch zu beenden. Nachdem sie einander zwei Jahre nicht gesehen hatten, brannten ihm eigentlich eine Menge Fragen auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter, da er fürchtete, die Antworten könnten ihm nicht gefallen.

Erst jetzt betrat er die Küche und lehnte sich an die Arbeitsfläche, den Kühlschrank im Rücken.

»Warum hast du aufgehört zu schreiben?«, fragte er Peer.

»Ich wiederhole mich ungern.«

»Früher hast du auch nicht nach dem Sinn gefragt.«

»Menschen ändern sich.«

»Nicht du«, behauptete Lein.

»Nicht ich allein, das stimmt.«

»Mach doch, was du willst, aber lass mich aus dem Spiel!« Lein hatte die Frage für harmlos gehalten, doch Peer ließ nicht locker.

»Du hast dich schon selbst aus dem Spiel genommen.«

Lein ahnte, was jetzt kommen würde.

»Was hast du in den letzten zwei Jahren geschrieben?«, insistierte Peer.

»Theorien brauchen ihre Zeit, in Oxfordshire habe ich getestet und Daten gesammelt.«

»Daten waren dir immer zuwider.«

»Wenn ich keine Kontrolle darüber habe.«

»Du hast also nichts geschrieben.«

»Jetzt bin ich hier und werde wieder Zeit dazu finden.«

»An der Zeit wird es nicht liegen.«

»Und wenn schon, vielleicht schreibe ich eben nicht mehr. Immerhin habe ich eines der größten Rätsel der Menschheit gelöst.«

»Sagst du.«

»Hast du meine Beweisführung auch nicht verstanden?«

»Doch, aber ich verstehe auch deine Kritiker. Du überforderst die Menschen.«

»Meine Theorie ist nicht schwer zu begreifen.«

»Aber schwer zu akzeptieren. Du raubst ihnen Illusionen.«

»Eine der Aufgaben von Wissenschaft.«

»Vielleicht – in jedem Fall sind ihnen die Illusionen vertrauter.«

»Sollen sie doch glücklich werden, mit dem, was sie glauben. Wenn ich meine Theorie in der Praxis beweisen kann, sind ihre Illusionen ohnehin Geschichte.«

»Bis heute hast du keine Gelegenheit dazu bekommen.«

»Was nicht bedeutet, dass ich Unrecht habe.«

»Du solltest alles noch einmal überdenken, vielleicht neu formulieren.«

»Unsinn! Die These ist fertig und einwandfrei. Es ist kein philosophisches Traktat, hier geht es um Formeln, nicht um Formulierungen. Die Arbeit wurde geschrieben, publiziert und in der Luft zerrissen. Die Theorie ist damit erledigt, mir bleibt nur noch die Praxis.«

»Du unterschätzt die Macht des Wortes. Jede Idee lebt von der Überzeugungskraft ihrer Aussagen. Wahrheit allein interessiert niemanden.«

»Naturwissenschaft funktioniert anders.«

»Das glauben alle Naturwissenschaftler, und sie irren. Ich könnte dir helfen, deine Formulierungen geschmeidiger und eingängiger zu machen. Überhaupt sollten wir gemeinsam schreiben.«

»Untersteh dich, meine Texte anzurühren. Und als geschmeidig und eingängig würde ich deine sicher nicht bezeichnen.«

»Du hast keine Fernsehapparate in dieser Wohnung.«

»Du lenkst ab.«

»Wie wirst du deine Nächte überstehen?«

»Ich bin doch nicht süchtig!«

»Wann gedenkst du, die Geräte zu kaufen?«

»Sie werden morgen geliefert – aber keiner für dich.«

»Mir genügt der Kaffee.«

»Noch einen?«

»Gern.«

Ganz wie in ihrer Studentenzeit beendeten sie den Abend mit einer Tasse schwarzem Kaffee und der sicheren Aussicht auf eine Fortsetzung der Diskussion.

Als Lein am Samstagmorgen aufstand, fand er das Wohnzimmer aufgeräumt vor. Peer hatte noch in der Nacht die restlichen Umzugskartons geleert und die Bücher in die Regale geordnet. Da nicht alle darin Platz fanden, waren zwei hohe Stapel in einer Zimmerecke verblieben, nur zwei Bücher lagen auf dem Sofa, eines davon geöffnet. Lein war neugierig, wofür Peer sich interessiert hatte. Das eine war ein Traktat, das Peer selbst geschrieben hatte, noch während seiner Studienzeit an der Harvard. Der nicht einmal achtzig Seiten lange Text mit dem sperrigen Titel »Politische Moral und wissenschaftliche Ethik, ihre Beziehungen zueinander und zur Masse der nicht partizipierenden Mehrheit« hatte wie eine Bombe eingeschlagen, sodass ihn die Universität selbst als Taschenbuch herausgegeben hatte. Das andere Buch war ein Nachschlagewerk der Biologie, das ihr Vater während des Studiums verwendet haben musste. Die aufgeschlagene Seite zeigte eine Tabelle mit Inkubationszeiten bakterieller Infektionen. Was konnte Peer gesucht haben? War er krank, machte er sich Sorgen, oder war es pure Neugier?

Das Klingeln an der Haustür hinderte Lein, sich länger mit dieser Frage auseinandersetzen. Peers Zimmertür war geschlossen, ihn konnte er also auch nicht fragen, und die Fernsehgeräte erwartete er ohnehin sehnsüchtig. Die Installation der beiden Apparate verlief ohne Komplikationen. Der Sohn des Geschäftsinhabers war mit einem ebenfalls jungen Kollegen gekommen, da niemand den fürs Wohnzimmer bestimmten Bildschirm allein hätte tragen können. Der Raum war groß, und so hatte Lein ein Gerät mit beinahe 1,5 Metern Diagonale erstanden, das dem ebenfalls imposanten Schreibtisch erhebliche Konkurrenz machte. Der deutlich kleinere und unauffällige Apparat für das Schlafzimmer wurde an die Wand montiert, in guter Sichthöhe vom Bett aus.

Nach weniger als einer halben Stunde verabschiedeten sich die beiden jungen Männer bereits wieder, und Lein konnte sich dem ersten Kaffee des Tages widmen. Er beschloss, entgegen seiner Entscheidung vom Vortag, so rasch wie möglich die Bäckerei auf dem Weg zur Universität aufzusuchen; wenn irgend möglich, sollte das sein letzter Morgen ohne Croissants sein. Angewöhnt hatte er sich diese Art des Frühstücks während seines Aufenthalts in der Antarktis. Ein französischer Meteorologe hatte mit einer ganzen Wagenladung davon den halben Tiefkühlraum gefüllt, und so bekam das gesamte zweiundfünfzigköpfige Forschungsteam den ganzen Winter hindurch jeden Morgen frisch aufgebackene Croissants serviert. Im arktischen Sommer, als die Crew auf weit über hundert Mitarbeiter anwuchs, reichte der Vorrat nicht mehr für alle, aber der hochintelligente Franzose war ein angenehmer Diskussionspartner geworden, auch wenn Meteorologie weit außerhalb von Leins Interessensgebiet lag. Jedenfalls war es ihm gelungen, in den Kreis der Privilegierten mit Croissant-Abonnement aufgenommen zu werden.

Und nun saß er in der Küche bei einer nackten Tasse Kaffee. Lein hatte das Entwickeln und Festhalten an Gewohnheiten bei anderen immer belächelt, dabei war er mittlerweile selbst zu einem Gewohnheitsmenschen geworden. Noch mehr überraschte ihn aber, dass er in der Küche Platz genommen hatte. Seit seiner Kindheit waren ihm Küchen immer beengt vorgekommen, Eckbänke ein Ort des Gedränges. Selbst wenn alle Großeltern zu Besuch gekommen waren (noch in Oregon, vor dem Umzug an die Ostküste), hatte sich die ganze Familie in der Küche versammelt, während Mutter das Essen zubereitete. Lein war dann meist in sein Zimmer geflüchtet. Es war klein, aber die wenigen Quadratmeter gehörten ihm allein.

Diesmal saß er freiwillig hier. All die letzten Jahre hatte er seinen Morgenkaffee immer im Wohnzimmer getrunken. War es Peers Einfluss, der ihn hierher zog? Und der Kühlschrank war nicht zu übersehen, neben der Tür ragte er drohend auf, Lein konnte ihn nicht aus seinem Blickfeld verdrängen. Das war zu viel, er füllte seine Tasse erneut und ging damit ins Wohnzimmer. Dort stieß er wieder auf die beiden Bücher auf dem Sofa. Er setzte sich und begann in Peers Büchlein zu blättern. Zwölf oder dreizehn Jahre musste es her sein; damals hatte es Lein auch gelesen, an Details konnte er sich aber nicht mehr erinnern.

»Politische Moral kann von der nicht partizipierenden Masse weder determiniert noch interpretiert, am wenigsten sanktioniert werden, da sie sich nicht durch ihre Wirkung auf und die Auswirkungen in der Masse definiert, sondern als geschlossene Kategorie in sich selbst und durch ihre Partizipanten, ebenso wie die der Wissenschaft idealiter zugeschriebene Ethik nicht den Vergleich mit der profanen Sittenmoral der Masse anstreben, sondern nur im Kreislauf von These und Antithese, quasi als circulus scientiosus, ihre Legitimität erlangen und aufrechterhalten kann.«

Sätze wie dieser, mit denen der Autor eine vom Gros der Menschheit unabhängig agierende Elite als Faktum und zugleich Notwendigkeit festschreiben wollte, hatten die Arbeit bekannt, aber auch umstritten gemacht. Wie Leins eigene Publikationen waren auch Peers Schriften immer kontrovers und auf gewisse Weise aggressiv, da sie neue und ungewöhnliche Gedankengänge offen und ohne Zurückhaltung darlegten. Während Lein mit seinen Theorien aber schlimmstenfalls die Gemeinschaft seiner Fachkollegen gegen sich aufbrachte, attackierte Peer mit seinen Texten die gesamte Zivilgesellschaft, vor allem linke Politiker fühlten sich durch seine Thesen provoziert. Dabei ging es Peer lediglich um eine Annäherung an die Wahrheit, Provokation war ihm ebenso fremd wie Lein. Wenn sein Bruder länger als ein paar Tage blieb, wovon Lein ausging, würden sie mit Sicherheit auch wieder über Peers Arbeiten diskutieren. Er musste ihn überreden, wieder zu schreiben. Auch wenn er seinen Stil übertrieben und arrogant fand, so waren Peers Aussagen immer eine Überlegung wert.

Inzwischen war es beinahe Mittag geworden, und Lein machte sich fertig zum Ausgehen. Das Ankleiden klappte diesmal schneller als am Vortag, nur einen Spiegel im Vorzimmer vermisste er immer noch – eine der Besorgungen, die zu erledigen waren. Zuerst aber wollte er den Weg zu Universität erkunden und dabei die Bäckerei aufsuchen.

Das Geschäft machte einen hellen und freundlichen Eindruck, die wenigen Tische waren ebenso sauber wie der Boden. Die Vitrine war reichlich gefüllt mit unterschiedlichsten Backwaren, die meisten davon waren ihm unbekannt. Lecker sahen sie alle aus, wenn auch alle etwas zu groß geraten waren, wie er fand. Und dann die Croissants: wie er sie gewohnt war, knusprig braun gebacken und von akzeptabler Größe. Die Beschriftung als Hörnchen konnte ihn nicht abhalten, sogleich eines zu versuchen – ja, bitte auch mit Kaffee, da hinten an dem Ecktisch. Vielleicht konnte es doch ein angenehmes Leben hier werden.

Das Gebäck schmeckte ausgezeichnet. Noch während der ersten Bissen versuchte Lein die auf der Eingangstür notierten Öffnungszeiten zu lesen, was von innen und aus zwei Metern Entfernung nicht einfach war. »Sonn- und feiertags geschlossen«, mehr konnte er nicht entziffern. Er war schon von seinen Kollegen in England gewarnt worden, dass in Deutschland die meisten Geschäfte sonntags nicht offenhielten, aber mit einem Schließtag pro Woche konnte sich Lein arrangieren. Sicherheitshalber bestellte er gleich ein zweites Hörnchen zum Kaffee und zwei weitere, die er für den nächsten Morgen mitnehmen wollte. Mit der Croissant-Tüte und einer neuen Packung Kaffeebohnen in der Hand verließ er den Laden.

Der Weg zur Universität führte ihn durch ein adrettes Villenviertel nach Norden und dann in großem Bogen links um einen locker bewaldeten Hügel. Mehrere parallele Straßen standen zur Auswahl, sodass er seine Route auch je nach Laune verändern konnte. Einen direkten Pfad durch den Wald hatte er nicht entdeckt. Beim Physikalischen Institut der Universität angekommen, ließ er dieses links liegen und ging direkt weiter bergab Richtung Zentrum.

Sein Routenplaner führte ihn zu einem Einrichtungshaus nahe dem Alten Botanischen Garten, ganz in der Nähe des Elektroladens. Bei vertrauten Produkten genoss Lein die Bequemlichkeit der Online-Bestellung, wenn es aber um Entscheidungen hinsichtlich Qualität und Ästhetik ging, mochte er sich nicht auf Abbildungen und Beschreibungen verlassen. Das Geschäft war schnell gefunden, ein hoher, schmaler Spiegel in schlichter Eleganz nach wenigen Minuten ausgewählt. Der Verkäufer hatte ihm einen Spiegel mit Gesichtserkennung angepriesen, der einer einmal erkannten Person alle tagesaktuellen Informationen einblenden würde, auf Wunsch auch mit Sprachsteuerung. Lein war moderner Technik nicht abgeneigt, aber seine Notizen verfasste er immer noch auf fliegenden Zetteln, der Nutzen eines intelligenten Spiegels schien ihm entbehrlich.

Er ließ sich ein Taxi kommen und ersuchte den Fahrer, das Paket im Hausflur, notfalls auch vor dem Eingang abzustellen, er würde es abends mit in seine Wohnung nehmen, wenn es bis dahin niemand entwendet hatte. Mit der Bezahlung des Taxis hatte Lein seine Vorhaben für diesen Tag erledigt. Eigentlich hätte er mit dem Taxi auch gleich mitfahren können, aber ihm war eine andere Idee gekommen.

Auf dem Weg zum Einrichtungshaus hatte er die Universitätsbuchhandlung entdeckt. Jetzt hatte er Zeit genug, sich dort umzusehen, und wie erwartet gab es eine Abteilung für fremdsprachige Bücher. Lein richtete sich mit einer Auswahl an Büchern in einer der Sitzgruppen gemütlich ein und begann zu schmökern. Er ließ sich gern vom Zufall überraschen und hatte daher vier Bücher wahllos aus unterschiedlichen Bereichen entnommen. Er öffnete das erste Buch im letzten Drittel und fand sich mitten in einer Sexszene wieder.

»Langsam, ganz langsam über ihrer Brust zu kreisen, erst entfernt, dann immer näher, ohne Berührung, nur die Schwingungen zu spüren, vorerst nur in der Fantasie. Von dort ein kleiner Weg nur zum Mittelpunkt aller Gefühle, rasch der Gedanke, zögernd aber, ängstlich die Hand. Endlich der Entschluss, die Hand am Ziel, zitternd, dort wie ein Stromschlag, vom Zentrum nach allen Richtungen.«

Erst jetzt warf er einen Blick auf den Titel, der ihm das Genre Liebesroman schon vorweg verraten hätte. Das war nicht die Art Bücher, die Lein gewöhnlich las, aber etwas fesselte ihn an der Schilderung, und es war nicht die Erotik. Er schlug eine andere Stelle auf und traf auf eine Episode, die ihn trotz ihrer inhaltlichen Belanglosigkeit ebenfalls im Bann hielt.

»Sie sah zum Fenster hinauf und stellte sich vor, wie er hinter dem Vorhang stand und sie beobachtete, er wollte sichergehen, dass niemand sie kommen sah. Warum gab er sich mit ihr ab, wenn sie doch nicht in seine Welt passte? Sollte sie für immer unsichtbar bleiben? Sie würde seine Wohnung nie wieder verlassen, wenn sie sie einmal betreten hatte, das fühlte sie genau. Er würde sie der Welt entziehen, niemand würde es wahrnehmen, niemand würde sie vermissen ...«

Etwas an diesem Text verströmte eine magische Anziehungskraft, die ihn ins Innerste des Buches sog. Erschrocken legte er den Band beiseite und atmete kurz durch. Dann nahm er das nächste Buch zur Hand, einen Reiseführer für Delhi, den er nur kurz durchblätterte. Weder kannte er die Stadt noch hatte er die Absicht, Indien zu bereisen. Ein Roman von Georges Simenon erregte hingegen seine Aufmerksamkeit. Er hatte schon mehrere Kommissar-Maigret-Romane gelesen, weshalb ihm der Name des Autors im Regal ins Auge gesprungen war. Schon beim Überfliegen des Textes erkannte Lein jedoch, dass ›Die Glocken von Bicêtre‹ kein Kriminalroman sein konnte. Es war vielmehr die Geschichte eines Mannes, der seine Genesung nach einem Schlaganfall bewusst hinauszögerte und in der so gewonnenen Zeit sein bisheriges Leben an sich vorbeiziehen ließ.

Auch das vierte Buch stammte von einem Autor, den Lein kannte. Schon vor Jahren hatte er ›Die 27. Stadt‹ und ›Korrekturen‹ von Jonathan Franzen gelesen. Man könnte nicht sagen, dass sie ihm gefallen hätten, aber sie hatten ihn lange Zeit nicht losgelassen. Auch heute noch blitzten immer wieder Episoden daraus wie aus dem Nichts in seinen Gedanken auf. Obwohl sie ihn immer melancholisch machten, liebte Lein Gesellschaftsromane. In den meisten Familiengeschichten fand er einen Teil seiner Biographie wieder.

Als Lein die Buchhandlung verließ, war es etwa 18 Uhr, also Zeit genug, um vor dem Abendessen noch die Einkäufe nach Hause zu bringen. Mit zwei Büchern, Kaffee und Croissants in der Hand gönnte er sich ein Taxi für die Heimfahrt. Das Paket mit dem Spiegel fand er unversehrt neben der Haustür, in der Wohnung fand er Peer in der Küche sitzend. Er legte seinen Einkauf ab, widmete Peer aber außer einem kurzen »Hallo« keine weitere Aufmerksamkeit. Lieber wollte er so rasch wie möglich den Spiegel aufhängen. Wie erbeten hatte der Verkäufer das notwendige Befestigungsmaterial der Packung beigelegt, die Montage machte also keine Probleme. Erst als er sich im Spiegel betrachten wollte, erkannte Lein, dass das Licht im Flur schwach war. Hier musste in absehbarer Zeit eine bessere Lösung gefunden werden.

An diesem Punkt meldete sich Leins Magen mit einer heftigen Hungerattacke. Er faltete das Verpackungsmaterial, deponierte es in einer Ecke und rief zu Peer in die Küche: »Ich gehe etwas essen, möchtest du mitkommen?«

»Hast du schon wieder ein Stammlokal gefunden? Du weißt, dass ich da nicht hingehe.«

»Ich habe nur aus Höflichkeit gefragt.«

»Guten Appetit!«

Dann eben nicht. Er hatte nichts anderes erwartet, war aber letztlich froh, seine Kneipe allein aufzusuchen. Wer wohl heute bedienen würde, auf eine Diskussion mit Sebastian hatte er wenig Lust. Dazu kam es auch nicht, denn hinter der Theke standen an diesem Samstag zwei Frauen. Eine kannte er bereits von seinem ersten Besuch. Die deutlich größere Schwarzhaarige Anfang dreißig sah er zum ersten Mal; sie hieß Üsgül und stammte aus der Türkei. Die etwas Jüngere mit kurzen blonden Haaren, die ihn bei seinem ersten Besuch bedient hatte, hieß Lenka und war in Chomotuv geboren, einer Kleinstadt im Nordwesten Tschechiens. Nach der Schulzeit war sie zum Jobben nach Prag gegangen und erst vor zwei Jahren nach Deutschland übersiedelt. Üsgül hingegen hatte schon als Vierjährige mit ihren Eltern die Türkei verlassen und bereits in Deutschland die Schule besucht. Danach hatte sie Landschaftsarchitektur studiert, aber noch immer keine einschlägige Anstellung gefunden. Sie hatte dann als Sekretärin gearbeitet und war schließlich hier als Kellnerin gelandet.

»Suchen Sie noch weiter nach einem Job?«, fragte Lein, der die Plauderei mit ihr sichtlich genoss.

»Nicht intensiv. Ab und zu sehe ich die Stellenangebote durch oder höre mich bei früheren Kollegen um. Aber die meisten von ihnen haben selbst Schwierigkeiten.«

»Ich hätte gedacht, dass das ein Beruf mit großen Chancen wäre, im Wachsen begriffen.«

»Im Zusammenhang mit Naturschutz und Stadtplanung ist der Bereich in den letzten zwanzig Jahren stark gewachsen. Inzwischen haben aber zu viele dieses Studium absolviert, und der Markt ist gesättigt.«

»Und an der Universität? Gibt es da keine Möglichkeiten?«

»Es gibt nicht viele Unis, die diesen Studiengang anbieten. Und dort sind die Assistentenstellen auch heiß umkämpft.«

Lein fragte sich, wie die Situation am M.I.T. wohl heute aussah. Er hatte bereits in seinen beiden letzten Studienjahren nebenbei als Assistent gearbeitet. Seinem Bruder, der die knapp drei Kilometer entfernte Harvard University besuchte, hatte man einen Assistentenposten für die Zeit nach seinem Studium angeboten. Lein hatte ihn nie gefragt, ob er dem Angebot jemals nähergetreten war.

An diesem Abend war das Lokal bereits um 19 Uhr randvoll und die beiden Kellnerinnen hatten kaum Zeit, mit einzelnen Gästen zu plaudern, das Gespräch mit Üsgül musste seine Fortsetzung an einem anderen Tag finden. Leins Essen kam trotzdem nach nur fünfzehn Minuten. Er hatte diesmal einen Burger bestellt, den größten, mit allem Drum und Dran. Als er damit fertig war, bestellte er wie immer ein zweites Glas Bier. Ganz entgegen seiner Gewohnheit blieb er trotz des großen Andrangs noch geraume Zeit sitzen und ließ die Gedanken schweifen. Er hätte gern darüber nachgedacht, welchem Thema er sich für eine nächste Publikation widmen könnte, aber sein Blick blieb immer wieder an der makellosen Figur von Üsgül hängen. Sie trug ein weites, wallendes T-Shirt, aber hautenge Leggings aus dünnem, glänzendem Material, das alle Konturen deutlich abzeichnete. Sie hatte lange Beine, die in einem extrem kleinen Po endeten. Die meisten schlanken Frauen hatten zu dünne Beine, jene von Üsgül waren perfekt proportioniert, mit schlanken, aber dennoch deutlich geformten Waden und Oberschenkeln. Offenbar betrieb sie auch Sport, man konnte unter den beinahe durchsichtigen Leggings einzelne Muskeln erkennen. Das Gesicht war hübsch, aber nicht ebenmäßig. Vor allem war die Nase zu groß und lenkte von den schwarzen Augen ab, die jedoch ausgezeichnet zu den dunklen Haaren und dem dunklen Teint passten. Ihre Haltung könnte ein wenig aufrechter sein, das könnte ihr trotz ihrer Größe mehr Anmut verleihen. Das hatte Lenka ihr eindeutig voraus. Wie viele klein gewachsenen Menschen versuchte sie ihre Körpergröße durch aufrechten Gang zu kompensieren. Lenka den Eindruck, ungebunden zu sein, einem Abenteuer oder einer neuen Beziehung nicht abgeneigt. Üsgül war nicht nur älter, sondern wirkte auch gesetzter. Auch sie trug keinen Ehering, Lein war aber sicher, dass sie einen festen Freund hatte. Die meisten Männer würde das nicht stören, wenn sie nach einer kurzen Affäre Ausschau hielten; auch Lein hatte früher nie über solche Äußerlichkeiten nachgedacht. Gefiel ihm eine Frau, dann verführte er sie auch, und wenn er es wirklich darauf anlegte, hatte er nie einen Korb bekommen. In der Regel blieb es bei einem One-Night-Stand, nur ganz selten reizte es ihn, mit einer Frau öfter als einmal Sex zu haben. Dann aber würde er sich verlieben, und wie das enden musste, haben ihm seine zwei längeren Beziehungen vor Augen geführt. Nicht, dass die kurzen Affären immer friedlich geendet hätten, oft hatten sich Frauen zu viel Hoffnungen gemacht. Aber nach nur einer Nacht konnte auch die heftigste Auseinandersetzung nur an der Oberfläche kratzen, tiefere Begegnungen hatten schließlich gar nicht stattgefunden.

Vielleicht sollte er einen Liebesroman schreiben, ohne Happy End, dann konnte er genügend autobiographisches Material einbringen. Überhaupt könnte die Arbeit an einem Roman seinen Schreibstil verbessern. Peer hatte seine Formulierungen immer kritisiert – ebenso wie seinen Umgang mit Frauen – und Lein hatte seinen Stil damit verteidigt, dass es schließlich um Wissenschaft gehe, und nicht um Belletristik. Aber vielleicht reagierten die Menschen im beruflichen Umfeld genauso wie im alltäglichen Leben, wo die Verpackung eines Produktes mindestens so wichtig war wie der Inhalt. Er nahm sich vor, einige der anerkannten naturwissenschaftlichen Arbeiten nach diesem Gesichtspunkt hin zu untersuchen. Er wollte herausfinden, ob Einstein, Heisenberg oder Planck ihre überragenden Gedankengänge auch mit sprachlichem Schliff versehen hatten.

Die Zeit verging wie im Flug, und über seine eigenen Publikationen hatte er nicht wirklich nachgedacht. Ein letztes Bier rundete den Abend ab, ein letzter Blick in die schwarzen Augen, ein letzter Versuch, Lenkas Größe und Gewicht zu schätzen, dann war Lein auch schon wieder auf dem Heimweg. Erst als er vor seiner Haustür ankam, realisierte er, dass es regnete. Er muss den ganzen Weg so in Gedanken versunken gewesen sein, dass er es nicht bemerkt hatte, obwohl er inzwischen bis auf die Haut durchnässt war. Oben angelangt, entledigte er sich rasch der triefenden Kleider und nahm eine heiße Dusche.

Peer bekam er an diesem Abend nicht mehr zu Gesicht, er war offenbar schon schlafen gegangen. Auch Lein zog sich ins Schlafzimmer zurück und zwinkerte dem Fernsehapparat zu, um ihn einzuschalten. Es gab wieder Berichte aus Kasachstan, die Situation hatte sich offenbar noch nicht entspannt. Er wollte sich damit aber nicht näher auseinandersetzen. Sicher würde Wilhelm am Montag mehr als nötig darüber referieren.

Das Fernsehprogramm langweilte ihn, einschlafen konnte er aber auch noch nicht; also ging er nochmals in den Flur, um aus der Einkaufstüte den Simenon-Roman zu holen, den er zuvor nur überflogen hatte. Schon nach wenigen Seiten wurde Lein nervös, seine Unruhe steigerte sich von Kapitel zu Kapitel. Er hasste diesen Mann, der nach einem Schlaganfall bestens umsorgt und liebevoll gepflegt wurde, und der sich gehen ließ, sich ärgerte, dass man ihn wie ein kleines Kind behandle, wo er es doch war, der sich wie ein kleines Kind benahm. Er verabscheute diesen Snob, der alle Frauen taxierte, als wären sie ein Stück Obst, in das man hineinbeißen möchte. Noch bevor er in der Mitte angelangt war, legte er das Buch beiseite. Das weitere Schicksal des Protagonisten interessierte ihn keinen Deut, und ein mögliches positives Ende der Geschichte hätte er nicht ertragen. Was hatte er auch mit einer Krankenhausgeschichte zu tun, mit einem mürrischen Bettlägerigen, der alle Welt heruntermachte, anstatt dankbar zu sein, dass er nach nur zwei Tagen aus dem Koma aufgewacht war.

Ich muss wieder schreiben, dachte er, unbedingt wieder schreiben. Und während er begleitet von den Hintergrundgeräuschen eines Fernsehkrimis langsam einschlief, sah er sein Elternhaus mit den alten Holzfenstern vor sich.

Auch am Sonntag begegneten die Brüder einander nicht. Wann immer Lein an Peers Tür vorbeikam, war sie geschlossen, also durfte er keinesfalls gestört werden. Lein wusste, dass Peer kaum jemals ausging, dennoch konnte er ausnahmsweise das Haus verlassen haben, einen Wohnungsschlüssel hatte er ihm für alle Fälle ausgehändigt.

Leins Sonntag verlief unspektakulär. Die beiden am Vortag gekauften Croissants schmeckten immer noch ausgezeichnet, und während des Frühstücks überlegte Lein nochmals, ob er sich für den kommenden Arbeitstag vorbereiten sollte. Mit Sicherheit war eine Ansprache von Wilhelm zu erwarten, aber was danach geplant war, konnte er nicht wissen. Also verwarf er die Idee mit der Vorbereitung und konzentrierte sich lieber auf sein Frühstück. Die Frage der Croissants war gelöst, mit dem neu erworbenen Kaffee war er noch nicht zufrieden. Für Leins Geschmack war die Röstung zu mild, es konnte aber auch an den Bohnen selbst liegen, obwohl sie sich als hochwertige Arabica-Mischung ausgaben. Hier würde der eine oder andere Testeinkauf noch folgen müssen. Er genoss seinen Kaffee trotzdem, es bestand kein Grund zu übermäßiger Eile. Für ein paar Tage konnte er den milden Geschmack akzeptieren.

Lein begab sich ins Wohnzimmer, vorbei an Peers geschlossener Zimmertür. Sein Bruder hatte recht gehabt, er musste wieder schreiben. Er stellte sein Y-Com auf Computermodus, öffnete ein neues Dokument und überlegte. Mit Befriedigung stellte er fest, dass der holographische Bildschirm einwandfrei funktionierte. Die virtuelle Tastatur wurde auf den Tisch geleuchtet, der in die Luft projizierte virtuelle Bildschirm gab trotz der schräg einfallenden Morgensonne ein klares Bild, auch kleine Elemente waren deutlich erkennbar; er würde an diesem Platz also ungehindert arbeiten können.

Zum ersten Mal seit er die Wohnung betreten hatte, blickte er bewusst aus dem Wohnzimmerfenster, das beinahe die gesamte Breite des Raumes einnahm. Halbrechts, in etwas mehr als zwei Kilometern Entfernung, war das Stadtzentrum zu erkennen, dahinter das weitläufige Neckartal. Leins Haus lag auf einem der zahlreichen Hügel gut fünfzig Meter über dem Fluss, seine Wohnung im zweiten Stock erlaubte also vor allem Richtung Süden einen großartigen Ausblick.

Erst jetzt erkannte Lein, dass in der Mitte der Fensterwand eine schmale Doppeltür eingelassen war, die ihm Rätsel aufgab. Eine Tür, die man nicht durchschreiten konnte, war ihm noch nicht begegnet. Man würde dahinter einen Balkon erwarten, aber als er die Tür öffnete fand er nur ein direkt in der Türöffnung eingelassenes hüfthohes Gitter. Lein genoss das Gefühl, in der offenen Tür zu stehen und den Herbstwind in den Haaren zu spüren, beinahe wie auf einem richtigen Balkon. Zumindest stellte er sich das so vor, denn er hatte bisher ausschließlich in ebenerdigen Bungalows gewohnt. Nur seine Studentenbude am M.I.T. hatte im ersten Stockwerk gelegen, was durch das kleine, zum Hof gehende Fenster aber kaum zu erkennen gewesen war.

Als er die Tür wieder schloss, fiel ihm auf, wie altmodisch die Wohnung ausgestattet war. Fenster mit Holzrahmen hatte er zuletzt in seinem Elternhaus gesehen. Hier in Tübingen hatte sich der Rahmen auch noch verzogen, ganz abgesehen davon, dass die Tür von Hand zu schließen war.

Er ging zurück an seinen Schreibtisch und begann zu schreiben, oder vielmehr begann er, sich Gedanken über ein Thema zu machen. Natürlich hatte er die Idee mit dem Liebesroman nicht ernst gemeint, aber einen ernsthaften Roman zu schreiben, wäre schon eine spannende Herausforderung. Vielleicht sollte er in zwanzig Jahren nochmals darüber nachdenken. Jetzt wollte er sich seiner beruflichen Laufbahn widmen, aber sein Kopf war leer.

Das war neu für ihn. Es war zwar schon ein paar Jahre her, seit er das letzte Mal etwas publiziert hatte, aber die Themen waren ihm immer zugeflogen. Etwas hatte ihn fasziniert, eine Idee, ein Problem, und dann hatte er sich an die Arbeit gemacht. Er musste an die Gespräche in seiner Stammkneipe denken und an Sebastians Masterarbeit. Fälschungen waren ein interessantes und unerschöpfliches Thema, aber nichts für Lein. Er setzte sich nicht gern mit der Arbeit anderer auseinander. Was immer er bis jetzt erforscht und aufgeschrieben hatte, war aus ihm selbst entstanden. In seinem Fachbereich waren es auch eher Irrtümer, mit denen sich die Nachwelt herumschlagen musste. Fälschungen waren selten und von weit geringerer Tragweite als etwa in der Medizin.

Mit seiner großen Theorie hatte Lein die seiner Meinung nach größte Frage der Naturwissenschaft, vielleicht sogar die zentrale Frage der Menschheit geklärt, auch wenn das kaum jemand anerkennen wollte. Also musste er sich des Problems Nummer zwei auf der Liste der naturwissenschaftlichen Streitfragen annehmen, und das war immer noch die Unvereinbarkeit von Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Seit mehr als hundert Jahren bestanden diese beiden Theorien nebeneinander, und obwohl beide als bewiesen galten, widersprachen sie einander und schlossen einander gegenseitig aus. Die große, alles vereinende Theorie war noch nicht gefunden, hier hatte Lein sein neues Thema.

Das erinnerte ihn an sein Vorhaben, die Texte seiner berühmten Vorgänger auf ihre sprachliche Qualität hin zu untersuchen. Ein Blick entlang des Bücherregals offenbarte ihm, dass Peer seine Bücher nicht einfach wahllos ins Regal gestellt hatte, sie waren nach Fachgebieten, und darin wieder alphabetisch nach Autoren geordnet. So fand Lein mühelos Heisenbergs Unschärferelation und Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Neben Einsteins Text stand falsch eingeordnet ein vergleichsweise dicker Band mit den Vorlesungen über Thermodynamik von Max Planck. Lein konnte sich nicht an dieses Buch erinnern, Thermodynamik lag weit außerhalb seines Fachgebietes, auch jenseits seines Interesses. Und überhaupt war das ein Text für Studienanfänger, eine Einführung in die Grundlagen, bestenfalls hatte er ihn vor dreißig Jahren einmal überflogen. In Gedanken versunken begann er zu blättern und entdeckte so die rote Markierung bei Paragraph 2, der die Grundlagen des Wärmetausches beschrieb. Lein war schockiert; nie hatte er Markierungen oder andere Eintragungen in Büchern gemacht. Er liebte Bücher, er würde sie nicht verunstalten. Rasch blätterte er das ganze Buch durch und entdeckte noch zwei weitere Markierungen; einmal bei der Beschreibung des Ersten Hauptsatzes der Wärmetheorie, und dann bei Paragraph 112, wo ein ganzer Satz unterstrichen war:

»Ein Prozeß, der auf keine einzige Weise vollständig rückgängig gemacht werden kann, heißt irreversibel, ...«

Was sollte das alles, wer machte solch schülerhaften Eintragungen in seine Bücher, und war das überhaupt sein Buch, und wenn nicht, wie kam es in sein Regal? Verwirrt legte Lein das Buch beiseite und überlegte, was er eigentlich hatte tun wollen. Warum hatte er Einsteins Theorie in die Hand genommen? Es würde ihm wieder einfallen, aber jetzt verspürte er Hunger, heftigen Hunger, dessen Stillung keinen Aufschub duldete. Er musste sich um ein Mittagessen kümmern, also machte er sich fertig zum Ausgehen.

Erst im Treppenhaus machte Lein einen Blick auf das Display seines Y-Coms und erstarrte: es zeigte 18 Uhr. Wo war die Zeit hingekommen? Er hatte Kaffee getrunken und dann versucht, an einem neuen Text zu arbeiten. Zwischendurch hatte er noch für ein paar Minuten den Ausblick genossen, aber alles in allem konnte das nicht mehr als ein, zwei Stunden gedauert haben. Dann war er zum Bücherregal gegangen und hatte etwas herausgenommen, ein wenig gelesen, so vermeinte er sich zu erinnern. Und dann – war er wieder in Gedanken versunken? Er konnte unmöglich fünf oder sechs Stunden so dagestanden haben ohne einen Funken Erinnerung. Sein Magen krampfte sich zusammen, und daran war nicht der Hunger schuld. Er machte auf dem Treppenabsatz kehrt und ging zurück in die Wohnung. Dort durchsuchte er alle Räume bis auf Peers Zimmer, jeden Winkel durchstöberte er nach Hinweisen auf das, was er in den letzten Stunden getan haben könnte. Er hatte nicht ferngesehen, beide Geräte waren kalt, also seit längerer Zeit nicht in Betrieb gewesen. War er vielleicht so ins Lesen vertieft gewesen, dass er alles rund um sich vergessen hatte? Zwei wissenschaftliche Artikel lagen auf seinem Schreibtisch. Er erinnerte sich, sie aus dem Regal genommen zu haben, aber er war von etwas abgelenkt worden. Plancks Vorlesungen zur Wärmelehre lagen auf dem Fußboden. Genau, er hatte sich gefragt, wer diese banalen Sätze über Wärmeübertragung angestrichen hatte, aber weshalb hätte er diese Erstsemestervorlesungen von vorn bis hinten durchlesen sollen. Der Verlauf des Nachmittags blieb ein Rätsel. Lein war wütend, nicht verzweifelt oder ängstlich, nein richtiggehend wütend auf sich selbst, auf seine wachsende Unfähigkeit zur Selbstkontrolle. Sein Verstand war immer messerscharf gewesen, seine intellektuellen Fähigkeiten überragend, es war unumgänglich, die Herrschaft über jede Minute seines Lebens zurückzuerlangen.

Die Lust am Ausgehen war ihm vergangen, also diktierte er seinem Y-Com eine Pizzabestellung und bestätigte den Auftrag mittels Fingerprints. Eine halbe Stunde später hatte er die Pizza verzehrt und das Bier getrunken, die Abendtoilette hatte er bereits in der Wartezeit erledigt. Er legte sich ins Bett und nannte dem Fernsehapparat den Titel seiner Lieblingsserie. Er hatte nicht vor, an diesem Abend noch etwas Intelligentes zu unternehmen.

Montag früh hatte Lein eigentlich keine große Eile, das Arbeitstreffen in der Universität war erst für elf Uhr anberaumt. Da Peer noch schlief, hätte er sein Frühstück in Ruhe genießen können, diesmal im Wohnzimmer. Er wollte aber Frau Nehlinger nicht begegnen, die um neun Uhr kommen sollte. Also beschloss er, sein Frühstück in der Bäckerei auf dem Weg zu sich zu nehmen. Er trank nur eine kleine Tasse Kaffee und widmete sich dann dem Ritual des Ankleidens. Das wollte diesmal leider nicht reibungslos funktionieren. Draußen war es ungemütlich kalt, ein Unterhemd also erforderlich. Erst nach einigem Hin und Her erkannte er, warum die Verbindung von Unterhemd und Unterhose ihn nicht zufriedenstellte: das Unterhemd war zu kurz. Es ragte nur wenige Zentimeter in die Unterhose hinein, weshalb es bei jeder größeren Bewegung wieder herausrutschte. Er holte alle Unterhemden aus dem Schrank und breitete sie auf dem Bett aus, um das längste auszuwählen, so war das Problem zumindest für diesen Tag gelöst. Die letzte Kontrolle vor dem neuen Spiegel war noch mangelhaft, da durch das nordseitig gelegene Küchenfenster nur wenig Licht in den Flur drang.

Nur mit Mühe schaffte Lein, die Wohnung ein paar Minuten vor neun Uhr zu verlassen. Unten angekommen, wechselte er sofort auf die andere Straßenseite, um die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung mit Frau Nehlinger zu vermindern. So gelangte er ungestört bis zur Bäckerei, wo er genügend Zeit für ein gemütliches Frühstück hatte.

Den Weg zur Universität kannte Lein dank seines Spaziergangs vom Samstag, auch innerhalb der Gebäude fand er sich nach kurzem Innehalten zurecht. Im Labor wurde er bereits erwartet. Ingenieur Lehmann kam ihm freudig entgegen, begrüßte ihn aber nur kurz und wandte sich dann dem unmittelbar hinter Lein eintretenden Dekan zu.

»Verehrter Herr Dekan«, begann Lehman, Wilhelm, seine Ansprache, »sehr geehrter Herr Prof. Olerson, geschätzte Mitarbeiter, liebes Team. Da wir nun vollzählig sind, können wir also beginnen. Es erfüllt mich mit Stolz, Sie heute hier im Namen der Universität und im Namen unseres Forschungsprojektes begrüßen zu dürfen. Wir haben eine große Aufgabe vor uns, die wir hoffentlich mit Bravour meistern werden. Sie alle wissen, wie dringend die Probleme sind, die wir zu lösen haben. Es geht um nichts weniger als die Zukunft der Menschheit.

Bevor ich vergesse, darf ich erst einmal alle miteinander bekannt machen. Herrn Professor Olerson und unseren Herrn Dekan Grabenmeyer brauche ich natürlich nicht extra vorzustellen. Hier an meiner linken Seite begrüße ich Frau Dr. Irene Kastawski, die sich bereits in Polen durch ihre Forschungen zur Entstehung von Sonnenstürmen profiliert hat. Die letzten Jahre hat sie als Dozentin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verbracht. Zu meiner Rechten Herr Dr. Goran Sabakian, renommierter Astrophysiker. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hat er sich auch als Vizepräsident der Armenischen Akademie der Wissenschaften große Verdienste erworben. Ich bin stolz, dass wir ihn überreden konnten, aus Yerevan hierher zu uns zu übersiedeln. Herr Dr. Sabakian wird neben der Arbeit an unserem Projekt auch eine Dozentenstelle hier am Physikalischen Institut übernehmen.

Unsere beiden Assistenten Christian Malker und Robert Leininger waren bis jetzt hier am Physikalischen Institut als Tutoren tätig. Ab sofort werden sie aber Tag und Nacht ausschließlich für unser neues Projekt zur Verfügung stehen. Sie können die beiden Herren gern mit jeder Art wissenschaftlicher Arbeit eindecken, beide sind in Physik beziehungsweise Mathematik promoviert.

Ich denke, es ist uns gelungen, unserem Team ein hervorragend ausgestattetes Labor zur Verfügung zu stellen, wo wir auch auf die Unterstützung von vier Labortechnikern und -technikerinnen zurückgreifen können. Das Projekt ist finanziell gut ausgestattet, immerhin steht die gesamte EU federführend dahinter.

Sie waren sicher alle so wie ich das ganze Wochenende vor dem Fernsehapparat gefesselt, um die Ereignisse in Kasachstan zu verfolgen. Wäre der Anlass nicht so deprimierend, könnte man von perfektem Timing sprechen, genau zu Beginn unserer Arbeit.«

Lein blickte verstohlen in die Gesichter der Umstehenden. Wer hatte wohl wirklich die Nachrichten verfolgt? Herr Dr. Sabakian machte den Eindruck, das Wochenende am Computer verbracht zu haben. Er schrieb sicher gerade an einer Publikation, und das kostete viel Mühe. Die rot unterlaufenen Augen, die müde Körperhaltung und den nach innen gerichteten abwesenden Blick kannte Lein nur zu gut. Frau Doktor hingegen schien ein eher entspanntes Wochenende hinter sich zu haben. Um ihre Lippen kräuselte fast unmerklich ein sanftes Lächeln, und zusammen mit der deutlich zur Schau gestellten Lässigkeit und den glasig strahlenden Augen waren das eindeutige Zeichen. Es würde ihn nicht überraschen, wenn sie die letzten Tage mit einem neuen Liebhaber verbracht hätte. Frau Doktor war eine Frau mit großer Ausstrahlung, charismatisch, erotisch, vielleicht sogar schön.

»Lassen Sie mich zur Sicherheit nochmals die Situation in Kasachstan zusammenfassen«, fuhr Wilhelm unverwandt fort. »Der Neutronensturm war der stärkste bisher gemessene, und entsprechend katastrophal waren die Auswirkungen. Neben den bekannten Stromausfällen und Störungen aller elektronischen Systeme waren diesmal auch unzählige Brände und Explosionen zu verzeichnen, deren Ursache noch nicht geklärt ist. Durch den Einsturz mehrerer Gebäude sind auch zahlreiche Todesopfer zu beklagen, die Zahl der Verletzten geht in die Tausende. Noch kein Sonnensturm zuvor hatte eine solche Katastrophe ausgelöst, ganz abgesehen von dem immer noch andauernden Chaos. Teile des Stromnetzes sind zerstört, computergesteuerte Systeme wie Verkehrsleitung, ja der gesamte Flugbetrieb werden auf Monate hinaus außer Betrieb sein – und selbst dort, wo es noch Strom gibt, ist das Cloudnet nur eingeschränkt verfügbar. Wenigstens die Telefonverbindungen werden bereits heute oder morgen wieder funktionieren.

Eine unserer ersten Aufgaben wird sein, Daten und Fakten zu diesem Ereignis zu sammeln, um herauszufinden, was das Ausmaß der Katastrophe so erschreckend beeinflusst hat.«

Was sollte das heißen? Lein war gekommen, um auf physikalischem Gebiet nach Lösungen zu suchen, nicht um Statistiken zu erstellen. Doch Wilhelm war unerbittlich:

»Die Statistik, meine Damen und Herren, die Statistik ist, wie Sie wissen, die Basis jeder wissenschaftlichen Arbeit, da sind wir uns ja hoffentlich einig. Ohne solide Grundlage an Daten bewegt man sich im luftleeren Raum.«

Daten! Lein hasste dieses Wort. Das 21. Jahrhundert hatte beschlossen, sich von der Macht der Daten versklaven zu lassen – ohne Gegenleistung. Irgendwann würden sich all die Daten verselbständigen und die Menschheit in die Knie zwingen, davon war Lein überzeugt.

»Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, die Kompetenzen für das gesamte Forschungsprojekt klar zu definieren. Wir dürfen natürlich stolz sein, dass die Zentrale, sozusagen der Kopf des Ganzen, hier in Deutschland angesiedelt ist, und zwar an der Universität Göttingen. Dort sind allerdings nur die Abteilungen für Planung, Finanzierung und Verwaltung untergebracht, die gesamte Forschung des deutschen Teams geht hier in Tübingen von statten.

Lassen Sie mich an dieser Stelle nochmals daran erinnern, dass für das gesamte Projekt Englisch als Teamsprache festgelegt wurde, nicht nur als Geste der Höflichkeit Herrn Prof. Olerson gegenüber, sondern vor allem zur Erleichterung der Kommunikation mit unseren internationalen Partnern. Schließlich ist unsere Arbeit nicht nur auf Deutschland oder die Europäische Union beschränkt.

Der Projektname Parasol geht sogar auf eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Pariser Sorbonne zurück, die als erste die Idee zu einem solchen multinationalen Projekt entwickelt hatten. Leider hat sich Frankreich inzwischen aus der direkten Mitarbeit zurückgezogen, sodass wir als einzige in Europa verblieben. (Da das französische Wort für Sonnenschirm im Englischen ebenfalls Parasol heißt, konnten wir diese klangvolle Bezeichnung beibehalten.)

Nachdem auch die USA abgesagt hatten, weil sie ihr Geld lieber in das Aleido-Projekt mit Japan investieren, werden wir also mit den Teams aus Brasilien und China zusammen unsere Aufgabe in Angriff nehmen.«

Lein fragte sich, ob man hier Aleido als Konkurrenz empfand, obwohl deren Zielsetzung eine andere war. Oder hätten die Deutschen einfach gern die USA mit an Bord gehabt?

»Die Forschungsgruppe in São Paolo wird sich mit den Methoden zur Vorhersage und mit Abschirmungstechnik beschäftigen, während die Kollegen in Wuhan die Möglichkeiten zum Einsatz von Satelliten überprüfen sollen. Hier in Deutschland werden wir uns in erster Linie um die Dokumentation kümmern, aber auch um das Magnetfeld der Erde. Wir setzen unsere ganze Hoffnung in die Expertise von Herrn Dr. Olerson, der sich bekanntlich einen Namen als Autorität auf diesem Gebiet gemacht hat.«

Das war es also. Eine einzige Arbeit zur Beschaffenheit und Veränderlichkeit des Magnetfeldes hatte Lein veröffentlicht; das war vor vier Jahren, in seiner Zeit in Durham. Es hatte im großen Spaß bereitet, diese Theorie zu entwickeln, aber Bedeutung hatte er ihr nicht zugemessen. Es musste aber genau diese Arbeit gewesen sein, derentwegen man ihn nach Tübingen berufen hatte. Sollte er jetzt zur Strafe die nächsten Jahre mit Statistiken und Magnetfeldmessungen verbringen?

»Parasol ist auf zehn Jahre ausgelegt.« Herr Ingenieur Wilhelm Lehmann schien nicht gewillt zu sein, seiner Rede ein baldiges Ende angedeihen zu lassen. »Für diesen Zeitraum ist die Finanzierung mehr oder weniger gesichert. Wir gehen aber davon aus, schon eher eine befriedigende Antwort auf die Attacken unseres Zentralgestirns zu finden.

Damit komme ich zu meinem Vorschlag für einen Zeitplan. Die ersten Wochen wollen wir wie gesagt einer umfassenden Dokumentation aller Sonnenstürme der letzten Jahre und ihrer Auswirkungen widmen, sowie einer Sammlung aller relevanten Publikationen zum Thema Magnetfeld. Natürlich sind auch konkrete Ideen, die unserer Arbeit eine Richtung geben, jederzeit willkommen. Lassen Sie mich betonen, dass die Basis unseres Erfolges in der Kommunikation liegt, nur gemeinsam können große Ideen entwickelt und umgesetzt werden. Deshalb haben wir bereits für Anfang Dezember ein Treffen aller Teams aus Brasilien, China und Deutschland geplant, und zwar in der Zentrale in Göttingen. Wir erhoffen uns davon einen ersten intensiven Gedankenaustausch und viele Anregungen. Immerhin handelt es sich bei unseren internationalen Kollegen auch um hochrangige Wissenschaftler. Aber auch innerhalb unseres Teams müssen wir für rege Kommunikation sorgen. Ich habe mir daher überlegt, auch außerhalb des Labors Aktivitäten zu organisieren. Ich bin sicher, dass in arbeitsferner Atmosphäre im lockeren Gespräch großartige Ideen keimen können. Auch die Fahrt nach Göttingen werden wir zur Festigung der Gruppe nützen.

In diesem Sinne, Meine Dame, meine Herren, wünsche ich uns allen eine gute und erfolgreiche Zusammenarbeit. Möge der zündende Gedanke zur Lösung unserer Aufgabe hier in Deutschland das Licht der Welt erblicken. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Und damit übergebe ich das Wort an Herrn Prof. Olerson, der uns sicher auch noch einiges zu sagen hat.«

Lein war erstarrt. Kontakte zu Kollegen außerhalb des Arbeitsbereiches waren ihm zuwider, umso mehr, wenn sie von oben verordnet wurden. Und jetzt? Was sollte er reden? Darauf war er nicht gefasst gewesen. Er hörte deutlich, wie er ausatmete, und dann wieder ein, und wieder aus – etwas zu laut vielleicht. Sein Kopf war leer, Reden war nicht seine Stärke. Diskutieren ja, solange nicht zu viele Menschen daran beteiligt waren, Meinungen austauschen, argumentieren, andere überzeugen, alles kein Problem. Vorlesungen und gut besuchte Seminare machten ihm jedoch Schwierigkeiten, selbst wenn er gut vorbereitet war. Ganz selten geriet er in eine Art Strom, einen Redefluss, der ihn mitriss und nicht wieder freigab. Dann war er nicht mehr zu bremsen, dann würde er die vorgegebene Zeit haltlos überziehen, die Studenten mit Details, Nebengedanken und Extempores überfordern und nicht merken, wie nach und nach alle den Hörsaal verließen. Zwei, drei Mal hatte er versucht, solche Tiraden später zu rekonstruieren, sie aufzuschreiben, um vielleicht den einen oder anderen neuen Gedanken daraus zu gewinnen, aber stets hatte ihm seine Erinnerung die Gefolgschaft verweigert. Dann hatte er begonnen, seine Vorlesungen aufzunehmen, und tatsächlich war ihm nach mehreren Wochen ein beinahe dreistündiger Ausbruch ins Netz gegangen. Als er Tage später den Mut gefunden hatte, die Aufnahme abzuhören, beschloss er schon nach wenigen Minuten, nie wieder eine seiner Reden aufzuzeichnen.

Als seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurückgekehrt waren, verspürte er ein leichtes Schwindelgefühl. Wann hatte er zuletzt eingeatmet? Sein Atem war zu laut gewesen; und er hatte ausgeatmet, dann eingeatmet und wieder ausgeatmet. Aber wie lang war das her? Ein paar Sekunden, oder doch Minuten? Starrten ihn alle an, weil er nichts sagte, oder warteten sie geduldig auf seine Worte? Vielleicht sollte er doch wieder einatmen, dann könnte das Schwindelgefühl vorbei gehen. Es gelang nicht, etwas blockierte seinen Atem, aber er begann sich langsam wohler zu fühlen, es wurde wärmer, er spürte das Blut in seinen Zehen, er fühlte sich geborgen und beschützt bis auf ein leichtes Ziehen im Rücken – ob die Unterhose wohl noch gerade saß?

»Herr Prof. Olerson, Herr Olerson, ist alles in Ordnung?« Er erkannte die Stimme nicht, die ihn aus dem Mutterleib zurück ins Leben riss, aber es würde wohl die Stimme von Frau Dr. Kastawski sein, da sie direkt vor ihm stand und ihn an den Schultern hielt.

»Ja, danke, vielen Dank, alles in Ordnung«, antwortete er und entwand sich ihrem kräftigen Griff, »nur eine kleine Kreislaufschwäche. Wahrscheinlich sollte ich einen Kaffee trinken. Frau Doktor, meine Herren, darf ich Sie alle vielleicht auf einen Kaffee einladen? Mein lieber Wilhelm, es gibt doch sicher hier eine Cafeteria?« So sehr ihm auch die Benützung dieser Studentenrefugien zuwider war, schien ihm das in diesem Moment der beste Ausweg aus der peinlichen Situation.

»Selbstverständlich, Herr Dr. Olerson, nur ein paar Schritte von hier. Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Danke, es geht schon; aber einen Kaffee brauche ich wirklich, dann kommt mein Kreislauf wieder in Schwung.«

Alle setzten sich in Richtung Cafeteria in Bewegung, sie hatten ihm seine Geschichte mit der Kreislaufschwäche abgenommen. Nur Lein kannte die Wahrheit, oder vielmehr einen Teil davon. Er wusste, dass sein Kreislauf in Ordnung war, doch die tatsächliche Ursache für seine Absenzen kannte auch er nicht. Er war nicht einmal sicher, seit wann und wie oft sie schon aufgetreten waren, da sie ihn jedes Mal in anderer Gestalt überfielen.

In der Cafeteria angekommen, fanden sie alle an einem großen Ecktisch bequem Platz. Lein war überrascht über die freundliche Atmosphäre, die sich ihm bot. Leider musste man sich selbst an der Theke bedienen, doch die knusprig aussehenden Croissants in der Vitrine versöhnten ihn auch mit dieser Unannehmlichkeit.

Kaum hatten alle Platz genommen, übernahm Lein das Wort: »Ich sehe die Sache so: Unabhängig davon, wie wir die Arbeit angehen oder was uns die Statistiken zu sagen haben, sehe ich für unseren Beitrag und für das gesamte Projekt fünf Optionen auf dem Weg zu einer Problemlösung. Nummer eins könnte bedeuten, die Entstehung von weiteren Sonnenstürmen zu verhindern oder sie so abzuschwächen, dass sie auf der Erde keinen Schaden mehr anrichten. Option Nummer zwei wäre die Abschirmung, was bedeutet, die Neutronen am Auftreffen auf der Erdoberfläche zu hindern. Als dritte Denkvariante sehe ich eine Ablenkung des Elektronenstroms weg von der Erde, und Nummer vier wäre die Idee, die zerstörerische Energie in positive, verwertbare Energie umzuwandeln, wie es bereits bei Blitzen versucht worden ist, allerdings erfolglos. Als fünfte und letzte Option stünde noch die Möglichkeit offen, die Eruptionen und deren Folgen als gottgewollt zu akzeptieren und nichts dagegen zu unternehmen, aber ich denke, dafür sind wir hier nicht zusammengekommen.«

Was war bloß los mit ihm? Er sprach schnell und entwickelte seine Gedanken in großem Bogen, obwohl er keinen davon vorher überlegt hatte. Und vor allem: es machte ihm Spaß, er genoss seine eigenen Worte, und dass alle wie gebannt an seinen Lippen hingen. Von einem Moment auf den anderen kam er sich vor wie ein geübter Redner, und der Gedanke gefiel ihm.

»Wenn ich richtig verstanden habe, werden die Kollegen in Brasilien sich mit der Weiterentwicklung von Abschirmungstechnik beschäftigen, ich würde aber vorschlagen, nicht von Anfang an nur diese eine Option zuzulassen. Wenn wir alle Varianten gleichzeitig untersuchen, wird sich die am meisten Erfolg versprechende bald zu erkennen geben. Und sollte die Abschirmung das Rennen machen, werden wir dennoch keine Zeit vergeudet haben, weil wir aus der Erforschung der anderen Möglichkeiten eine Menge gelernt haben werden.«

»Wunderbar, Prof. Olerson«, warf der Dekan ein, »ich sehe, es läuft bereits alles in geordneten Bahnen. Ich muss mich nur leider jetzt verabschieden, andere Termine erfordern meine Anwesenheit.«

»Eine Kleinigkeit noch, Herr Dekan«, versuchte Lein ihn zurückzuhalten. »Nur einen Moment, bitte! Ich habe mir überlegt, ob ich meine Antrittsvorlesung eventuell am Donnerstag, den 26. Oktober halten könnte – am besten vormittags, so um zehn Uhr?«

»Aber selbstverständlich gern.« Dekan Grabenmeyer war entzückt. »Ich freue mich sehr, dass Sie sich schon so bald dafür Zeit nehmen wollen. Ihre Studenten werden begeistert sein. Ich gebe den Termin gleich im Sekretariat bekannt. Jetzt muss ich aber wirklich – einen wunderschönen Tag noch allerseits.«

Natürlich hatte Lein auch die Idee mit der Vorlesung nicht überlegt gehabt, sie war ohne Vorwarnung spontan aus ihm herausgebrochen. Er verstand sein eigenes Verhalten zwar nicht, bereute seinen Entschluss aber ebenso wenig. Offensichtlich hatte er soeben seine Liebe zum Reden entdeckt. Falls das nicht nur eine vorübergehende Erscheinung war, konnte in Zukunft sogar das Unterrichten Spaß machen.

»Auf Wiedersehen, Herr Dekan«, gab er abwesend zurück, sammelte sich aber sofort wieder und wandte sich an die Verbliebenen: »Ich gehe also davon aus, dass wir bis Dezember eine klare Marschrute vorgeben können. Bis dahin sollten wir die Optionen durchgecheckt haben, um bei dem Treffen in Göttingen vielleicht sogar einen gemeinsamen Entschluss für die weitere Vorgehensweise fassen zu können.«

»Das klingt ja wunderbar!« Lehmann war hingerissen von Leins Enthusiasmus. »Ich werde mich gleich darum kümmern, dass wir aussagekräftige Statistiken bekommen. Kommen Sie, meine Herren.« Gemeinsam mit den beiden Assistenten machte sich Lehmann auf den Weg zurück ins Labor, Dozent Sabakian schloss sich ihnen an.

»Möchten Sie noch einen Kaffee?«, fragte Frau Dr. Kastawski, nachdem sie mit Lein allein geblieben war.

»Ja gerne, ich hole ...«, aber bevor er sich erheben konnte, war Frau Doktor bereits aufgestanden. Als sie mit dem Kaffee zurückkam, bemerkte er wieder dieses sanfte Lächeln um ihre Lippen. Sie setzte sich jetzt direkt neben ihn und schlug die Beine übereinander. Lein konnte nicht anders, als sie aus dem Augenwinkel zu betrachten. Wollte sie mit ihm flirten? Lein war gewohnt, in solchen Situationen selbst die Initiative zu ergreifen; und er war gar nicht sicher, ob er an diesem Flirt überhaupt interessiert war. Während er noch überlegte, wieviel Erotik diese Frau ausstrahlte, meinte sie: »Ich freue mich wirklich auf die Zusammenarbeit, auch wenn ich noch nicht genau weiß, wie ich mich hier am besten einbringen kann. Mein Spezialgebiet ist ja die Entstehung der Sonnenwinde; ich frage mich, ob ich nicht im brasilianischen Team besser aufgehoben wäre.«

»Nein, nein, wir brauchen Sie schon hier. Je mehr wir darüber wissen, was genau da von der Sonne auf uns zukommt, desto besser können wir an den Abwehrmechanismen arbeiten.«

»Schön, das beruhigt mich. Ich werde Ihnen gleich morgen meine Publikationen zu diesem Thema mitbringen. Für Sie ist die Materie sicher noch neu, da hoffe ich auf Ihre unbefangene Sichtweise.« Dabei schlug sie das andere Bein über und strich ihren Rock über den Oberschenkel glatt. Lein erkannte, dass er nach zwei Jahren ohne Beziehungen zu Frauen deren Körpersprache nicht mehr zuverlässig zu deuten wusste. Im Moment konnte ihm das noch gleichgültig sein, er würde sich mit dieser Frau nicht näher einlassen, soviel war sicher.

Wenig später verabschiedeten sie sich vor dem Institutsgebäude, wo sich ihre Wege trennten, da Frau Doktor den Shuttlebus zum Hauptgebäude nehmen wollte. Lein zog es vor, zu Fuß ins Zentrum zu gehen. Unterwegs kam er an einem kleinen Friseurladen vorbei, was ihn an seine bereits zu lang gewordenen Haare erinnerte. Er ging hinein und fragte nach einem Termin. Um vier Uhr nachmittags könne man ihn dazwischenschieben, erfuhr er. Gut. Er wollte die Gelegenheit wahrnehmen, obwohl er wusste, dass es ein Fehler war. Die nächsten Stunden würden zu einer Qual werden. Lein empfand Haareschneiden als äußerst unangenehm. Allein die Vorstellung, dass fremde Menschen ihn berühren mussten, erzeugte großes Unbehagen. Allerdings störten ihn zu lange Haare in gleicher Weise, weshalb er notgedrungen regelmäßig einen Friseur aufsuchte. Irgendwie musste er versuchen, die nächsten Stunden totzuschlagen, sich abzulenken.

Lein ging zuerst weiter bis ins Zentrum, wo er in einem Fastfood Restaurant einen Burger zu sich nahm. Damit war aber noch nicht einmal eine halbe Stunde vergangen. Er konnte die Zeit nützen, um seine Croissants für den nächsten Morgen zu besorgen. Wenn er dort noch einen Kaffee nahm und ein wenig in den Nachrichten stöberte, konnten damit leicht eineinhalb Stunden vergehen. Auf dem Rückweg nahm er noch eine Tafel Schokolade aus einem Supermarkt mit, die er vor dem Schlafengehen verzehren wollte. Um halb vier betrat er schließlich den Friseurladen, die letzte halbe Stunde wollte er dort warten.

So schlimm wurde es gar nicht, denn schon nach zehn Minuten kam er an die Reihe. Er biss die Zähne zusammen und ließ die Tortur über sich ergehen. Zwanzig Minuten später war alles erledigt, der Rest des Tages konnte nur noch besser werden.

Dieses positive Gefühl wollte er nützen und ging nochmals zurück ins Labor. Wie er richtig vermutet hatte, war alles verlassen, selbst Lehmann war bereits gegangen. Wenn Lein seine große Theorie endlich experimentell beweisen wollte, so musste er ab sofort jede sich bietende Gelegenheit wahrnehmen, dem Ziel Schritt für Schritt näher zu kommen. Hier hatte er ein großes, gutausgestattetes Labor vor sich, das er aufgrund seiner Position vielleicht unbemerkt benützen konnte. Dazu musste er zuerst die gesamte Einrichtung in Augenschein nehmen.

Das Ergebnis war enttäuschend. Nach etwa drei Stunden wusste Lein, dass er mit den Geräten in diesem Labor seinem Ziel nicht einmal einen kleinen Schritt näher kommen würde. Die gesamte Laboreinrichtung war exakt auf die Aufgabenstellung des Parasol-Projektes zugeschnitten, und seine Theorie hatte schließlich weder mit Kernspins noch mit Magnetismus im Allgemeinen zu tun. Für die künftige Zusammenarbeit mit den Technikern war seine Recherche sicher hilfreich, für seine privaten Pläne jedoch irrelevant.

Es war Zeit, sich um ein Abendessen zu kümmern. Lein wollte unbedingt wieder Maultaschen essen, das würde seine Enttäuschung etwas mindern. Wie erwartet war das Lokal an diesem Montagabend fast leer, allerdings hatte Lein wenig Lust auf eine Unterhaltung. So kam es ihm nicht ungelegen, dass Lenka die meiste Zeit mit einem jungen Mann beschäftigt war, der an einem kleinen Tisch neben der Küchentür saß. Die beiden schienen sehr vertraut zu sein. Mehrmals legte Lenka ihm während des Gesprächs die Hand auf die Schulter. Lein konnte es gleichgültig sein. Was sollte ihn Lenkas privates Umfeld kümmern, eher musste er froh sein, im Moment selbst keine Beziehungsprobleme zu haben.

Auch ohne Gesprächspartner blieb er lange sitzen und ließ seine Gedanken schweifen. So war es beinahe dreiundzwanzig Uhr, als er sich auf den Heimweg machte.

Daheim erwartete ihn Peer in der Küche.

»Du kommst spät.«

»Seit wann bin ich dir Rechenschaft schuldig?«

»Es war nur eine Feststellung.«

Lein packte die mitgebrachte Schokolade aus. »Hast du gar keinen Hunger?«

»Mach dir um mich keine Sorgen!«

»Auch kein Stück Schokolade?«

»Du weißt doch, dass ich ... – na gut, gib schon her!«

»Du hast auf mich gewartet?«

»Nicht wirklich.«

»Was tust du eigentlich den ganzen Tag?«

»Nachdenken. Und du?«

»Arbeiten.«

»Schreibst du wieder?«

»Seit gestern«, antwortete Lein gereizt.

»Worüber?«

»Du nervst.«

»Wie war dein erster Arbeitstag?«

»Wenn du anfängst wie meine Exfrauen, kannst du gleich deine Sachen packen.«

»Sind längst gepackt.«

»Du gehst? Nach nur fünf Tagen?«

»Das habe ich nicht gesagt – aber ich bin stets bereit.«

»Ich habe heute eine Ansprache gehalten.«

»Aus dem Stegreif?«

»Da staunst du, nicht?«

Eine Weile schwiegen sie vor sich hin, während Lein seine Schokolade zu Ende aß. Dann fuhr er fort: »Als sie mir die Stelle hier angeboten haben, war die Rede davon, das Magnetfeld der Erde zu verstärken. Damals hielt ich das für Unsinn, für undurchführbar. Was hältst du davon?«

»Ich bin kein Physiker.«

»Deshalb frage ich dich.«

»Hat sich jemand Gedanken über die Auswirkungen gemacht – ich meine, abgesehen vom Schutz gegen Sonnenwinde?«

»Bis jetzt nicht.«

»Ich gehe einmal davon aus, dass physikalische Auswirkungen unvermeidlich sind. Ich denke da an den Orientierungssinn mancher Lebewesen oder den Einfluss auf das Klima. Was mich aber viel mehr interessiert, sind Wirkungen auf die menschliche Psyche und auf unsere Gesundheit.«

»Meine Arbeit beschäftigt sich ausschließlich mit der Instabilität des Magnetfeldes, mit deren Ursachen und möglichen Prognosen. Den Wirkungen bin ich noch nicht nachgegangen.«

»Solltest du aber. Ihr Physiker seid imstande und bringt mit eurer Abschirmungsmanie die ganze Welt in Unordnung.«

»So schlimm wird es nicht kommen, das Magnetfeld ist immer schon instabil. Seit 200 Jahren nimmt die Feldstärke kontinuierlich ab, und mehrmals in der Erdgeschichte hat es sich sogar umgepolt. Die Menschen träumen immer von einer unveränderlichen Welt, aber die hat es nie gegeben.«

»Ich weiß, Instabilität ist dein Lieblingsthema.«

»Die Menschheit lebt in einer Illusion, in einer Blase aus Einbildung und Fehlinformationen.«

»Wird das jetzt ein Hochschulvortrag?«

»Aber genau darum geht es doch. Alles verändert sich, nur bemerken wir es nicht. Die Umlaufbahn der Erde schwankt ebenso wie die Neigung der Erdachse, alle Sterne sind in Bewegung, die Sonne kühlt ab und der Klimawandel lässt den Meeresspiegel ansteigen.«

»Du erinnerst mich an Lal mit seiner Theorie von der politischen Instabilität.«

»Das war etwas anderes. Er wollte Instabilität erzeugen, um im gesteuerten Chaos die politische Macht neu zu verteilen.«

»Und du benützt die Instabilität des Universums für deine Theorien.«

»Diese Instabilität ist eine Tatsache.«

»Nicht für die Mehrzahl der Menschen.«

»Weil sie nur glauben, was sie sehen.«

»Oder was man ihnen lang genug eingeredet hat.«

Wieder schwiegen sie kurz, während Lein überlegte, ob er noch einen Kaffee trinken sollte. Er ließ es bleiben und fragte: »Hast du etwas von Lal gehört in letzter Zeit?«

»Seit er nach Indien zurückgegangen ist, weiß ich auch nichts mehr von ihm.«

»Das sind sicher schon zehn Jahre. Zeit genug, seine Theorie in der Praxis zu testen.«

»Das könnte er von deiner auch sagen.«

»Wir sprechen morgen weiter, ich sollte jetzt langsam ins Bett.«

»Früher hast du nicht mitten in einer Diskussion aufgegeben.«

»Gute Nacht!«, sagte Lein und ging ins Badezimmer. Er blickte in den Spiegel und versuchte die Veränderungen in seinem Gesicht zu analysieren – ohne direkten Vergleich ein schwieriges Unterfangen. Natürlich war er älter geworden, seit sie mit Lal die Nächte durchdiskutiert hatten; aber das ließ sich nicht an der einen oder anderen Gesichtsfalte festmachen, nicht an solchen Äußerlichkeiten, vielmehr an einer inneren Wandlung. War das Reife, eine Form endgültigen Erwachsenwerdens oder doch nur Altern? Dreiundzwanzig Jahre waren seit der ersten Fassung seiner Theorie vergangen, auch die endgültige Version war schon zehn Jahre alt, aber noch immer hatte sie das Papier nicht verlassen. Sie war nie zum Leben erweckt worden, und sie würde vollends in Vergessenheit geraten, wenn er nicht endlich ...

Die Stelle in Tübingen war seine letzte Chance, wenn er es nicht bald schaffte, würde ihn die Kraft weiterzukämpfen verlassen. Er wusste nur noch nicht, wie er die technischen Möglichkeiten hier nützen konnte. Er müsste herausfinden, über welche Ausstattung die Labors des Physikalischen Instituts verfügten. Wenn er taktisch klug vorging, könnte er sich vielleicht Zugang verschaffen.

Sein Spiegelbild hatte sich verändert. War das noch immer das Gesicht eines attraktiven 46-jährigen? Wie lang hatte er hier gestanden? Wieso war sein Gesicht nass, auch seine Hände? Er trocknete sich ab und ging ins Schlafzimmer, ohne nochmals in der Küche vorbeizuschauen. Er schaltete den Fernsehapparat ein und suchte nach einer möglichst inhaltsleeren Comedy-Serie.

Die Nobelpreisträger

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