Читать книгу Die Nobelpreisträger - Michael Rot - Страница 11
Kapitel 4
ОглавлениеHenri Duritels stand mit nassen Händen in der geräumigen Küche und säuberte das Geschirr, bevor er es in die Spülmaschine ordnete. Seine Frau Louise war nach dem Abendbrot im Wohnzimmer der vornehmen Wohnung im 16. Stadtbezirk von Paris geblieben, um die Termine für den nächsten Tag noch einmal durchzugehen. Das kommende Wochenende würde für sie besonders arbeitsintensiv werden, weshalb er versprochen hatte, ihr diesmal noch mehr als sonst abzunehmen. Seit sie vor zwei Jahren Großeltern geworden waren, konnte sogar ein ruhiges Wochenende unvermittelt lebhaft werden. Henri liebte seine beiden Töchter, und er liebte seinen Enkelsohn über alles, aber er war immer nervös und angespannt, wenn er den Kleinen alleine betreuen musste.
Auf seine Töchter war er stolz, auf beide in gleicher Weise, obwohl sie doch so unterschiedlich waren. Die 24-jährige Lucille, Mutter des kleinen Pierre-Khaled, war ein häuslicher Typ, gleichermaßen glücklich mit ihrem Beruf als Kindergartenpädagogin wie mit ihrem vier Jahre jüngeren Ehemann Latif al-Hadad, der selbst noch Pädagogik studierte. Als einziges Kind einer Flüchtlingsfamilie aus Libyen war er in Marseille aufgewachsen und erst vor drei Jahren nach Paris gekommen. Louise und Henri hatten den strebsamen jungen Mann rasch ins Herz geschlossen und voll und ganz in die Familie integriert.
Ihre zweite Tochter, Cloë, hatte schon mit achtzehn das Elternhaus verlassen, um an der University of Birmingham Internationales Recht zu studieren. In den Ferien arbeitete sie in einer renommierten Anwaltskanzlei in Reims und war so mit ihren 22 Jahren bereits äußerst erfolgreich. Henri freute sich schon jetzt auf Weihnachten, nicht etwa, weil er besonders religiös war, sondern weil dann das einzige Mal im Jahr die ganze Familie hier zusammenfand.
Ein wenig beneidete Henri seine Mädchen um ihre innere Zufriedenheit. Seine eigene Ehe war auch harmonisch, er wollte sich gar nicht beklagen, im Grunde genommen konnte auch er zufrieden sein – zumindest waren die Umstände so, dass er es hätte sein sollen –, bislang hatte er jedoch vergeblich darauf gewartet, dass sich dieses Gefühl einstellen möge.
Die Tragik seines Lebens hatte mit der Entscheidung begonnen, Medizin zu studieren. Aber jetzt konnte alles anders werden, jetzt hatte er eine zweite Chance, und die musste er nützen – eine dritte würde ihm nicht geboten werden. Der Tag war gut verlaufen, und es war kein gewöhnlicher Tag gewesen, der letzte seines bisherigen Lebens. Es war schon ein gewisses Wagnis, mit 57 Jahren einen gut bezahlten Posten als Oberarzt an einem der besten und renommiertesten Krankenhäuser von Paris aufzugeben, um sich beruflich neu zu orientieren. Aber die Vorstellung, nicht mehr jeden Tag die Nähe kranker Menschen ertragen zu müssen, nicht mehr mit schwieligen, nässenden oder pusteligen Körpern in Berührung zu kommen, machte ihn richtig glücklich. Er hatte immer schon Probleme mit Körperkontakt gehabt; zu große Nähe anderer Menschen löste in ihm manchmal sogar körperliche Schmerzen aus. Schon oft hatte er sich gefragt, warum er eigentlich Arzt geworden war, und dann ausgerechnet Hautarzt, aber er hatte keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Und es gab noch mehr Fragen in Henris Leben, auf die er keine Antwort hatte. Ursprünglich war das Studium nur ein Mittel zum Zweck gewesen, der ungeliebten Umgebung seiner Jugend zu entkommen; und wahrscheinlich war seine Wahl nur deshalb auf Dermatologie gefallen, um der schönen Odette nahe zu sein. Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte er sich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie hatten dann sogar geheiratet, viel zu früh, Henri war gerade einmal zwanzig. Als sie sich drei Jahre später scheiden ließen, war er immer noch mitten im Studium. Im Gegensatz zu ihm war Odette Brian für den Beruf wie geschaffen und hatte Henri längst in den Schatten gestellt, seit Jahren schon war sie Chefin der Dermatologischen Abteilung an der Salpêtrière, dem ältesten und bedeutendsten Pariser Krankenhaus.
Arzt war auch in den 1990er-Jahren ein angesehener Beruf gewesen, und Henri hatte richtigerweise einkalkuliert, dass Nachbarn, Schulkollegen und Bekannte den Kontakt zu ihm abbrechen würden. Dass sich auch seine eigene Familie von ihm abwenden könnte, weil er ›einer von denen, ein Studierter‹ geworden war, hatte er nicht vorhergesehen. Aber der Aufstieg nach Paris, die Ehe mit einer erfolgreichen Frau, und jetzt noch die Berufung seines Lebens – all das war es wert, Jugend und Familie zu verleugnen.
Noisy-le-Sec war nicht der schlimmste aller Pariser Vororte (nicht wie etwa das südlich gelegene La Grande Borne), aber auch dort im Nordosten herrschte große Armut, immer wieder gab es Unruhen und Auseinandersetzungen mit der Polizei. In dem heruntergekommenen Mietshaus direkt am Verschiebebahnhof, in dem Henri mit seiner Mutter allein aufgewachsen war, lebten auch noch eine seiner Tanten und zwei seiner Schulkollegen. So waren das Haus und seine unmittelbare Umgebung so etwas wie eine familiäre Heimat geworden; trotz des fehlenden Vaters, der schon vor Henris Geburt verschwunden war, und der kaum anwesenden Mutter, die nur mit einer Vielzahl unterbezahlter Gelegenheitsarbeiten sich und ihren Sohn über Wasser halten konnte. Henri liebte seine Mutter, und es hatte ihn tief getroffen, dass auch sie seine Berufswahl nicht akzeptieren konnte. Henris Versuche, den Kontakt in späteren Jahren wieder aufleben zu lassen, scheiterten an ihrer Überzeugung, er selbst habe sich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Es war ihr schlicht nicht möglich, in dem gelegentlich erscheinenden Besucher ihren Sohn zu erkennen. Mit einem erfolgreichen Arzt aus dem fernen Paris konnte sie kein vertrautes Gespräch führen.
Bis zu seiner Ehe mit Louise hatte Henri im 18. Stadtbezirk nahe der Metrostation Château Rouge gewohnt, damals einem der schlechtesten Pariser Viertel. Doch schon die zehn Kilometer Entfernung zu seinem Geburtshaus hatten ausgereicht, ihn seiner Mutter für immer zu entfremden. Er hatte die Besuche bald eingestellt, und so wusste sie nicht einmal von der Existenz seiner Töchter. Sie war auch nicht bereit gewesen, finanzielle oder andere Unterstützung von ihm anzunehmen, weshalb sie weit über das Pensionsalter hinaus arbeiten ging. Über die Jahre hatte Henri sich mit der Trennung abgefunden. Erst als sie vor sieben Jahren an einer ihrer Arbeitsstellen einem Herzinfarkt erlag, wurde ihm wieder bewusst, wie sehr sie ihm gefehlt hatte. Inmitten des Schmerzes war es ihm eine kleine Genugtuung, dass er wenigstens ein würdevolles Begräbnis ausrichten konnte. Auf eine Feier danach hatte er verzichten müssen, da die wenigen Bekannten seiner Mutter lieber unter sich blieben.
Henri stand da, beide Hände nass, die linke Hand voller Speisereste. Wie sollte er jetzt den Wasserhahn öffnen oder den Mülleimer, ohne alles schmutzig zu machen? Er nahm sich vor, demnächst seine Frau zu beobachten, wie sie das handhabte. Wasser war ihm zuwider, er verabscheute nasse Haut. Auch nach so vielen Berufsjahren war ihm Händewaschen immer noch eine Qual, obwohl im medizinischen Bereich kein Zweifel über die Bedeutung von Sauberkeit bestehen konnte. Schon als Kind hatte Henri das Wasser gescheut, und wenn seine Schulkameraden den ganzen Sommer über im Canal de l’Ourcq gleich hinter dem Verschiebebahnhof schwimmen gingen, war er immer allein am Ufer zurückgeblieben. Später war er ganz weggeblieben, nach und nach war er aus der Clique gedrängt und so zum Einzelgänger geworden. Ein anderer hätte sich vielleicht gegen die Ausgrenzung gewehrt, Henri jedoch war von Natur aus ein ängstlicher Mensch. Das war sicher mit ein Grund, warum er neben Medizin auch noch Mikrobiologie studiert hatte. Während seiner gesamten Laufbahn als Arzt hatte er sich immer mehr als notwendig für Bakterien interessiert, und jetzt war er zum Leiter einer Forschungsgruppe für Antibiotika am Institut Pasteur ernannt worden. Letztendlich hatte sich die Mühe also ausgezahlt.
Das Institut hatte ihn inständig gebeten, den Dienstbeginn mit 25. Oktober 2028 zu akzeptieren, den Grund dafür wollten oder konnten sie ihm nicht nennen. Es habe mit der Finanzierung zu tun, erklärte man ihm. Er vermutete eher, der Herr Minister für Gesundheit und Soziales habe auf diesen Termin bestanden, weil er die Eröffnung der neuen Abteilung unbedingt selbst mit einer Pressekonferenz zelebrieren wollte. In zwei Wochen standen Regionalwahlen an, und der Herr Minister wäre nicht abgeneigt, das Amt des Pariser Bürgermeisters zu übernehmen.
Eigentlich war das für Henri bedeutungslos, es hatte nur zur Folge gehabt, dass er drei Wochen ohne Beschäftigung war, da er im Krankenhaus natürlich zum Monatsletzten hatte kündigen müssen. Gern hätte er diese Zeit für einen Urlaub genützt, aber der Oktober war scheinbar ein bei jungen Pärchen beliebter Monat, weshalb Louise mit ihrer Hochzeitsagentur alle Hände voll zu tun hatte.
Ihren Verbindungen verdankte Henri die neue Anstellung. Louise war schon durch ihren Vater, der als Präsident des Appellationsgerichtshofes Rang 35 der französischen Honoratioren bekleidete, in Kontakt mit allen bedeutenden Personen des öffentlichen Lebens gekommen. Als sie die Hochzeit für die Tochter des Gesundheitsministers ausrichtete, nützte sie die Gelegenheit, Henri für einen Chefarztposten vorzuschlagen.
Louise und er waren einander im Krankenhaus begegnet, als sie sich wegen einer Hautirritation behandeln ließ – nichts Bedeutendes, die meisten hätten wegen einer solchen Lappalie keinen Arzt aufgesucht. Er war damals noch Assistenzarzt, und Louise hatte sofort erkannt, dass er einer anderen Gesellschaftsschicht entstammte. Es störte sie aber nicht. Sie fand ihn körperlich anziehend, und seine Herkunft weckte ihre mütterlichen Gefühle. Insgeheim hatte sie sich von Anfang an vorgenommen, aus ihm eine bedeutende Persönlichkeit zu machen, jemanden, den man überall mit Stolz präsentieren konnte – und es wäre ihr Werk gewesen.
Fünf Monate nach ihrer ersten Begegnung wurde Louise schwanger, also mussten sie in aller Eile heiraten. Henri hatte sich immer gefragt, ob sie ihn auch unter anderen Umständen genommen hätte. Er war äußerlich attraktiv, auch heute noch, aber sein schüchternes, oft unsicheres Wesen wirkte meist nicht auf Frauen. Dementsprechend unbefriedigend waren die meisten seiner Annäherungsversuche verlaufen. Jedenfalls liebte er Louise, und letztendlich hatten sie sich gut arrangiert, auch wenn er ihr nicht alle Wünsche erfüllen konnte. Die Stelle als Oberarzt am Krankenhaus Georges Pompidou war nicht schlecht, aber für jemand, der im Nobelviertel zwischen Opéra und Louvre aufgewachsen war, konnte eine Wohnung im 16. Bezirk nur einen Abstieg bedeuten. Louise hatte immer davon geträumt, eines Tages in der vornehmen Avenue Foch zu leben, aber dafür hätte vielleicht nicht einmal das Gehalt eines Chefarztes gereicht. Für Henri war die Wohnung in Auteuil eine grandiose Errungenschaft. Der Boulevard Exelmans war eine wirklich gute Adresse, der Bois de Boulogne, Paris’ schönste Parkanlage, nur einen Kilometer entfernt, und das Krankenhaus, in dem er unmittelbar nach dessen Eröffnung im Jahr 2001 angefangen hatte, gleich gegenüber auf der anderen Seite der Seine. Als sie die Wohnung an der Kreuzung Exelmans-Rue Versailles unmittelbar vor Lucilles Geburt 2004 bezogen, waren seine privaten Träume in Erfüllung gegangen.
Und jetzt kam dazu die Stellung am Institut Pasteur. Er war Louise unendlich dankbar, dass sie ihm diese Möglichkeit eröffnet hatte, aber noch dankbarer war er dem Minister, der seinen Schwiegersohn unbedingt auf den Posten des Chefarztes befördern wollte, womit Henri diese Qual erspart blieb. Natürlich hätte er als Chefarzt mehr verdient, den direkten Kontakt zu Patienten reduzieren, lästige Arbeit delegieren können, aber allein die Vorstellung, für die Effektivität einer ganzen Abteilung verantwortlich zu sein, hatte ihm Magenschmerzen verursacht. Er müsste Rechenschaft ablegen über die Leistungen seiner Mitarbeiter, die Verweildauer von Patienten, die finanzielle Gebarung oder die Anzahl der Todesfälle. Gesundheit und Krankheit waren messbare Größen, für jeden Patienten und von jedem Patienten klar zu definieren. In der Forschung liegen die Verhältnisse nicht so deutlich vor Augen. Die Erwartungen mochten noch so hoch sein, Fortschritte ließen sich nicht leicht objektivieren. Henri erhoffte sich davon ein wenig Freiraum, etwas weniger Druck, wenn nicht alles sofort nach Wunsch funktionierte.
Er hatte den Abwasch beendet und konnte sich endlich die Hände trocknen. Die Gewissheit, dass sie beim Säubern der Arbeitsplatte wieder nass würden, machte ihn nervös. Mit zusammengebissenen Zähnen meisterte er aber auch diese Herausforderung. Schließlich stellte er die restliche Sauce und die halbe Flasche Weißwein auf das Fensterbrett neben dem Kühlschrank.
Louise kam in die Küche, um das leere Weinglas zu bringen, das sie in Ruhe noch ausgetrunken hatte.
»Wein und Sauce gehören in den Kühlschrank.«
»Du kannst sie ja hineinstellen, wenn du meinst«, entgegnete er emotionslos.
Sie hatte jetzt weder Zeit noch Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen, also nahm sie die beiden Dinge und erledigte es selbst.
Er sah ihr nach, als sie wieder ins Wohnzimmer ging. Sie war immer noch eine äußerst attraktive Frau, groß und schlank, mit langen nussbraunen Haaren. Ihre makellose Haut und die grazilen Gesichtszüge ließen sie jünger erscheinen, als sie war. Henri versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal Sex gehabt hatten. Und doch, sie waren schon zärtlich zueinander. Ein Küsschen hier, eine flüchtige Berührung, ab und zu eine Umarmung. Manchmal würde er ihr gern ein Kompliment machen, jetzt zum Beispiel, ohne Hintergedanken, ohne Konsequenzen, aber er wusste nicht, wie sie das aufnehmen würde. Henri war sicher, dass sich ihr laufend Gelegenheiten zu kleinen Affären boten, andere Männer waren nicht so zurückhaltend. Er war aber auch sicher, dass sie dieser Versuchung nicht nachgeben würde. So sehr es ihn selbst erstaunte, er war nicht eifersüchtig. Eher beneidete er all die selbstsicheren Männer, die jede Frau verführen konnten. Schon in der Schule missgönnte er den Kollegen ihre Erfolge. So unglaublich manche auch klingen mochten, er hatte sie nie in Frage gestellt. Mit seinen 57 Jahren hatte er mit nur zwei Frauen geschlafen, und beide hatte er geheiratet. Gern hätte er gewusst, wie sich ein One-Night-Stand anfühlt. Aber die zwei, drei Mal in seinem Leben, als sich eventuell die Gelegenheit geboten hätte, waren ihm seine Skrupel im Weg gestanden.
Die Arbeit in der Küche war erledigt, für diesen Abend hatte er keine Lust mehr auf irgendwelche Aktivitäten. Louise würde sicher noch länger das Wohnzimmer in Beschlag halten, also beschloss er, ein Bad zu nehmen und früh schlafen zu gehen. Er liebte es, sich im warmen Wasser zu entspannen und die Gedanken schweifen zu lassen. Dabei musste er an sein Team denken, das er beim Empfang kennengelernt hatte. Diese erste persönliche Begegnung hatte ihn seiner Überzeugung darin bestärkt, die richtigen Mitarbeiter ausgewählt zu haben. Grund genug, sich auf den ersten regulären Arbeitstag zu freuen.
Als er aus der Wanne stieg, spürte er die Nässe am ganzen Körper. Wie jedes Mal, wenn er ein Bad genommen hatte, fand sein Wohlbefinden damit ein jähes Ende. Und wie immer haftete das Wasser argwillig und widerspenstig an ihm. Wie lang und gründlich er sich auch abtrocknete, ein Gefühl von Feuchtigkeit würde ihn noch geraume Zeit verfolgen.
Diesmal konnte er trotz allem entspannt einschlafen. Die Vorfreude auf die neue Aufgabe und die Gewissheit, gut vorbereitet zu sein, hatten seine Sorgen für diesmal vertrieben.
Am Mittwochmorgen machte sich Henri zeitig auf den Weg. Er wollte jedenfalls vor allen anderen dort sein. Er hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, seinen neuen Arbeitsplatz eingehend zu begutachten. Auch wollte er die ungewohnte Umgebung auf sich wirken lassen.
Jahrelang hatte er genossen, die knapp 600 Meter zwischen seiner Wohnung und dem Krankenhaus zu Fuß zurückzulegen. Für die mehr als vier Kilometer zum Institut Pasteur im benachbarten 15. Stadtbezirk musste er eine andere Lösung finden. Seine Frau wäre mit dem Wagen gefahren. Seit sie sich vor ein paar Jahren ein Elektrofahrzeug gekauft hatte, machte sie keinen Schritt mehr zu Fuß. Henri war es noch nicht gelungen, ihr klarzumachen, dass auch Elektroautos Energie verbrauchen, die erst einmal erzeugt werden musste.
Sein eigener Wagen stand meist in der Garage, weshalb er es auch nicht für notwendig erachtet hatte, auf eine neue Technologie umzusteigen. Sein ökologisches Gewissen beruhigte er, indem er zu Fuß ging oder öffentliche Verkehrsmittel benütze. Immerhin war auch der neue Weg zur Arbeit nicht einmal halb so lang wie jener in seiner Anfangszeit am Krankenhaus Georges Pompidou, als er noch im 18. Bezirk gewohnt hatte.
Auf dem Weg zur Metrostation Chardon-Lagache machte er sich wieder einmal Gedanken darüber, ob es recht von ihm gewesen war, Louise zu dieser Wohnung zu überreden. Ihnen war von Anfang an klar gewesen, dass sie sich eine Bleibe in der Avenue Foch zumindest in absehbarer Zeit nicht würden leisten können. Die finanziellen Angebote ihres Vaters hatte Louise rundweg abgelehnt. Sie wollte sich keinesfalls von ihrer Familie abhängig machen, und Henri konnte das nur recht sein. Als Louise vorschlug, als Alternative den Stadtrand in Betracht zu ziehen, hätte Henri beinahe die Fassung verloren. Wozu war er mit so viel Mühe der Vorortgesellschaft entflohen, hatte auf seine Familie und Freunde verzichtet, um dann wieder aus der Stadt hinauszuziehen? Ihr Einwand, dass zum Beispiel Boulogne-Billancourt ein vornehmer Ort mit allerbester Gesellschaft sei, nicht zu vergleichen mit seinem elenden Noisy-le-Sec, und kaum zu unterscheiden von den nobelsten Adressen im Pariser Zentrum, hatte ihn erst recht in Rage gebracht. Es war ihm immer noch unangenehm und peinlich, mit seinen Wurzeln in Verbindung gebracht zu werden, es machte ihn klein und unbedeutend. Und außerdem, hatte er erwidert, wenn es doch kaum zu unterscheiden sei von Paris, dann könne man ja gleich hier bleiben und müsste nicht partout die Stadtgrenze überschreiten.
Vierundzwanzig Jahre lang hatte er diese Überlegungen Tag für Tag auf seinem Weg zum Krankenhaus hin und her gewälzt. Und jedes Mal war er zu der Erkenntnis gekommen, dass die Wohnung im 16. Bezirk ein hervorragender Kompromiss war. So waren sie innerhalb der Stadt, im Quartier Auteuil, einem der vornehmeren Pariser Stadtviertel, das im Westen an den Park und im Süden sogar an Boulogne-Billancourt grenzte. Und obwohl sich nur sein Weg zur Arbeit verändert hatte, dachte er auch an diesem Morgen wieder darüber nach, ob ihr Leben dadurch erneut beeinträchtigt würde. Die Strecke bis zur Metro reichte gerade aus, um zum selben Ergebnis wie in den letzten Jahren zu kommen.
Das Gedränge in der U-Bahn hinderte ihn an weiteren Gedankengängen. Als er am Institut Pasteur ankam, fand er seine Mannschaft bereits versammelt im Eingangsbereich. Der Weg zum neuen Labor war kompliziert, weshalb der Portier sie begleitete. Nun standen sie also in einer Runde mitten im Laborraum – ein ausreichend großes Besprechungszimmer für drei Wissenschaftler, drei Assistenten und sieben Labortechniker stand nicht zur Verfügung.
»Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitarbeiter«, begann Henri seine bestens vorbereitete Rede, »nachdem wir gestern die Formalitäten hinter uns gebracht haben, darf ich Sie heute zu unserem ersten Arbeitstag begrüßen. Wie der Herr Minister bereits auf der Pressekonferenz betont hat, liegt eine große Aufgabe vor uns. Die Problemstellung ist nicht neu, aber man erwartet von uns eine Lösung innerhalb der nächsten fünf, sechs Jahre. Allein im vergangenen Jahr sind weltweit mehr als sechs Millionen Menschen an antibiotikaresistenten Keimen verstorben. Wenn wir dieser Entwicklung nicht Einhalt gebieten können, wird die Resistenz von Bakterien über kurz oder lang die höchste Sterblichkeitsrate aller Krankheiten verursachen. Die Herausforderung ist enorm, deshalb erwarte ich vollen Einsatz, ich baue auf Ihre Professionalität und Ihre Ideen.
Wie Sie alle wissen, hat Frau Dr. Morin bereits eine bemerkenswerte Arbeit zu diesem Thema verfasst, die wir natürlich diskutieren werden. Auch Herr Dr. Watanabe ist schon geraume Zeit auf diesem Gebiet tätig. Deshalb freue ich mich besonders, dass es gelungen ist, dieses gemeinsame Potential hier zu versammeln. Wir unterstehen mit unserem Projekt direkt dem Herrn Minister für Gesundheit, wir sind also hinsichtlich der Finanzierung unabhängig vom Institut, das uns quasi nur die Infrastruktur zur Verfügung stellt. Die Regierung, beziehungsweise das Parlament, ja ich möchte sagen, das gesamte französische Volk erwartet von uns, dass wir die Lorbeeren für das erste unbesiegbare Medikament hier nach Frankreich holen. Überlassen wir das Feld nicht den USA oder Indien, wo die Forschungen auch schon weit fortgeschritten sind, wenn man den letzten Publikationen glauben darf.
Und damit bin ich bereits bei Punkt eins unseres Arbeitsplans: Wir brauchen Informationen, wir brauchen Statistiken, und zwar aus beiden Richtungen. Damit meine ich, dass wir sowohl die letzten vielleicht zwanzig Jahre hinsichtlich ihrer Veränderlichkeit analysieren müssen, also der Frage nachgehen, wie sich die Sterblichkeit entwickelt hat, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Wir benötigen aber auch eine umfassende Bestandsaufnahme des Status quo der weltweiten Forschung. Ich weiß, dass es nicht leicht sein wird, an Daten heranzukommen, die nicht oder noch nicht publiziert sind. In dieser Hinsicht vertraue ich voll und ganz auf unsere junge Assistentin und ihre beiden männlichen Kollegen, die einer Generation entstammen, der im Cloudnet kein Trick mehr unbekannt ist. Erst wenn wir wissen, auf welchem Forschungsstand sich unsere Konkurrenz befindet, vor allem aber, wie lange sie schon vergeblich in die eine oder andere Richtung gearbeitet hat, können wir unseren eigenen Weg festlegen.«
Henri hörte sich gern reden, er hätte immer schon gern unterrichtet. Vielleicht wäre das seine wahre Berufung gewesen, aber dazu war es nie gekommen.
»Ich habe in dieser Hinsicht bereits ein Konzept zusammengestellt«, fuhr er fort, »und darf daher unsere beiden jungen Kollegen bitten, unsere Konkurrenz soweit wie möglich zu durchleuchten. Das wichtigste Forschungszentrum in den USA befindet sich auf der Militärbasis in Frederick, Maryland, in Indien hat sich die Stadt Hyderabad zu einem einzigen biologisch-pharmakologischen Forschungszentrum entwickelt. Im sogenannten ›Genome Valley‹ sind alle einschlägigen Firmen konzentriert, an deren Informationen wir herankommen müssen. Frau Morin und Herrn Watanabe möchte ich bitten, alle relevanten Publikationen der letzten zehn Jahre zusammenzutragen, während ich selbst mich um die Statistiken kümmere, was die Entwicklung der Resistenzen im Allgemeinen und die Sterblichkeitsrate im Besonderen betrifft.
Ich denke, damit werden wir die nächsten drei bis vier Wochen beschäftigt sein, sodass wir uns dann gegen Ende November in Klausur begeben können, um die Ergebnisse auszuwerten und einen Arbeitsplan für die nächsten Monate zu erstellen.
Gibt es diesbezüglich irgendwelche Fragen oder Unklarheiten? Nicht? Nun, dann lassen Sie uns an die Arbeit gehen, die Zeit drängt. Ach ja, vielleicht könnten wir uns darauf verständigen, wöchentlich einen kurzen Bericht zu verfassen, damit ich einschätzen kann, wie wir vorankommen. Danke, und gute Arbeit vorerst.«
Wie nach dem lang herbeigesehnten Schlussakkord eines zu langen Musikstückes applaudierten alle, beinahe reflexartig und ohne Enthusiasmus.
Die Techniker zogen sich in den hinteren Laborraum zurück, um die Ausstattung in Augenschein zu nehmen und die Geräte zu testen, während Henri ...
»Monsieur Duritels!«
»Ja, bitte?«
Fast unhörbar für die anderen versuchte Madame Morin ihn beiseite zu holen. »Monsieur Duritels, ich sehe, Sie haben sich gut vorbereitet auf diesen Tag und Sie haben Ihre Prioritäten, aber ich möchte doch gern etwas einwenden. Ich wollte das nicht vor den anderen sagen, um nicht jetzt schon eine Diskussion loszutreten, aber ich denke, dass wir viel Zeit sparen könnten, wenn wir uns ein bisschen weniger um die Konkurrenz kümmerten.«
»Aber ...«
»Sollten wir nicht«, ließ sie ihn nicht zu Wort kommen, »sollten wir nicht vielmehr unser eigenes Wissen zusammenfassen, nicht das Wissen der anderen? Wir sind alle Fachleute, wir alle haben eine Meinung und Ideen, denke ich jedenfalls. Lassen Sie uns doch ein gemeinsames Brainstorming machen, bevor wir nach außen blicken. Wenn dabei nichts herauskommt, können wir immer noch Ihren Weg verfolgen.«
»Aber das ist genau der Zeitverlust, den ich vermeiden möchte.«
»Haben Sie meine Publikation gelesen? Ich hätte gern Ihre Meinung dazu gehört, und die von Herrn Dr. Watanabe. Auch seine Publikationen auf diesem Gebiet müssen wir durchsehen, vielleicht ist da schon ein Weg vorgezeichnet.«
»Natürlich habe ich Ihre Arbeit gelesen, und ich finde sie hochinteressant. Aber ich weiß nicht, ob das ein gangbarer Weg ist. Und was, wenn ein anderes Institut schon dieselbe Idee hatte?«
»Wir sind ja vielleicht schneller.«
»Andere haben ein ganzes Rudel von Mitarbeitern. In Indien sind sicher hunderte Wissenschaftler damit beschäftigt, und wir sind nur zu dritt.«
»Sie wissen, dass es darauf nicht ankommt. Eine einzige Idee genügt, wenn sie richtig ist. Mich würde deshalb brennend interessieren, wie Ihre eigene Meinung aussieht. Ich habe bis jetzt keine Publikation von Ihnen entdecken können.«
Plötzlich fühlte sich Henri klein und unerfahren, wie ein Studienanfänger unter lauter Fachleuten. »Meine Erfahrungen liegen im praktischen Bereich«, gab er fast kleinlaut zurück. Wieso konnte ihn schon wieder eine Frau derart einschüchtern? Gerade noch war er so stolz auf seine Rede gewesen.
»Also gut«, lenkte er ein, »ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich werde mir heute Abend Ihre Arbeit noch einmal durchsehen, und morgen setzen wir uns dann zusammen und reden darüber.«
»Danke, das gefällt mir. Ich werde Raoul auch gleich ein Exemplar geben, damit er morgen nicht unvorbereitet kommt.«
»Ich dachte eigentlich, dass nur wir beide ...«
»Nein, nein, Dr. Watanabe soll schon auch dabei sein, schließlich sind wir ein Team. Und wenn ich Sie von meiner Theorie überzeugen kann, dann wird uns seine Erfahrung von unschätzbarem Wert sein.«
Hatte sie Angst, mit ihn allein zu sein? Brauchte sie Watanabe zur Wahrung der Etikette? Wahrscheinlich war es sogar besser so, in Gegenwart eines anderen Mannes wäre sie vielleicht weniger dominant. Henri überlegte, wie er Watanabe auf seine Seite ziehen könnte. Jacquelines Arbeit brauchte er nicht nochmals zu lesen, er hatte sie noch in Erinnerung. Und er war nicht überzeugt von ihren Ideen, sie schienen ihm skurril und an den Haaren herbeigezogen.
»Dann treffen wir uns also morgen um zehn Uhr, ich informiere gleich Ihren Kollegen«, versuchte er die Diskussion zu beenden.
»Danke, dann können Sie ihm auch gleich meine Publikation mitgeben.«
Er fühlte sich zum Laufburschen degradiert, als sie ihm ein Exemplar der Londoner Monatszeitschrift Future Microbiology in die Hand drückte. »Und das ist noch extra für Sie«, ergänzte sie und überreichte ihm noch eine Ausgabe von Science. Hatte die bedeutendste aller naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften etwa auch einen Artikel von ihr publiziert? Davon träumen die meisten Wissenschaftler ein Leben lang vergeblich. Und tatsächlich verriet ihm das Inhaltsverzeichnis, dass diese Ausgabe von Science aus dem Jahr 2026 einen auszugsweisen Abdruck ihres Artikels aus Future Microbiology enthielt. Henri hatte diese Zeitschriften bisher nie gelesen, zu sehr war er im Krankenhausalltag gefangen gewesen. Er musste sich eingestehen, dass ihn Forschung bislang nicht sonderlich interessiert hatte. Erst bei der Sichtung der Bewerbungsschreiben war er auf den Artikel von Frau Dr. Morin gestoßen.
So sehr ihn auch die Sehnsucht nach einem Leben fern von kranken Menschen umgetrieben hatte, so wenig war er darauf vorbereitet. Der Wunsch, das Krankenhaus zu verlassen, war nie mit einem konkreten Ziel verbunden gewesen, so war er unversehens in einem Aufgabenbereich gelandet, von dem er wenig Ahnung hatte. Trotzdem war er enttäuscht von Jacquelines Reaktion. Er hätte sich mehr Loyalität erwartet, etwas Dankbarkeit für die neue Anstellung. Immerhin war er an der Auswahl seiner Mitarbeiter maßgeblich beteiligt gewesen, folglich schuldete sie ihm etwas.
Watanabe war gerade in einem Gespräch mit den beiden Assistenten. »In dieser Zeitschrift ist ein Artikel von Frau Dr. Morin«, nahm er ihn beiseite. »Wir wollen uns morgen um zehn Uhr treffen, um darüber zu diskutieren.«
»Ich kenne den Aufsatz«, gab Watanabe zurück, »den habe ich schon gelesen, als er erschienen ist. Eine großartige Arbeit, ich freue mich, dass Sie darauf zurückkommen.«
»Ich bin nicht davon überzeugt«, versuchte Henri einen Einwand. »Sie haben doch selbst auch einschlägige Ideen publiziert.«
»Jacquelines Ansatz ist wesentlich besser. Ich habe sogar schon ein paar Vorschläge, wie man ihre Theorie umsetzen könnte.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Ja, natürlich. Lassen Sie uns morgen in Ruhe darüber reden. Ich wollte nur den beiden Burschen schnell noch ein paar Tipps fürs Cloudnet geben, Sie haben ihnen ja eine schwierige Aufgabe vorgesetzt.«
»Tatsächlich?«
»Datenbeschaffung von der Konkurrenz ist keine Kleinigkeit. Zum Problem der Recherche kommt ja immer noch die Frage der Legalität.«
»Ja, ja, Sie haben recht.«
»Keine Sorge, ich helfe den beiden, soweit ich kann. Ich habe da einige Erfahrung auf dem Gebiet. Während meines Studiums gab es zwar noch kein Cloudnet, aber ich habe bei einem Internetprovider gearbeitet, um meinen Lebensunterhalt zu finanzieren.«
»Sie haben in Japan studiert, nicht wahr?«
»Nur zum Teil. Begonnen habe ich mein Studium an der Universität Lyon, wo auch mein Vater unterrichtete.«
»Richtig, Sie sind ja in Frankreich geboren.«
»Meine Mutter ist Französin. Aber mein Chemieprofessor war Japaner, wie mein Vater, und als er eine Berufung an die Tokyo Universität angenommen hat, bin ich mit ihm gegangen, um dort mein Studium abzuschließen. Er war es auch, der mir gleich nach dem Studium die Stellung bei dem Pharmakonzern in Lyon vermittelt hat.«
»Dort haben Sie Impfstoffe entwickelt, nicht wahr?«
»Ich war mit der Weiterentwicklung des aktuellen Typhusimpfstoffes beschäftigt. Wir konnten einige schöne Erfolge erzielen.«
»Ich beneide Sie um Ihre Fähigkeit, mehrere Sprachen zu beherrschen«, versuchte Henri ein Kompliment. Watanabes Wohlwollen konnte ihm sicher helfen. »Ich habe nur mit Mühe Englisch gelernt, und richtig anfreunden konnte ich mich nie damit.«
»Machen Sie sich nicht draus. Als Franzose verfügen Sie ohnehin über eine der bedeutendsten Sprachen, die Sprache der europäischen Kaiserhäuser.«
»Die es fast alle nicht mehr gibt«, gab Henri lachend zurück. »Also gut, dann bis morgen um zehn Uhr.«
»Ja, bis morgen.«
Henri blieb wie angewurzelt stehen. Hatte er es notwendig, sich von einem fast zwanzig Jahre jüngeren Kollegen trösten zu lassen? Er kam sich gänzlich überflüssig vor. Brauchte ihn hier eigentlich irgendjemand? Alle hatten sich an ihre Arbeitsplätze zurückgezogen, um zu erledigen, was er ihnen aufgetragen hatte. So schien es jedenfalls. In Wahrheit war ihm bereits eine Stunde nach Beginn seiner Tätigkeit die Führung aus der Hand geglitten. Er fühlte sich entmannt, betrogen um den Respekt, den man ihm hätte schulden müssen.
Henri sehnte sich zurück in seine alte Position. Im Krankenhaus waren die Hierarchien klar geregelt, seine Kompetenz als Oberarzt war nie angezweifelt worden. Man musste auch keine Arbeit erfinden, sie war einfach da, mehr als genug. Sie war anstrengend, mühsam, allzu oft ekelerregend und abstoßend, aber der Umgang war nie respektlos. War es ein Fehler gewesen, diese Stellung aufzugeben? Hatte er es nur Louise zuliebe getan? Er wusste gar nichts mehr, alles war nur noch in einen undurchdringlichen Nebel getaucht.
Er nahm seine ganze Kraft zusammen und ging in sein Büro – als Einziger im Team hatte er ein separates Zimmer. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und sah durch das große Fenster in den Laborraum, in dem die anderen Schreibtische untergebracht waren. Emma, die junge Praktikantin aus Italien, konnte er gerade nicht sehen, sie war vermutlich bei den Technikern. Was wollte sie dort, war sie auf einen Flirt aus? Vielleicht ging es ihn ja nichts an, aber allzu private Kontakte wollte Henri in seinem Team nicht dulden. Das konnte schnell zu Konflikten führen. Théo und Lucas saßen an ihren Computern und arbeiteten, aber Raoul und Jacqueline standen jetzt an einem der Labortische und unterhielten sich. Sprachen sie über ihn? Machten sie sich gerade lustig über seine Unerfahrenheit, planten sie bereits eine Intrige? Henri wurde klar, dass er etwas unternehmen musste, um seine Position hier zu festigen und sich Respekt zu verschaffen.
Auch auf seinem Schreibtisch stand einer dieser neuen Bildschirmprojektoren, die nichts anderes waren als ein etwa siebzig Zentimeter langer und zwei Zentimeter dicker Metallstab mit zwei Gummifüßen. Henri hatte bisher nur entfernt davon gehört, aber nie einen aus der Nähe gesehen. Wie alle anderen besaß auch er ein Y-Com, hatte aber auch dessen virtuellen Bildschirm noch nie benützt. Im Krankenhaus hatte ihm ein mindestens zehn Jahre altes Gerät zur Verfügung gestanden, das er bedienen konnte, wenn es nötig war. Meist erledigten jedoch die Assistenzärzte oder Krankenschwestern die Schreibarbeiten. Bei Théo und Lucas konnte er sehen, wie ein scheinbar realer Bildschirm vor ihnen in die Luft projiziert wurde, dessen Unterkante der besagte Metallstab war. Er betrachtete das Gerät auf seinem Schreibtisch näher, konnte aber keinen Knopf oder Ähnliches finden, womit man es hätte einschalten können. Als er den Stab aufheben wollte, um an der Unterseite nachzusehen, erschien, ausgelöst durch die Berührung, der Bildschirm.
Henri erschrak so heftig, dass er den Stab von sich warf. Den lauten Aufschlag auf dem Boden hatte man offensichtlich auch im Laborraum gehört, denn alle sahen erschrocken in seine Richtung. Einen Moment lang bewegte sich niemand, aber als Henri aufstand, um den Stab zu suchen, kehrte auch im Labor wieder Leben ein. Raoul und Jacqueline beendeten ihr Gespräch und gingen an ihre Schreibtische.
Als Henri den Stab aufhob, verschwand der Bildschirm ebenso rasch, wie er erschienen war. Er stellte das Gerät auf den Tisch und berührte es erneut. Da war sie also, die neueste Computertechnologie. Die Benutzeroberfläche sah im Wesentlichen vertraut aus, und da der Metallstab auch eine virtuelle Tastatur auf den Tisch projizierte, konnte er das Gerät benützen. Diesmal nahm er sich fest vor, seine Computerkompetenz zu verbessern, in diesen Bereich musste er ganz einfach einiges an Zeit investieren.
Die Aussicht, seinen Kollegen in dieser Hinsicht bald auf Augenhöhe begegnen zu können, ließ seine Laune augenblicklich steigen. Er würde sich die Führungsrolle nicht streitig machen lassen, auch wenn ihm manche seiner Schwächen mehr denn je bewusst geworden waren. Er musste sich nur auf seine Stärken besinnen, das waren vor allem sein Organisationstalent und seine Fähigkeit, bei Konflikten zu vermitteln. Und sie sollten seine Fachkenntnisse über Bakterien nicht unterschätzen, auch wenn er noch nie etwas publiziert hatte. Auf diesem Gebiet konnte man ihm nicht leicht etwas vormachen. Sollten die anderen ruhig mit ihren Ideen kommen, er würde alles in die rechten Bahnen lenken und für eine systematische Vorgehensweise sorgen. Gestärkt durch diese Überlegungen machte er sich an seine erste Cloudnet-Recherche.
Gerade als sein Magen in ihm den Gedanken an ein Mittagessen aufkommen ließ, sah er den Rest seines Teams gemeinsam das Labor verlassen, um, wie er vermutete, Essen zu gehen – alle, außer Emma. Niemand war auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, ob er nicht mitkommen wolle. Natürlich hätte er abgelehnt, schließlich musste er eine gewisse Distanz wahren. Der Respekt, den er sich erwartete, verlangte auch das eine oder andere Opfer. Aber sie hätten doch fragen können, aus Höflichkeit zumindest.
Er wartete etwa zehn Minuten, dann beschloss er, nach Hause zu gehen. Für heute musste es genügen. Die Basis war gelegt, sein Team installiert, im Moment waren sie nicht auf ihn angewiesen. Im Vorbeigehen sah er durch die einen spaltbreit geöffnete Tür zum hinteren Laborraum. Da war Emma! Mit dem Rücken zu ihm saß sie auf einem der Labortische, die Hände nach hinten aufgestützt, den grünen Laborkittel weit geöffnet. Mehr konnte er in dem kurzen Moment nicht erkennen, und mehr wollte er auch nicht wissen. Er verließ das Institut und machte sich auf den Heimweg, zu Fuß diesmal. Die Bewegung tat ihm gut und er stellte fest, dass seine Gedanken wieder in Gang kamen. Langsam wurde ihm klar, dass er die Sache falsch angepackt hatte. Die drei Wochen Freizeit hatte er genützt, um eine organisatorische Basis zu entwerfen, die Lebensläufe seiner Mitarbeiter zu studieren, und nicht zuletzt, um seine Begrüßungsrede vorzubereiten. Er musste sich eingestehen, dass er keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie die gestellte Aufgabe am besten zu lösen wäre.
Eigentlich schien es unmöglich. Wie sollten sie mit lediglich drei Fachleuten ein Medikament, eine Methode oder was auch immer entwickeln, um eines der größten medizinischen Probleme in den Griff zu bekommen, wenn nicht sogar das Problem schlechthin. Die Zahl, die er in seiner Ansprache genannt hatte, war sicher nicht übertrieben gewesen. Sechs Millionen Tote auf Grund von Antibiotikaresistenz, das hatte er der Tagespresse entnommen. In den nächsten Tagen würde er diese Zahl sicher auf Basis von seriöseren Quellen verifizieren können. Aber trotzdem, er wollte sich zwingen, über mögliche Lösungen nachzudenken. Morgen würde ihn Frau Dr. Morin mir ihren Ideen bombardieren, und so wie es aussah, stand Watanabe auf ihrer Seite.
Inzwischen hatte Henri die Boulevards des Maréchaux erreicht, die nach Überquerung der Seine direkt in den Boulevard Exelmans mündeten. Damit hatte er die Hälfte der Strecke zurückgelegt, also kein Grund, jetzt noch eine Option mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu überlegen. Solang es nicht regnete, war dieser Weg auch zu Fuß ausreichend bequem zu schaffen. Und so hatte er noch mindestens zwanzig Minuten, um weitere Überlegungen anzustellen.
Keine Frage, Antibiotikaresistenzen waren das tägliche Brot jedes Krankenhauses. Auch wenn die dermatologische Abteilung davon weniger betroffen war als etwa Geriatrie oder Intensivmedizin, so war er doch häufig damit konfrontiert gewesen. Lange Zeit hatte man in Krankenhäusern die Meinung vertreten, das Problem durch perfektionierte Hygiene unter Kontrolle bringen zu können, doch inzwischen war allen klar, dass die Lösungen vorrangig im pharmakologischen Bereich zu finden waren.
Henri war mit Bakterien quasi aufgewachsen. Als Kind hatten ihn alle möglichen Infektionen geplagt, deren Wirkungsweise er im Studium verstehen gelernt hatte. In den 1990er-Jahren wusste man noch wenig über lernfähige Bakterien, und das Vertrauen in Antibiotika war nahezu grenzenlos. Wie viele Ärzte seiner Generation gehörte auch er anfangs zu den Ungläubigen, die nicht wahrhaben wollten, wie gravierend das Problem werden konnte. Heute machte er sich keine Illusionen mehr über die Tragweite der Gefahr, weshalb ihm auch die Bedeutung seiner neuen Aufgabe bewusst war.
Wenn er konkret darüber nachdachte, war die Lösung eigentlich ganz klar zu erkennen. Wenn eine Bakterienart Resistenzen entwickelte, musste man für diese Spezies ein neues Medikament entwickeln. So einfach war das. Natürlich hatten die Bakterien immer einen Vorsprung, also bestand die Aufgabe seiner Forschungsgruppe darin, die Methoden zu verbessern und vor allem zu beschleunigen – wie eine Polizeitruppe, der die Verbrecher immer einen Schritt voraus sind. Henri wollte den konservativen Weg gehen, mit Planung und Organisation, Systematik, präzisen Richtlinien und Standardmodellen.
Als er heimkam, war Louise wieder im Wohnzimmer mit der Erstellung von Listen und Vorbereitungen für ihren neuen Cloudnet-Auftritt beschäftigt. Er wollte sie nicht stören und verließ die Wohnung wieder, um das Bistro an der gegenüberliegenden Straßenecke aufzusuchen. Dort bestellte er das Mittagsgericht mit Linsensuppe und Poularde en cocotte, dazu ein Glas Rotwein. Das Hühnchen war vorzüglich, der Wein wie ein zarter Windhauch in der milden Herbstsonne, genau wie es um diese Tageszeit sein musste. Henri war versöhnt mit sich und der Welt. Seine Lösungsansätze waren überzeugend, das Team würde sie mühelos umsetzen, vor allem auf seine attraktive Kollegin hielt er große Stücke. Daheim erwartete ihn eine wunderbare Gefährtin zu einem gemeinsamen Abendessen, mit einem Wort: Er hatte seine Selbstachtung wieder gefunden.
Zurück in der Wohnung zog er sich in die Küche zurück, nahm sein Y-Com zur Hand und aktivierte den Computermodus in der Hoffnung, dessen Funktion zu ergründen.
»Wie war dein Tag?«, fragte Louise, als sie einige Stunden später in die Küche kam, um das Abendbrot vorzubereiten.
»Was hältst du davon, wenn wir zur Feier des Tages ausgehen? Wir könnten italienisch essen.«
»In der Rue Jouvenet gibt es ein neues japanisches Restaurant.«
»Noch eines? Das ist ja die reinste Inflation.«
»Ich bestelle uns einen Tisch in einer halben Stunde. So kann ich noch eine Kalkulation fertig machen.«
Henri freute sich auf die gemeinsame Zeit, obwohl er japanisches Essen nicht übermäßig schätzte. Aber wer weiß, was aus diesem Abend noch werden konnte. Eine halbe Stunde später legten sie schweigend die wenigen Schritte bis zu dem neuen Lokal zurück, wo sie den reservierten Tisch bereits vorbereitet fanden. Die Atmosphäre war gemütlich, das Essen besser als erwartet, und so entwickelte sich sogar eine Art Gespräch.
»Ich glaube, meine Rede ist gut angekommen.«
»Du hast dich ja lang genug vorbereitet.«
»Planung ist das A und O des Erfolges.«
»Ich glaube, das hast du schon einmal gesagt.«
»Heute noch nicht.«
»Wie sind deine Mitarbeiter?«
»Fähige Leute, kompetent. Ich denke, wir werden gute Arbeit leisten.«
»Eine hübsche Frau dabei?«
»Wie man’s nimmt.«
»Was soll das denn heißen?«
»Also wirklich hübsch ist sie nicht.«
»Wie alt?«
»Achtundvierzig, wenn ich mich recht erinnere.«
»Hast du sie etwa gefragt?«
»Ich habe doch ihren Lebenslauf.«
»Und die anderen?«
»Einer ist Japaner – aber das habe ich sicher schon erzählt.«
»Schon. Wie alt?«
»Vierzig. Und zwei junge Assistenten, die studieren eigentlich beide noch.«
»Also sehr üppig ist das nicht. Ich habe mir das alles etwas größer und bedeutender vorgestellt.«
»Wir kommen zurecht. Es kommt schließlich nicht auf die Anzahl der Personen an, sondern auf die Fähigkeiten und die richtigen Ideen.«
»Und wer soll die haben? Die nicht so hübsche Achtundvierzigjährige?«
»Du kannst dir wohl nicht vorstellen, dass die Ideen von mir kommen?«
»Das meinst du nicht ernst.«
»Gerade auf dem Heimweg habe ich Lösungen entwickelt, die morgen alle überraschen werden.«
»Ich bin gespannt.«
Henri stocherte unsicher mit den Stäbchen in seinem Essen. Dann fasste er einen Entschluss, um die Situation zu entspannen.
»Willst du heute mit mir schlafen?«, fragte er.
»Sei nicht albern, du weißt wieviel ich im Moment um die Ohren habe.«
»Verzeih, bitte!«
»Wofür entschuldigst du dich?«
»Ich weiß nicht.«
»Lass uns heimgehen, morgen ist auch noch ein Tag.«
»Es war schön, wieder einmal in Ruhe mit dir zu plaudern.«
»Das war es.«
Gehen wir in mein Büro«, begrüßte Henri seine beiden Kollegen, als er am Donnerstagmorgen das Labor betrat, »hier sind wir ungestört. Ich habe gestern noch einen Masterplan entworfen, der uns bei richtiger Handhabung den Weg weisen wird.«
»Welche Rolle spielt dabei meine Theorie?«, warf Jacqueline ein.
»Noch keine. Ich möchte zuerst die Rahmenbedingungen festlegen, unter denen wir arbeiten werden.«
»Aber ...«
»Haben Sie Geduld, Jacqueline«, versuchte Watanabe sie zu beruhigen, »hören wir uns doch erst das Konzept an!«
»Sehen Sie, liebe Kollegen, Planung ist das A und O jedes wissenschaftlichen Erfolges. Wir dürfen uns keinesfalls Hals über Kopf in das Projekt stürzen. Es ist doch so: Wir wissen ziemlich genau, wie die Bakterien ihre Resistenzen entwickeln, im Grunde genommen ist es immer Mutation oder Übertragung von einem auf ein anderes Bakterium. Auch für die Resistenzmechanismen gibt es schon eine brauchbare Systematik, von der Entwicklung alternativer Proteine, die Zielmutationen, die Überproduktion von Protein, und so weiter, sie kennen das ja.«
»Ich denke schon«, seufzte Jacqueline. »Und was ist jetzt der Plan?«
»Der Plan ist die Entwicklung einer Reihe von Standardmodellen, vereinfacht gesagt: Es gibt zehn bis zwölf unterschiedliche Arten, wie Bakterien eine Resistenz entwickeln können, und für jeden dieser Mechanismen müssen wir eine Gegenstrategie festlegen. Diese zehn bis zwölf Standardmodelle werden sicherstellen, dass jede neu entdeckte Resistenz auf schnellstem Wege bekämpft wird. Das Ganze ergibt eine Art Matrix aus Resistenzen und Strategien, die man benützen kann wie ein Kochbuch mit Rezepten für jede Gelegenheit.«
Henri ließ den Klang seiner Worte im Raum wirken. Für einige Sekunden war es absolut still.
»Faszinierend«, seufzte Jacqueline.
»Nicht wahr? Herr Watanabe, was halten Sie davon?«
»Hm, ja – «
»Schön, dann sind wir ja einer Meinung. Ich werde in den nächsten Tagen die Grundzüge dieser Matrix ausarbeiten, die wir dann mit unseren Daten aus der Statistik und den gesammelten Publikationen füllen können. So erarbeiten wir uns Schritt für Schritt ein Modell nach dem anderen.«
Henri hatte sich bereits erhoben und zwei Schritte Richtung Tür gemacht, als Jacqueline, die demonstrativ sitzen geblieben war, ohne sich zu ihm umzuwenden, einwarf: »Dann können wir ja jetzt auch noch über meine Arbeit sprechen.«
»Das würde mich auch interessieren«, versuchte Watanabe ihr den Rücken zu stärken.
»Wenn Sie meinen. Ich dachte nur, es wäre praktikabler, erst die Liste aller relevanten Publikationen zu erstellen und nach Themen zu ordnen, damit wir sie systematisch durchgehen können – Ihre Arbeit natürlich eingeschlossen.«
»Dann werde ich eben nur mit Herrn Watanabe darüber diskutieren. Sie werden mir doch zuhören, Raoul?«
»Selbstverständlich. Wie gesagt, ich bin wirklich neugierig, Ihre Theorie im Detail zu erörtern.«
»Na gut, dann will ich mich nicht ausschließen«, gab Henri klein bei, während er wieder Platz nahm. »Bitte, Madame, wir sind ganz Ohr.«
»Man kann es eigentlich mit wenigen Wörtern erklären«, begann sie, »in einer Fachzeitschrift muss man die simpelsten Ideen immer ein bisschen ausschmücken. Wenn es zu einfach klingt, wird es nicht ernst genommen, das wissen Sie ja selbst.«
Henri wusste es nicht, und sie hätte auf diese Bemerkung gern verzichten können. Trotzdem leuchtete ihm ein, was sie gesagt hatte.
»Ich habe mich von der Tatsache inspirieren lassen, dass Bakterien die ältesten Lebewesen der Erde sind, die seit mindestens 250 Millionen Jahren existieren. Das wiederum bedeutet, dass jedes heute existierende Bakterium von diesen Ur-Wesen abstammt und daher eine, wenn auch noch so kleine, Information aus der Zeit der Entstehung des Lebens in sich trägt. So wie der Mensch winzige genetische Reste sowohl des Neandertalers als auch des Homo sapiens aufweist, besitzen auch Bakterien ihre eigene Ur-Information. Die müssen wir aufspüren«, wurde sie plötzlich emotional. »In der urgeschichtlichen Biomasse liegt der Code für alle Bakterien verborgen. Entschlüsseln wir ihn, können wir alle heute lebenden Mikroben nach Belieben beeinflussen.«
»Das klingt alles recht schön und gut«, wandte Henri ein, »aber wie sie selbst sagen – vorausgesetzt, ihre Annahme stimmt überhaupt – ist das ein urgeschichtlicher Code. Wie soll uns der helfen? Wir können diese Ur-Lebewesen schließlich nicht einfach rekonstruieren oder neu züchten.«
»Doch, doch«, warf Watanabe ein.
»Sie meinen wirklich, man könnte sie züchten?«
»Nein, ich meine, es gibt sie noch. In der Antarktis, tief im Eis, haben solche Bakterienarten überlebt. Das habe ich erst vor ein paar Jahren in einer amerikanischen Publikation gelesen.«
»Das ist ja grandios!« Jacqueline verlor beinahe die Fassung vor lauter Enthusiasmus. »Wir müssen unbedingt diesen Artikel finden, damit wir Kontakt mit den Kollegen in der Antarktis aufnehmen können.«
»Ich habe viele interessante Artikel gespeichert«, assistierte Watanabe. »Ich werde nachsehen, ob dieser Artikel nicht auch dabei ist.«
»Also, wenn Sie beide wirklich der gleichen Meinung sind, dann verfolgen Sie meinetwegen diese Theorie und halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich werde inzwischen mit den Assistenten meinen Plan weiterverfolgen.«
»Es kann sicher nicht schaden, mehrere Optionen gleichzeitig zu testen«, gab sich Jacqueline versöhnlich.
»Dann mache ich mich gleich auf die Suche nach dem Artikel. Kommen Sie mit mir, Jacqueline?« Watanabe machte sich auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz, Jacqueline folgte ihm.
Henri war zufrieden. Sollten sie doch ihren Wettbewerb haben, er würde ihnen schon zeigen, was er drauf hatte. So waren die beiden wenigstens aus dem Weg, und er konnte in Ruhe seiner eigenen Idee nachgehen. Er musste Emma finden. Wenn er so weit wie möglich verdeckt arbeiten wollte, brauchte er ihre Hilfe. Emma war hier nur für ein Jahr zu Gast, dann würde sie nach Italien zurückgehen. Sie konnte also kein Interesse an Intrigen gegen ihn haben.
»Hören Sie, Emma«, begann Henri, »ich habe soeben entschieden, dass unser Team in zwei Richtungen gleichzeitig forschen wird, um die Erfolgschancen zu steigern. Frau Morin und Herr Watanabe werden sich um Plan B kümmern, während ich Plan A verfolge, bei welchem Sie mich unterstützen werden.«
Er machte eine Pause, um Emma Gelegenheit zu einer Anmerkung zu geben. Da sie ihn unverwandt und regungslos ansah, fuhr er fort. »Also ich – ich meine Sie, Mademoiselle – wir, besser gesagt, also was ich sagen will ...« Wollte sie ihn verunsichern, oder lächelte sie ihn bloß an?
»Was ich meine, Sie werden mich darin unterstützen, die Daten aufzubereiten, die Statistiken zu sichten und zu ordnen. Am besten gehen Sie gleich zu Ihren Kollegen und sehen Sie, was die schon herausgefunden haben. Und, was ich noch sagen wollte, erzählen Sie bitte nicht herum, welcher Theorie ich nachgehe, und mit welchen Methoden. Ich würde gern Diskussionen vermeiden.«
Henri vertraute mit Recht darauf, dass Emma den Technikern alles erzählen würde, und dass auch die es nicht für sich behalten könnten. Wenn alle glaubten, er sammle nur Statistiken, würde sich niemand um seine eigentlichen Pläne kümmern. Sie hatten ihn bereits jetzt unterschätzt.
»Na klar doch!«, antwortete Emma, stand auf, schob ihren Rock zurecht und stolzierte mit einer Selbstsicherheit hinaus, um die Henri sie beneidete.
Ein paar Stunden später begann Henri sich auszumalen, wie er es anstellen konnte, sich unaufdringlich einem gemeinsamen Mittagessen anzuschließen. Wen sollte er ansprechen? Er konnte wohl kaum Frau Dr. Morin fragen, »Madame, was hielten Sie davon ...«, aber bei Watanabe erschien es ihm noch peinlicher.
»Docteur, haben Sie Lust auf Mittagessen? Was halten Sie von einem Imbiss im Comptoir Buffon?« Emma sah ihn mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln an, während sie lässig im Türrahmen lehnte. Henri hatte sie nicht kommen sehen. Er war so erschrocken, dass er ohne zu überlegen zustimmte:
»Aber gern, was für eine nette Idee. Das Lokal kenne ich noch nicht.«
»Wir haben es gestern Abend probiert, es ist richtig nett.«
Wen meinte sie mit wir, mit wem war sie abends ausgegangen? Und wie sollte er ein Mittagessen mit ihr allein über die Runden bringen? Er stand auf, und gemeinsam durchquerten sie den leeren Laborraum. An der Pforte stießen sie auf den dort wartenden Rest des Teams. Henri fiel ein Stein vom Herzen.
»Da seid ihr ja endlich«, rief Jacqueline, offenbar gut gelaunt. »Gehen wir also!«
Emma hakte sich bei Théo, dem jüngeren der beiden Assistenten, ein, und die kleine Gruppe, der sich auch drei Techniker angeschlossen hatten, machte sich auf, die Rue du Dr. Roux entlang.
»Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns, es gibt Neuigkeiten«, lächelte ihn Jacqueline an, als sie auf der Terrasse der Brasserie Platz genommen hatte. Henri hätte lieber einen Tisch im Innenraum gewählt, die kühle Herbstluft machte sich bereits deutlich bemerkbar. Er hatte nie die Gewohnheit der meisten Pariser verstanden, bei jeder Temperatur im Freien zu sitzen. Zugegeben, die vielen Heizstrahler temperierten die Luft auch im tiefsten Winter, aber Henri war die Energieverschwendung zuwider. Kaum hatte er sich gesetzt und nach der Tafel mit den Mittagsmenüs Ausschau gehalten, begann Jacqueline freudestrahlend:
»Raoul hat den Artikel schon gefunden. Es ist wunderbar, genau, wie er gesagt hat. Deshalb konnten wir schon beginnen, ...«
»Verzeihen Sie«, unterbrach Henri, »vielleicht sollten wir erst bestellen, dann haben wir Zeit, uns zu unterhalten.«
Er rief den Kellner und bat ihn, die Bestellungen aufzunehmen; sein Organisationstalent war soeben wieder erwacht. Nachdem er allen den Vortritt gelassen hatte, entschied er sich für ein Zweigangmenü mit einem halben Dutzend Schnecken und Ratatouille provencale. Dazu bestellte er drei Flaschen Rotwein für alle – er fand es wichtig, sich in dieser Situation großzügig zu zeigen.
Jacqueline hatte ungeduldig gewartet, bis alle ihr Y-Com mit dem Gerät des Kellners verbunden und die Bestellungen aufgegeben hatten: »Also, wie gesagt, wir haben den Artikel, und Raoul macht sich heute noch daran, den Kontakt herzustellen. Gleichzeitig konnten wir schon beginnen, ein paar mathematische Modelle für die Testphase zu entwickeln. Es wird wohl besser sein, wenn wir das selbst machen, im Cloudnet gibt es noch nichts Adäquates.«
»Das klingt ja schon einmal recht spannend«, täuschte Henri Interesse vor, während er in Wahrheit beobachtete, wie eine der Technikerinnen soeben eine Suppe serviert bekam. Was hätte Louise wohl gegessen? Wahrscheinlich Huhn, sie liebte es in allen Variationen.
»Wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte er höflicherweise, obwohl seine Gedanken immer noch bei Louise waren.
»Sobald ich den Kontakt hergestellt habe«, meldete sich Watanabe zu Wort, »gebe ich Ihnen Bescheid. Ich gehe davon aus, dass wir das Ansuchen um Bakterienproben offiziell über das Institut stellen müssen.«
»Das wird so nicht möglich sein.« Der Kellner brachte die Vorspeisen, was Henris Konzentration wieder auf seine Gesprächspartner lenkte. »Wie ich gestern schon erwähnt habe, sind wir direkt dem Ministerium für Gesundheit unterstellt, das Institut Pasteur stellt nur die Räume zur Verfügung.«
Eine Weile aßen sie schweigend, dann fuhr Henri fort: »Allerdings wird das Ministerium uns in keiner Weise helfen. Das Projekt ist zwar finanziert, für ein paar Jahre wenigstens, alles Übrige müssen wir aber selbst organisieren.«
»Das heißt, wir sind nicht nur als Forschungsgruppe sehr klein«, gab sich Watanabe besorgt, »wir sind auch allein gelassen. Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob wir vielleicht nur eine Alibiaktion sind, um dem Herrn Gesundheitsminister gute Presse zu verschaffen?«
»Raoul hat recht, wir sind nicht einmal mit anderen Instituten und Forschergruppen vernetzt«, gab ihm Jacqueline recht. »Und warum treten wir als Konkurrenz auf, wenn wir ohnehin zu klein sind?«
»Wie gesagt«, erklärte Henri, »die Regierung betrachtet das Projekt als nationale Herausforderung. Sie möchte die Lorbeeren nach Frankreich holen, ohne Beteiligung anderer Länder. Allerdings ist das meiste Geld für medizinische Forschung anderweitig gebunden, bis hin zur Beteiligung an der Weltgesundheitsorganisation. Da bleibt für die nationale Anstrengung nicht mehr viel übrig.«
»Dann wollen wir doch auf unser kleines, aber feines Team anstoßen, und auf unsere gemeinsamen Fähigkeiten«, gab sich Watanabe versöhnlich und hob das Glas. Langsam waren sie auch mit dem Essen zu Ende gekommen, und Henri registrierte, dass Emma und Théo fehlten. Waren sie schon gegangen, gemeinsam? Was hatte das zu bedeuten? Er wollte es nicht wissen – oder doch, er wollte es wissen, obwohl es ihn nicht das Geringste anging. Dennoch ‒ sie war seine persönliche Assistentin, und damit hatte er eine gewisse Verantwortung übernommen. Es war seine Pflicht, sich um sie zu kümmern.
Und da kam sie auch schon zurück, offenbar war sie auf der Toilette gewesen. Und Théo?
»... brauchen Sie doch auch, nicht wahr?«
»Ja, ja«, antwortete er, ohne Jacquelines Frage verstanden zu haben.
»Ich kann Ihnen diese Software wirklich empfehlen, ein besseres Laborjournal werden Sie nicht finden. Ich gebe Ihnen die Verbindung zur Cloud.«
Sie musste die Ratslosigkeit in seinem Blick erkannt haben, denn sofort ergänzte sie: »Vielleicht soll Théo Ihnen zeigen, wie es funktioniert.«
»Théo – ja danke, wunderbar.« Da saß er wieder neben Emma, er war also auch nur auf der Toilette gewesen. Henri war beruhigt und murmelte: »Ein Laborjournal ist unerlässlich für vorschriftsmäßige Dokumentation. Systematik ist das A und O jedes wissenschaftlichen Erfolges.«
»Ich glaube, das haben ...« Mit einem strafenden Blick unterbrach Watanabe Jacquelines unhöflichen Einwurf. »Ich denke, wir sollten zurück an die Arbeit«, sagte er, »ich brenne darauf weiterzumachen. Und herzlichen Dank für den Wein, das war sehr nett von Ihnen.«
»Gern geschehen.« Henri freute sich, dass seine Idee gut angekommen war und nahm sein Y-Com zur Hand, um die Rechnung zu bestätigen. Die anderen taten es ihm gleich, und gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zum Institut.
Unterwegs gesellte sich Jacqueline zu Emma und Théo, Watanabe unterhielt sich mit einer Technikerin und Henri trabte als Letzter hinterher. Kaum saß er wieder an seinem Schreibtisch, da kam bereits Théo mit den versprochenen Informationen. Er brauchte nicht einmal eine Minute, um Henris Computer mit der Software zu verbinden, und die Bedienung erschien sogar Henri kinderleicht. Jacqueline hatte recht, das Laborjournal war für ihr Forschungsprojekt hervorragend geeignet.
Emma kam wie gerufen, ohne anzuklopfen durchquerte sie sein Büro, ging rund um den Schreibtisch und blieb direkt neben Henri stehen. Ihre Beine waren nackt. Hatte sie zuvor nicht eine Strumpfhose angehabt? Warum hatte sie sie ausgezogen, und wann? Emma beugte sich vor und legte einige Papiere vor ihn auf den Tisch. Henri wusste nicht mehr, wohin er sehen sollte. Er fühlte sich bedrängt, auch wenn ihre hochgeschlossene Bluse keinen Einblick erlaubte.
»Théo hat schon ein paar interessante Informationen über die Forschungen in Indien gefunden. Er wollte Ihnen den Cloudscan schicken, aber ich dachte, Sie hätten es lieber ausgedruckt. Soll ich das schon irgendwie ordnen?« Sie richtete sich auf und sah ihn über die Schulter an.
»Ja, sehr gut, tun Sie das. Wie gesagt, suchen Sie nach Übereinstimmungen, nach Parallelitäten, und die markieren Sie mir dann. Und sagen Sie Théo, er soll mir ruhig den Link schicken, ich komme schon zurecht damit.«
»Okay«, gab sie zurück und verließ das Büro. Henri atmete auf. Er war solchen Begegnungen nicht gewachsen, also widmete er sich den Papieren auf seinem Schreibtisch. Das meiste waren Ausdrucke bereits publizierter Artikel. Sie schienen ihm nicht besonders relevant, soweit er das mit seinem mangelhaften Englisch feststellen konnte. Ein Papier weckte jedoch sein Interesse: Ein umfangreiches Laborjournal eines indischen Forscherteams. Das war genau, was er brauchte, darauf konnte er aufbauen. Wenn Emma ihre Aufgabe gut erledigte, würde das zusammen mit der Software von Théo die Basis seines Plans bilden. Mit diesen und weiteren Bausteinen konnte er eine perfekte Dokumentation erstellen. Henri hatte schon über armselige Versuche gelesen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu manipulieren, die allein deshalb aufgeflogen waren, weil keine glaubhaften Aufzeichnungen vorgelegt werden konnten. Sein Laborjournal würde einwandfrei sein, in der Präzision lag sein größtes Talent.
Die gestellte Aufgabe würde Emma für die nächsten paar Tage beschäftigen. So lang hatte er Zeit, sich mit der Software anzufreunden und ein paar Eintragungen auszuprobieren.
Als Henri an diesem Abend nach Hause kam, war das Wohnzimmer leer, Louise hatte sich in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen. Er setzte sich in seinen Lieblingssessel und sog die Atmosphäre in sich auf, die er in den letzten Tagen bereits vermisst hatte. Die enormen Ausmaße des Raumes mit dem Flair eines vornehmen Lofts und die stilvolle Ausgestaltung waren ein Hauptgrund gewesen, sich für diese Wohnung zu entscheiden. Die schräg verlaufende Straßenkreuzung, an der das Haus errichtet war, gab diesem Zimmer eine fünfeckige Form mit an drei Seiten rundum laufenden Fenstern. Henri genoss von seinem Stammplatz aus den Blick durch den Raum hinaus über den weitläufigen Boulevard. Louise hatte darauf bestanden, einen Flügel anzuschaffen, der trotz der Größe des Zimmers die Aussicht dominierte. Sie konnten beide nicht Klavier spielen, und Louises Hoffnung, die Kinder könnten Interesse daran haben, wollte sich nicht erfüllen. So war das Instrument zu einem Möbelstück geworden, reich beladen mit Familienporträts und Ziergegenständen.
Seine Frau würde ihr Arbeitszimmer nicht so bald verlassen, also beschloss Henri, auf ein Abendessen zu verzichten. Stattdessen nahm er ein in Leder gebundenes Notizbuch zur Hand, das ihm seine Tochter Cloë vor geraumer Zeit geschenkt hatte. Zum ersten Mal verspürte er Lust, sein Leben zu dokumentieren. Er öffnete das Buch und machte eine Eintragung auf der ersten Seite:
»Donnerstag, 26. Oktober 2028, 18.35 Uhr; leichter Regen, Temperatur: 11 Grad.«