Читать книгу Die Nobelpreisträger - Michael Rot - Страница 9

Kapitel 2

Оглавление

Ein überdimensionaler Wohnsalon, fünf, vielleicht sechs Meter hoch, eine breite Fensterfront bis auf Höhe des Bodens, nur einen Meter über dem Niveau des davor liegenden Gartens. Eigentlich nur ein Rasen, ein sehr großer Rasen, vielleicht auch ein Feld oder eine vegetationslose Ebene. Draußen dunkel, alles nicht so genau zu erkennen. Von dem Platz an der Türschwelle der Blick durch den Raum hindurch auf die Silhouette einer entfernten Stadt am Ende der Ebene, ein Panorama ohne Erinnerungen, ohne klare Bezüge.

Und kein Bezug zu Zeit und Raum an dieser Stelle, Gedanken, die rastlos umherschweiften. In der Gegenrichtung der Blick in den Eingangsbereich des Hauses, mit Mühe nur, und immer noch an der Türschwelle; ein warmer und sicherer Ort.

Der Flur eine Art Aula, fensterlos, in Form eines Kuchenstücks, im Zentrum die Eingangstür des Hauses. Von dort aus terrassenförmig ansteigende Stufen, wie der Ausschnitt eines Amphitheaters. Von der Straße her wie eine immer breiter werdende Treppe ins Nichts. Links der Wohnsalon, rechts alle übrigen Räume, aber geradeaus, am Ende der Treppe, nur eine Wand. Stufen über die gesamte Breite des Raumes, etwa zehn Zentimeter hoch, aber an die zwei Meter tief. Auf der dritten Stufe ein Klavier, ein altes Modell, mehr als drei Meter lang, sonst ein leerer Raum. Auch der Salon beinahe leer, nur eine Sitzbank mit zwei Sesseln, in dem überdimensionalen Raum trotz ihrer Größe fast puppenhaft.

Gegenüber dem Wohnsalon ein schmaler Gang, an dessen rechter Seite vier kleine Zimmer. An der linken Seite einige Fenster, unmittelbar dahinter eine Felswand. Die Zimmer auf der rechten Seite fensterlos, nur drei der vier Türen geöffnet.

Das erste Zimmer mit etwa vier mal zwei Metern, früher die Küche. Gegenüber der Tür eine enge, aber für den Raum zu große Sitzecke. Ein hoher Kühlschrank direkt hinter der Tür, keine weiteren Einrichtungsgegenstände.

Die nächsten beiden Zimmer waren kleiner und scheinbar leer bis auf jeweils einen Kühlschrank, gleich jenem in der Küche, und der Gang endete an einer mit Milchglas gefüllten Tür. Die Tür des letzten Zimmers war geschlossen. Von der Eckbank in der Küche war an der linken Wand der Kühlschrank zu sehen, hinter der geöffneten Küchentür durch das gegenüberliegende Fenster im Gang die dahinter liegende Bergwand.

Warum hier – und wo ist hier? Und warum dieses Haus? Ohne Strom, alles dunkel, nur ein schwaches grünes Licht, irgendwie warm und vertraut. Und dann kamen die Zahlen, Ziffern und Zahlen, sie verwirrten, sie machten Angst, aber es schmerzte nicht. Der Versuch, sich auf die Zahlen zu konzentrieren, misslang. Vielleicht konnten sie ihm helfen, aber sie entschwanden so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren.

Immer noch der Blick, vorbei am Kühlschrank durch das Gangfenster. Unmöglich, sich zu bewegen, unmöglich, klar zu denken – und wie diese Nacht überstehen? Was würde dann kommen, eine weitere Nacht, ein Tag, wieder eine Nacht? Würde es je enden?

Wieder kamen die Zahlen, und wieder verwirrten sie ihn, aber sie waren weniger erschreckend. Er versuchte sie festzuhalten, wenigstens eine sich zu merken – vergeblich, zu schnell wechselten sie. Und dann kam der Schmerz, es wurde taghell.

Und wieder der Blick, vorbei am Kühlschrank durch das Gangfenster. Kein Schmerz. Kein Licht, oder doch, der warme grüne Schimmer immer noch.

Der Weg zum Wohnsalon mühsam, wie steil bergauf, die Aula fast unüberwindlich. Zuletzt der Platz an der Türschwelle, wieder warm und sicher. Die Aussicht aus dem Fenster, die Stadt in der Entfernung, waren sie Illusion? Er konnte den Blick nicht festhalten.

Er verspürte Hunger. Auch die Küche war ein sicherer Ort, die Küchenbank hart, aber vertrauenswürdig. Wie stillt man Hunger? Er hatte es vergessen. 61,5 – da war wieder eine Zahl. Mitten im Raum schwebte sie, ein wenig zitternd, diesmal aber deutlich erkennbar, nicht groß, von der Größe seiner Handfläche vielleicht. Neben dem Kühlschrank pendelte sie, etwa zwei Meter vor ihm auf Augenhöhe. Dann noch eine Zahl, sie schimmerte auf der Fensterscheibe. Das Gangfenster war weit entfernt, die Zahl undeutlich, aber er glaubte sie zu erkennen: 18,2, vermutlich. Während er überlegte, was die Zahlen bedeuten konnten, waren sie auch schon wieder verschwunden, genauso plötzlich, wie sie zuvor erschienen waren.

Jetzt war es wieder dunkel, bis auf den grünen Schimmer, der vom Ende des Ganges zu kommen schien. Er hätte aufstehen und dem Lichtschein nachgehen können. Er hätte die anderen Zimmer erkunden oder wieder den sicheren Platz an der Schwelle zum Wohnsalon aufsuchen können. Zu all dem fehlte aber die Kraft, die wenige Energie reichte gerade aus, um bewegungslos zu sitzen und Richtung Tür zu schauen. Irgendwann würde diese Nacht zu Ende sein, er musste nur lange genug sitzen bleiben und ausharren.

Es war kalt, der Hunger meldete sich wieder, aber der würde vorübergehen, so wie die Nacht. Wie war er hierhergekommen, und woher? Wo würde er sein, wenn die Nacht endete? Jetzt wieder an der Schwelle, den Blick aus dem Fenster, die Stadt immer noch in der Ferne. Welche Stadt? Verschwommene Erinnerungen ohne Bezug zu Raum und Zeit. Welches Fenster? Jetzt kein Haus mehr, nur noch ein Kühlschrank, verschlossen, drohend. Eine Zahl: 35 – dann nichts mehr.

Die Nobelpreisträger

Подняться наверх