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Medaillen, Meisterschaften und die Steffi – der sportliche Aufstieg

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Mit den vier Kindern, die fast gleichaltrig waren, herrschte in der Wohnung der Familie Roth stets ein ordentlicher Lärmpegel. Die Zwillinge sorgten schon dafür, dass es niemals Ruhe gab, sobald die Jungen zu Hause waren. Da waren die Raufereien. Da war zudem die Gewohnheit der Brüder, die Wohnung als eine Art Spielfeld zu betrachten.

Dann begannen sie, ernsthaft Sport zu betreiben. Mit sechs Jahren waren sie zunächst mit ihrem Vater Ossi nach Heidelberg mitgegangen, der in der Universitätsstadt als Basketballtrainer tätig war. Basketball blieb aber eine kurze Episode. Dann probierten es die beiden Jungen mit Fußball. Aber schon mit sieben Jahren kamen die Roths zum Handball, was in Leutershausen nicht erstaunlich ist, weil der kleine Ort als Hochburg des Handballs gilt – so wie Flensburg im Norden, Minden und Gummersbach im Westen und Großwallstadt im Süden Deutschlands. Ein Freund des Vaters war in Leutershausen als Übungsleiter tätig. Zweimal in der Woche hatten sie nun Training im Verein, und an den restlichen Tagen trainierten sie eben in der Wohnung. Dabei war es durchaus von Vorteil, einen Bruder zu haben, der die gleichen Interessen hatte, der ebenso gut fangen und werfen konnte wie man selbst. Und so passten sich die Jungen die Bälle zu, sie dribbelten und versuchten sich gegenseitig auszuwackeln. „Jede Tür wurde für einen Sprungwurf genutzt“, sagt Ossi Roth.

Anders als in der Schule, wo sie gern in getrennten Klassen waren, spielten die beiden immer in der gleichen Mannschaft: Sie begannen in der E-Jugend der SG Leutershausen, dann rückten sie vor in die D- und C- und schließlich in die B-Jugend. Und dabei wurde ein Mann für sie immer wichtiger, der in Leutershausen als „knallharter Hund“ bekannt war. Jürgen Hahn, der Jugendtrainer von Michael und Uli, war einstiger Handballnationalspieler. 1976 waren er und seine Mannschaft bei den Olympischen Spielen in Montreal auf den vierten Platz gekommen. Dieser Jürgen Hahn war nicht nur ein Freund der Familie, er bimste den beiden Jungen auch ein, dass Handball viel mehr sein kann als ein Spiel: eine Vorbereitung für das ganze Leben, eine Einnahmequelle und vor allem ein Sprungbrett nach oben. „Ihr seid in der Schule die Loser, nutzt den Handball, um mehr aus euch zu machen“, sagte er seinen Schützlingen. „Ihr müsst über den Sport euer Leben bestimmen.“ Für Hahn, der zu Hause selbst zwei Töchter hatte, waren die Roths wie Ersatzsöhne.

Und mit seinen Worten traf Hahn durchaus den Nerv der Zwillinge. In den Ferien arbeiteten Michael und Uli oft bei heimischen Handwerksbetrieben, um Geld zu verdienen. Für sie war es immer eine schlimme Vorstellung, in einem dieser Betriebe zu enden. „Wir wollten keine Handwerker werden, zumal uns letztlich dafür auch das Talent gefehlt hat. Viele unserer Freunde verließen allein schon deshalb das Dorf, weil sie auf höhere Schulen gingen“, sagt Uli. „Wir mussten den Sport nutzen, um hier wegzukommen, weil uns klar war, dass unsere berufliche Karriere hier nicht zu Ende sein durfte.“ Also trainierten sie, schufteten im Kraftraum oder bolzten Kondition. „Unser Geheimnis war Fleiß: Wir waren nie die talentiertesten Handballer, wir waren nie die muskulären Typen, sondern eher fleischig. Aber wir hatten ein Ziel. Wir trainierten und spielten immer zielorientiert und haben uns dadurch von vielen abgegrenzt, denen später die Mofas, die Partys oder die Freundin wichtiger als der Sport waren“, sagt Uli Roth. „Wir haben uns dämlich trainiert.“

Michael und Uli Roth hatten sich viele Gedanken über die Karrieren von Athleten gemacht: Warum schaffen es einige Talente nach oben und warum andere nicht? Warum können einige Sportler von ihrer Karriere zehren und manche nicht? Jürgen Hahn ist einer der wesentlichen Gründe, weshalb die Roths nach oben gelangten. „Er war schonungslos“, sagt Uli Roth. „Einige Neider sagen über uns, wir hätten einfach Glück gehabt. Das ist falsch, weil wir von Jürgen Hahn gut beraten waren, auf ihn gehört haben und dann konsequent an unseren Defiziten mit sehr viel Disziplin gearbeitet haben.“

Vater Ossi war stolz auf seine Kinder, er schaute sich die meisten Spiele an. Er war aber niemals der Antreiber, keiner dieser typischen Sportlerkinderväter, die ihre Sprösslinge nach vorne peitschen. Als ehemals glänzender Basketballer hatte er es nicht nötig, fehlende eigene Erfolge auf die Karriere der Kinder zu projizieren. Mutter Ursula war auch gern bei den Spielen dabei, verstand aber nicht viel von dem Sport.

In Leutershausen kannte längst jeder die Handball-Brüder. Michael, den Robusten, der als Mittelmann Spielgestalter aller Mannschaften war, und Uli, der als Torjäger auf halblinks oder als Kreisläufer spielte. Bald wurden auch die Trainer der Auswahlmannschaften auf die Zwillinge aufmerksam; und so ging es Stufe für Stufe nach oben und damit raus aus Leutershausen. Zunächst in die Kreisauswahl, danach in die badische Auswahl, dann in die süddeutsche Jugendauswahl. Und schließlich kam ein Sichtungsturnier mit mehreren Auswahlteams aus Südbaden, Nordbaden, Württemberg und Hessen. „Uns war sofort klar, dass es unsere Chance war. Wir mussten an diesem Tag gut sein“, sagt Uli Roth. Es war wie so oft in ihrem Leben, sobald sie aufs Spielfeld liefen: Die Zwillinge fielen auch an diesem Tag sofort auf. Nicht nur, weil sie gleich aussahen, sie verkörperten auch eine Dominanz auf dem Spielfeld. Sie bildeten einen Doppelpack, der besonders in der Abwehr schwer zu überwinden war. Und im Angriff waren sie eine Achse, die sich beim Werfen im heimischen Kinderzimmer bis zur Perfektion herausgebildet hatte. Michael, der Spielgestalter, warf den Ball an den Kreis. Dort stand Uli. Eine kurze Drehung. Tor.

Und dennoch blieb an diesem Tag eine Ungewissheit, denn das Ergebnis sollte erst einige Tage später in einem Brief mitgeteilt werden. Es waren harte Tage, denn „schlimmer als eine Nicht-Berücksichtigung wäre es für uns gewesen, wenn nur einer nominiert worden wäre. Wir hatten Angst davor, getrennt zu werden. Wir wollten uns untrennbar machen“, sagt Uli Roth. Und dann erhielten sie endlich den Brief vom Deutschen Handballbund: Uli Roth wird Jugend-Nationalspieler, hieß es in diesem, und mit der gleichen Post wurde zu aller Erleichterung auch Michael Roth nominiert. „Damit öffnete sich für uns der Horizont“, sagt Uli Roth. Es ging nach Lübeck zum Länderspiel gegen Norwegen, nach Paris zu Länderspielen gegen Frankreich, insgesamt absolvierte Uli acht und Michael neun Spiele in der deutschen Jugendauswahl. Und dabei waren sie mit den besten jungen Handballern Deutschlands zusammen, mit späteren Weltklassespielern wie Rüdiger Neitzel, Jochen Fraatz oder Martin Schwalb.

Sie schnupperten also schon einmal die Luft der großen Welt. Nach Abschluss der Hauptschule hatte Michael als Verwaltungskraft im Rathaus von Leutershausen anfangen wollen. Kein Problem, dachte er sich, schließlich kannte er in dem Ort genug einflussreiche Leute. „Doch dann bekam ich den ersten Dämpfer“, sagt er. Er wurde abgelehnt. Also sah er sich gezwungen, eine Lehre als Kraftfahrzeugmechaniker zu beginnen. Gar nicht einmal, weil er sich besonders für diesen Beruf interessierte, aber der Autofan glaubte auf diese Weise schneller an einen eigenen Wagen zu gelangen. Und Hauptsache, man hatte „irgendetwas in der Hand“.

Uli begann eine klassische Verkäuferlehre bei einem Sportgeschäft in Weinheim. Das passte schon besser, schließlich interessierte er sich für Sport, und er konnte Menschen überzeugen, Dinge zu kaufen, von denen er glaubte, die Leute könnten sie gebrauchen.

Mit achtzehn Jahren spielten die Roth-Brüder schließlich in der ersten Mannschaft der SG Leutershausen, die damals den Sprung von der Regionalliga in die neu geschaffene Zweite Bundesliga schaffte. Wegen ihrer positiven Ausstrahlung und ihres Mannschaftsgeistes waren die beiden Youngster sofort akzeptiert im Team. Und auch die Brüder fühlten sich wohl, selbst wenn „wir uns immer mal wieder wie die Doofbacken von der Hauptschule gefühlt haben“, sagt Uli. Handball war damals vielfach noch ein Studentensport, und deshalb „fuchste es uns“, wenn die anderen vom Studium erzählten und „wir in die Berufsschule mussten. Ein bisschen haben wir uns auch geschämt.“ Und wenn die Mitspieler in die Studentenkneipen und Uni-Keller nach Heidelberg zogen, mogelten sich die Zwillinge mit rein. Später flunkerten die Roths manches mal, dass sie zumindest Realschulabschluss hätten, und Uli, der Verkäufer, gab sich großspurig als Außenhandelskaufmann aus.

Aber auf dem Spielfeld waren die Bildungsdefizite schnell vergessen. Schon in ihren ersten Jahren in der Erwachsenenklasse waren sie so gut, dass Bundesligavereine auf sie aufmerksam wurden. Im Frühsommer 1982 unterzeichneten die Roths schließlich einen Vertrag beim Bundesligisten Frisch Auf! Göppingen. Es sollte der erste große Vertrag für sie sein, der Schritt raus aus dem heimischen Milieu: 600 Mark, plus Auto, plus Wohnung. Und das Wichtigste: Sie konnten zusammenbleiben wie die achtzehn Jahre zuvor.


Kontrahenten: Michael (Leutershausen) gegen Uli (Schwabing)

Es war dennoch ein schwerer Entschluss, weil sie sich gegen ihren Heimatverein entscheiden mussten. Mit den Funktionären von Frisch Auf! Göppingen vereinbarten die Zwillinge nach dem Abschluss des Vertrags an einem Samstagabend Stillschweigen, bis sie die Vereinsführung der SG Leutershausen über ihren Abgang informiert hatten. Umso entrüsteter waren die Brüder, als sie am Montagmorgen einen Anruf erhielten, die Stuttgarter Zeitung habe ihren Wechsel nach Göppingen vermeldet. Das werteten die beiden als Wort- und Vertrauensbruch. Aus Verärgerung über den Göppinger Vorstoß lösten die Zwillinge ihren Vertrag mit Frisch Auf! Göppingen wieder auf. Das war eine harte, eine einschneidende und konsequente Entscheidung. Denn Uli hatte gleichzeitig ein Angebot des Bundesligaaufsteigers MTSV Schwabing erhalten. Ihm kam dabei eine taktische Änderung zupass. Die Sowjetunion war seinerzeit prägend für das Handballspiel in der gesamten Welt. Und deren Trainer bevorzugten nun erstmals Kreisläufer, die nicht wie in Deutschland und überall in der Welt kräftig-muskulös und kompakt gebaut waren, sondern lange Kerle, die auch hohe Anspiele verwerten konnten.

Mit 1,96 Meter war Uli ein sehr großer Kreisläufer, und nun war er mit einem Mal en vogue. Michael indes galt vielen als noch zu unreif, um die wichtige Rolle des Spielgestalters in einem Bundesligaverein ausfüllen zu können. „Etwas neidisch war ich schon“, sagt Michael Roth. „Uli zog in die weite Welt, ich blieb im verträumten Leutershausen zurück.“

Uli war „maßlos enttäuscht“ über die Folgen des Göppinger Vertrauensbruchs. Er war jemand, dem es „nur gut geht, wenn es anderen gut geht“. Und nun musste er seinen geliebten Bruder zurücklassen, er sollte sein Alter Ego auf dem Spielfeld verlieren. Bisher war es doch so, dass „ich gejubelt habe, wenn Michael ein Tor geworfen hat, als hätte ich selbst es geworfen. Und ich habe mich geärgert, wenn er danebenwarf, als hätte ich selbst nicht getroffen.“ Und das alles war nun vorbei. Andererseits zog es ihn mit Macht nach Schwabing. München.

Eine Weltstadt. Er war da angekommen, wo ihn sich sein Handballtrainer Hahn so gern vorgestellt hatte. Er hatte erreicht, was er selbst sich immer als Ziel gesetzt hatte. Sie hatten ihre Lehren beendet, aber nun zählte für sie der Handballsport. Anfangs war es indes nicht einfach, sich zurechtzufinden neben all den Weltstars. Er hatte Glück, dass sein langjähriger Freund und Mannschaftskamerad Michael Sahm, genannt „Walter“, mit nach München ging.

Der MTSV Schwabing galt als neues Modell für Deutschland. Handball sollte hier als Show aufgezogen werden, das Spiel sollte ein Event sein, das nicht nur in kleinen und mittelgroßen Städten wahrgenommen wird, sondern auch die großen Hallen in den Millionenstädten füllen kann. Die Spieler trugen keine grün-weißen Trainingsanzüge, sondern gelb-blaue, mit Sternen verzierte Designerteile. Und beim Auflaufen der Mannschaft sollten nicht nur die Oberschenkel der Handballer auffallen: Busenwunder Dolly Dollar war dabei, Go-Go-Girls und eine brasilianische Tanzband – es war eben so, wie es sich der Deutsche Vereinssport auf amerikanisch vorstellt. Und Uli Roth befand sich mittendrin. Schon nach dem ersten Jahr war er ein zentraler Mann dieser Truppe. Seine Karriere als Nationalspieler hatte jedoch zunächst eine kleine Delle erlitten. Bei einer Reise der Junioren-Nationalmannschaft nach Israel schoss Uli zunächst zehn Tore, dann aber nach dem eigentlichen Handballspiel ein folgenschweres Eigentor. Er verliebte sich in eine Israelin, die so „wunderschön war“, wie er sagt, dass er nachts über den Balkon eine Etage tiefer zu ihr kletterte. Die Handballer logierten jedoch in einem streng überwachten Kibbuz, und natürlich kam das Fensterln prompt heraus. Trainer Zlatan (mannschaftsinterner Spott: „Satan“) Siric hatte nichts übrig für solch amouröse Trainingseinheiten. Der Deutsche Handballbund suspendierte Uli daraufhin für ein halbes Jahr. Vermutlich kostete ihn die Leidenschaft für das andere Geschlecht und die darauf folgende Sperre seinen Einsatz bei der Handball-Weltmeisterschaft 1982 in Deutschland.

Die Geschichte war indes irgendwann vergessen. Im Oktober 1982 war Uli Roth zunächst zu einem Lehrgang der Junioren-Nationalmannschaft eingeladen, anschließend zu einem Lehrgang der A-Mannschaft. Zum Abschluss des Lehrgangs spielte das Nationalteam in einem Vierländerturnier unter anderem gegen die Tschechoslowakei. Am Abend vor dem Spiel traf Uli zufällig Bundestrainer Simon Schobel auf dem Flur des Hotels. Der Deutsch-Rumäne war stets etwas mysteriös, und er sagte dieses Mal, es könnte sein, „dass ich heute Nacht einen Traum habe“. Mehr nicht. Roth fand das etwas eigenartig, dachte sich aber weiter nichts dabei. Am nächsten Morgen erzählte Simon auf der Mannschaftssitzung, er hätte heute Nacht geträumt, der Uli würde heute sein erstes Länderspiel machen. Und was man träumt, solle man auch in die Wirklichkeit umsetzen. Also absolvierte Uli Roth am 22. Oktober 1982 sein erstes Länderspiel. Er erzielte zwei Tore. Michael und die ganze Familie Roth saßen bei seinem Debüt im Nationaltrikot natürlich auf der Tribüne.

Der ehemalige Bundestrainer Vlado Stenzel nannte Uli Roths Aufstieg zum Nationalspieler „einen Witz“. Das lag daran, dass der lange Kreisläufer polarisierte. Die Süddeutsche Zeitung schrieb einmal: „Er plustert sich gern auf wie ein Pfau, stolziert selbstbewusst durch den gegnerischen Block und versucht so, das Interesse auf sich zu ziehen.“ Michael und er hätten „stets durch unsere Lässigkeit provoziert“, sagt Uli. Angst, vor 10 000 Leuten in Kiel zu spielen? Kannten die Roths nicht. Bei hitzigen Begegnungen in aufgepeitschten Hallen einzuknicken? Das gab es nicht. Sie bewegten sich auf dem Spielfeld „wie Sonnenkönige“. Die einen fanden ihre Spielweise deshalb genial, die andern arrogant und pomadig.

Uli Roth war 1982 gerade einmal zwanzig Jahre alt, aber er hatte es bereits an die Spitze des deutschen Handballs geschafft. Schobel nannte Roth „meinen Lieblingsschüler“. „Wir hatten eine gewisse Nähe“, sagt Uli Roth. „Ich habe ihm vertraut, und er hat mir vertraut.“ Schobel machte den jungen Mann später sogar zum Mannschaftskapitän, obwohl es im deutschen Auswahlteam so renommierte Spieler wie den Weltklassemann Sepp Wunderlich gab.

Der neue Bundestrainer Schobel setzte auf die erfolgreichen Nachwuchsspieler, dazu kamen nur eine wenige gesetztere Spieler wie Wunderlich und Torhüter Andreas Thiel. Michael und Uli Roth gingen getrennte Wege. Uli spielte in Schwabing, Michael wechselte 1983 zum Bundesligisten TuS Hofweier.

Sie waren räumlich getrennt, aber sie telefonierten miteinander, fast jeden Tag. Es waren meist belanglose Gespräche: „Was machst du, wo bist du, wie läuft’s so?“ Über Freundinnen oder Gefühle sprachen sie so gut wie nie. „Da waren wir nicht anders als andere Männer. Frauen können stundenlang quatschen. Wir brauchten unseren täglichen Kontakt, aber instinktiv haben wir nie über persönliche Dinge gesprochen“, sagt Michael. Die großen sportlichen Erfolge konnten sie weiter zusammen feiern, außerhalb ihrer Vereinsmannschaft. In Finnland gewannen sie bei der Junioren-Weltmeisterschaft die Silbermedaille. Uli erzielte siebzehn Tore und zählte zu den herausragenden Spielern. Kurz darauf bestritt auch Michael sein erstes Spiel in der A-Mannschaft des Deutschen Handballbundes.

Und dann fuhren sie 1984 gemeinsam zu den Olympischen Spielen in Los Angeles. Sie hatten Glück, weil sich die Mannschaft ursprünglich bei der B-Weltmeisterschaft in Holland gar nicht für Olympia qualifiziert hatte. Doch dann boykottierte der Ostblock die Spiele in den USA, und die Bundesrepublik rutschte nach. Zu Recht, wie sich später herausstellen sollte. „Wir haben uns in einen Rausch gespielt“, sagt Uli Roth. In der Vorrunde ging kein Spiel verloren, im entscheidenden letzten Gruppenspiel gewann Deutschland gegen Dänemark. Erst im Finale fehlten die Nerven. Beste Torchancen wurden vergeben. Und deshalb verlor die deutsche Mannschaft das Endspiel gegen Jugoslawien mit 17:18. Silber bei Olympia – es sollte für zwei Jahrzehnte der größte Erfolg einer deutschen Nationalmannschaft bleiben.

Uli organisierte im Olympischen Dorf zusammen mit Martin Schwalb und den befreundeten Wasserballern eine legendäre Party für die deutschen Sportler. Am nächsten Tag ging es ins Flugzeug, und die Handballer feierten dort weiter, bis die ersten Sitzkissen flogen und sich Sportler, die weniger gut abgeschnitten hatten, über die lauten Handballer beschwerten. Hätten sie gewusst, was auf sie in Deutschland zukommen würde, hätten sie sich womöglich etwas ausgeruht. Schon am Flughafen gab es das erste Empfangskomitee, von dort ging es mit einem Autokorso durch Leutershausen in die Heinrich-Beck-Halle: Die Roths waren endgültig kleine Könige an der Bergstraße.

Noch in der gleichen Saison folgte Michael seinem Bruder zum MTSV Schwabing. „Es war ein Fehler“, wie er später feststellen würde. Die Mannschaft setzte auf Weltstars, und der Zweiundzwanzigjährige war zu jung, um dort als Spielmacher akzeptiert zu werden. Und irgendwie kam er auch nicht mit dem Trainer zurecht. So zog er bald weiter zum unterfränkischen TV Großwallstadt und wurde dort sofort Kapitän.

Michael und Uli Roth waren nun feste Größen im deutschen Handball. Uli blieb Kapitän der deutschen Nationalmannschaft. Erst als sein Mentor Simon Schobel nach der verpatzten Weltmeisterschaft 1986 in der Schweiz als Bundestrainer entlassen wurde, machte seine Karriere in der Nationalmannschaft eine mehrmonatige Pause, bis ihn Schobels Nachfolger Petre Ivă nescu zurückholte.

Uli Roth absolvierte insgesamt 154 Länderspiele. Bis zur Vereinigung mit der DDR war er Rekordnationalspieler. Michael brachte es auf 44 Länderspiele. Seine Karriere im Nationaldress endete abrupt, als er sich 1987 das Kreuzband im Knie riss. Als er sich nach über einem halben Jahr Verletzungspause wieder fit fühlte, war der Posten des Nationaltrainers neu besetzt. Unter dem neuen Bundestrainer bekam Michael Roth keine Chance mehr.

Zusammen mit ihrem alten Kumpel Martin Schwalb, mit dem Essener Jochen Fraatz, Rückraumschütze Rüdiger Neitzel und Torhüter Andreas Thiel galten sie als eine goldene Generation des deutschen Handballs. Aber diesem Ruf konnten sie kaum jemals gerecht werden. „Schobel hatte unsere Mannschaft nach der Silbermedaille für unsterblich erklärt, aber wir waren noch nicht so weit“, sagt Uli Roth. „Rückblickend muss man wohl sagen, dass der frühe Erfolg in Los Angeles für unser Team nicht dienlich war.“

Uli Roths Karriere in der Nationalmannschaft ist vergleichbar mit den Karrieren eines Uwe Seeler oder Lothar Matthäus im Fußball. Dass selbst junge Handballer seinen Namen nicht mehr kennen, sagt viel über den Zustand dieser Sportart in Deutschland aus. Für Uli Roth kam das Ende im Auswahlteam, als die Nationalmannschaft 1989 die B-Weltmeisterschaft in Frankreich ziemlich vergeigte. Eigentlich wollte sich die Mannschaft dort für die nächste A-WM qualifizieren. Stattdessen stieg das Team in die Drittklassigkeit ab. Danach wurde ein neuer Bundestrainer berufen, ein Umbruch folgte, und Uli Roth wurde fortan wie ein Aussätziger behandelt. „Es gab nie eine freundliche Geste oder ein Abschiedsspiel durch den Deutschen Handballbund, das war ein schlimmer Abgang.“ Uli Roth hält es für einen schweren Fehler, auf die Erfahrung und die Strahlkraft ehemaliger Nationalspieler zu verzichten. Als Beweis dafür sieht er den Gewinn der Weltmeisterschaft 2007. Die deutsche Mannschaft habe zwar im eigenen Land den Titel gewonnen, aber von der Euphorie in den Hallen und am Fernseher sei einige Monate später kaum noch etwas übrig geblieben, bemerkt er. Auf diese Weise werde Handball trotz seiner Attraktivität für den Zuschauer niemals aus dem Schatten des Fußballs heraustreten können. Dabei wäre die Vermarktung durch Profis ähnlich wie im Fußball von großem Vorteil.

Uli Roth spielte fünf Jahre in Schwabing. Es waren aufregende Jahre, sportlich erfolgreiche Jahre. Der MTSV Schwabing spielte in der deutschen Spitzenklasse mit, gewann einmal den Pokal und wurde Vizemeister. Aber es war, anders als es sich die Erfinder des Projekts vorgestellt hatten, keine überragende Zeit. Große Titel blieben aus, und letztlich scheiterte man auch an dem Ziel, den Handballsport in der Millionenstadt München als feste Größe zu etablieren. Irgendwann ging den Initiatoren des Modells Schwabing dann das Geld aus. Eine Szene zeigt beispielhaft, dass die Handballer nie richtig bei den Münchnern angekommen waren. 1986 holte die Mannschaft den Deutschen Pokal, und wie üblich bei solchen Erfolgen gab es einen Empfang beim Oberbürgermeister. Die Handballer, immer ein lustiges Völkchen, gingen danach, so wie es die Fußballer des FC Bayern München vormachten, auf den Balkon des Rathauses und spritzten zum Spaß Champagner nach unten. Doch auf dem riesigen Marienplatz war kein einziger Fan zu sehen, vermutlich wusste sogar niemand, dass an diesem Tag die Handballer des MTSV Schwabing geehrt wurden. Stattdessen fand auf dem Platz eine Messe statt, und als der Pfarrer die jubelnden Handballer auf dem Balkon hörte, rief er nach oben, ob sie nicht mal ein bisschen leiser sein könnten.


Silber und eine legendäre Party im Olympischen Dorf: Uli und Michael mit der Medaille 1984 in Los Angeles

Michael Roth konnte in dieser Zeit mit seinem Provinzverein TV Großwallstadt durchaus mithalten. 1986 hätte er mit dem Traditionsklub fast den Europapokal der Pokalsieger gewonnen. Erst in der letzten Sekunde gelang dem Endspielgegner FC Barcelona der entscheidende Treffer zum Pokalgewinn. Von spezieller Bedeutung waren stets die Spiele in der Bundesliga, in denen die Brüder gegeneinander spielten. Es waren besondere Spiele für sie selbst, aber auch für die Zuschauer und die Medien, die genau beobachteten, wie sich die Zwillinge verhielten. Ein bisschen war es so wie einst in der elterlichen Wohnung in Leutershausen. Michael und Uli waren Konkurrenten, sie schenkten sich nichts. Sie packten zu, foulten einer den anderen, wenn keine weitere Möglichkeit blieb. Und einmal standen sie sich auch Kopf an Kopf gegenüber und pöbelten sich an. Michael und Uli waren Profis: Sie wussten, was die Trainer von ihnen verlangten. Und sie wussten auch, was die Medien wollten: ein bisschen Rabatz, ein bisschen Show. Im Grunde war es aber wie einst auf dem Schulhof. Wenn es wirklich ernst geworden wäre, hätten sie wieder bedingungslos zusammengehalten.

Die gespielte Gegnerschaft dauerte drei Jahre. 1987 folgte Uli seinem Bruder nach Großwallstadt. Jetzt war es wieder wie in der Jugend in Leutershausen und wie in den Spielen der Auswahlmannschaften. Michael passt, Uli fängt. Drehung. Und Tor. „Ich wusste natürlich genau, wie er sich bewegt, wo er den Ball haben möchte“, sagt Michael, und als hervorragender Techniker fiel es ihm nicht schwer, den Ball genau dorthin zu platzieren. 1989 gewannen sie gemeinsam mit dem TV Großwallstadt den Deutschen Pokal. Michael und Uli genossen es, endlich wieder zusammen in einer Vereinsmannschaft zu spielen. Sie waren wieder die Zwei-Mann-Wand in der Abwehr. Sie galten als „Klopper, und deshalb haben uns die Leute in fremden Hallen gehasst“, sagt Michael. „Handball-Provokateur“ nannte die Süddeutsche Zeitung einmal Uli Roth, weil er sich überall einmischte. Legendär waren die Motzereien gegen die Schiedsrichter, auch darin waren die Zwillinge gleich groß. „Der Umgang mit den Schiedsrichtern war sicherlich nicht unsere Stärke, wir sind oft wegen Meckerns vom Platz geflogen“, sagt Uli.

In Großwallstadt wurden die Roths immer wieder an Freud und Leid des Zwillingsdaseins erinnert. „In der Beurteilung unserer Leistung gab es oft keine Unterschiede“, sagt Uli Roth. Spielte der eine gut, war auch der andere gut. Spielte der eine schlecht, galt dies im Auge vieler Zuschauer ebenso für den anderen. Und die Verwechslungen hörten nicht auf. „Da habe ich in einem Spiel neun Tore geworfen und Michael zwei, aber in der Zeitung steht es genau umgekehrt“, sagt Uli. Oder die Presse zeigte das Bild eines grandiosen Wurfes „von Uli Roth“. In Wirklichkeit war es aber Michael, der auf dem Foto zu sehen ist. Es „verfolgt und ärgert uns bis heute“, sagt Uli Roth, weil es wenig Rücksicht darauf nimmt, wie sehr beide auf ihrer eigenen Identität bestehen. Aber wohl auch, weil es trotz der emotionalen Zuneigung zueinander stets diese kleinen internen Abgrenzungskämpfe gab.

Einmal sorgten die Verwechslungen sogar für einen Skandal. In einem Spiel in Berlin wurde Michael Roth wegen eines Foulspiels des Feldes verwiesen. In Wahrheit hatte aber Uli das Foul begangen. Die Brüder protestierten und machten den Schiedsrichter auf den Fehler aufmerksam. Doch dieser war wie einst der Rektor an der Grundschule: Roth bleibt Roth – es ist gleichgültig, wer bestraft wird. Erst nach Spielschluss wurde der Fehler endgültig aufgeklärt. Ein Verbandsgericht des Handballbunds entschied später, dass das Spiel wiederholt werden musste.

Dann kam die Spielzeit 1989/1990. Es sollte eine besondere Saison beim TV Großwallstadt werden. Es lief nicht sehr gut, es gab Ärger mit dem Trainer und Zwist im Verein. Und dann verknoteten sich noch die beiden Leidenschaften der Roths miteinander: Handball und Frauen. Michael und Uli Roth waren die Blickfänge geblieben, die sie schon als Lausbuben in Leutershausen waren. Nur waren aus den lustigen, schwarzhaarigen Zwillingen nun attraktive Männer geworden. „Wir lieben und wir liebten die Frauen“, sagt Uli Roth, und damit meint er, dass die Roths nichts anbrennen ließen. Und das wusste man natürlich in Großwallstadt. Als es dann nicht richtig rund lief in der Mannschaft, wurde Uli als Sündenbock ausgemacht. Es existierten Gerüchte um angebliche Affären. Frühzeitig gab der Verein bekannt, dass sein Vertrag nicht verlängert würde.

Uli sagte der Mannschaft, dass er den Verein verlassen müsse, gleichzeitig schwor er die Mannschaft ein: Wie immer auch das Verhältnis zum Trainer sei, man würde noch einmal richtig Gas geben und den Titel holen. Und dann gelangte der TV Großwallstadt zur Überraschung der Fachwelt tatsächlich in die Play-off-Runde. Uli lief noch einmal zu großer Form auf, er wollte allen zeigen, „dass es eine Fehlentscheidung war, mich zu entlassen“. Im Halbfinale erzielte er gegen den TBV Lemgo den entscheidenden Treffer aus der Linksaußen-Position – für einen Kreisläufer ein kleines Kunststück. Und zur Krönung der Saison gewann die Mannschaft dann tatsächlich die Deutsche Meisterschaft nach zwei Siegen über den TSV Milbertshofen.


Uli und Michael bei der Ehrung durch Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit dem Silbernen Lorbeerblatt: Lohn für die Silbermedaille bei Olympia

Wer auch immer die Affärengerüchte in Großwallstadt in die Welt gesetzt hatte, die Anziehungskraft der Roths blieb niemandem verborgen. Im Juni 1990 kam das Boulevardblatt Echo der Frau mit einer Enthüllungsgeschichte an den Kiosk: Uli Roth und Steffi Graf sind ein Liebespaar: „Er ist verdammt attraktiv: Uli Roth (28), Handball-Star, 1,96 Meter groß, braune Augen, dunkler Teint. Und er sagt: ‚Sie ist eine verdammt attraktive Frau geworden.‘ Uli Roth spricht jedoch nur ungern in aller Öffentlichkeit über unsere Tenniskönigin Steffi Graf (20). Er möchte seine Beziehung zu ihr nicht an die große Glocke hängen. ECHO DER FRAU traf ihn nach dem Meisterschaftssieg seiner Mannschaft TV Großwallstadt über TSV Milbertshofen in Elsenfeld (bei Aschaffenburg). Der attraktive Sportler wird von den Fans umlagert. Sichtlich erschöpft rettet er sich in die Kabine. Auch viele weibliche Fans wollen ihn dorthin begleiten, versuchen sein Trikot, seine blaue Hose vom schweißnassen Körper zu ziehen: begehrte Trophäen!“ Und dann habe er von seinen gemeinsamen Diskobesuchen in Mannheim erzählt, von der gemeinsamen Verehrung der Popgruppe Simply Red und dass es immer etwas gebe, „was wir zusammen bereden müssen“. Die Gerüchte entstanden, weil Steffi Graf während eines Interviews über Tennis dem Reporter berichtet hatte, dass sie sich jetzt die zweite Halbzeit von Großwallstadt gegen Milbertshofen anschauen werde. In Wahrheit, sagt Uli Roth, sei er ein paar Mal mit Steffi Graf ausgegangen. Mehr sei nicht gewesen, denn Steffi Grafs Vater Peter habe dafür gesorgt, dass „nicht mehr passiert“.

In Wirklichkeit hatte sich Uli Roth im Sommer 1990 eine ganz andere Frau ausgesucht. Bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in Split kam Gabi Lippe ins Finale über 100 Meter Hürden, wo sie ausschied und später die Silbermedaille in der 4 x 100-Meter-Staffel gewann. Roth gefielen die Interviews der Schwarzhaarigen, und er sah, wie Gabi Lippe bei der Abschlussfeier mit der deutschen Fahne in der Hand ins Stadion einlief. Als er auch noch erfuhr, dass die Leichtathletin für den benachbarten MTG Mannheim startete, beschloss er, diese junge Frau unbedingt kennenzulernen. Und so geschah es: Er verliebte sich „unsterblich in sie“, wie er sagt – und ein Jahr später war Gabi Lippe seine Ehefrau.

Nach der Deutschen Meisterschaft in Großwallstadt trennten sich die Wege von Michael und Uli wieder. Uli fasste einen weitreichenden Entschluss. Er wollte seine Karriere außerhalb des Sports vorantreiben. Deshalb ging der Neunundzwanzigjährige – gerade erst Deutscher Meister geworden – zurück zur SG Leutershausen. Es war eine Entscheidung, die viele nicht verstehen konnten. So einen Schritt machen Spitzensportler schon mal am Ende der Karriere, wenn ein lokaler Mäzen großzügig wird. Aber im besten Handballalter, mit neunundzwanzig?

Auch Michael wechselte, in die Zweite Liga zum TV Eitra in Osthessen, weil er dort „gut Kohle verdienen“ konnte. Es war ein sportlicher Rückschritt, aber es brachte ihn dennoch weiter, wie er sagt. „Ich hatte nun in meinem Bekanntenkreis Doktoren und Unternehmer – Leute, die eine hohe soziale Stellung hatten. Und von denen habe ich mir einiges abgeschaut. So habe ich gehofft und es wohl auch geschafft, meine Bildungsdefizite ein wenig aufzurollen.“ Mit dem siebenundsechzigjährigen Otto Eidt ist Michael Roth bis heute befreundet. Zweieinhalb Jahre blieb Michael dort, dann ging in Eitra das Geld aus.

Bei TUSEM Essen endete seine Bundesligalaufbahn. Anderthalb Jahre spielte Michael dort, vor allem endete hier aber sein Leben als Single. Michael verliebte sich in Eva und sie folgte ihm nach Leutershausen. Zwei Jahre später folgte die Hochzeit.

Zwillinge haben es oft nicht einfach, feste Bindungen einzugehen. Jede neue Liebe wird bisweilen auch ein wenig als Verrat an dem Bruder oder der Schwester verstanden, mit dem oder der man bisher sein Leben geteilt hat. „Wir trauten uns nie recht, unsere neuen Freundinnen zu präsentieren. Wir haben immer gedacht, jetzt steht diese Person zwischen uns“, sagt Michael Roth. Hinzu kam, dass die erfolgreichen Sportler keine Mühe hatten, ihr Dasein als Single auszukosten. Michael: „Wir waren Hingucker – und nutzten das oft aus. Nachdem wir eine Frau angesprochen haben, erzählten wir nur noch dummes Zeug. Dabei amüsierten wir uns, weil uns die Damen einfach den ganzen Blödsinn geglaubt haben. Im Nachhinein weiß ich natürlich, dass dies nicht grandios von uns war.“ Zu Hause verfolgten Gaby und Moni, die beiden Schwestern, die jahrelange Brunft ihrer Brüder und deren Abneigung, sich fest binden zu wollen, mit einem gewissen Unverständnis, doch ändern wollten und konnten sie daran auch nichts.

Als Uli Roth dann Gabi Lippe heiratete, war auch Michael bereit, sich nach vielen Jahren der Sturm-und-Drang-Zeit fester zu binden. Uli hatte noch vier erfolgreiche Handballjahre in Leutershausen. Der kleine Traditionsverein schaffte es mit jungen Nachwuchsleuten immer wieder, mit den großen Klubs der Bundesliga mitzuhalten. Als Uli und Michael sich in die große Handballwelt aufgemacht hatten, bekamen sie Auto und Wohnung gestellt, dazu etwas mehr als 600 Mark Gehalt. Nach vier Jahren in Schwabing verdiente Uli 3000 Mark, und die Gehälter stiegen stetig. Er hatte lukrative Angebote aus dem Ausland, zog es aber vor, nach Leutershausen zu ziehen, wo er rund ein Drittel weniger bekam. Ganz großes Geld gibt es in der Handball-Bundesliga erst seit Ende der neunziger Jahre zu verdienen. Aber da hatten die Zwillinge ihre Laufbahn längst beendet.

Dafür erlebte Uli Roth einen dieser magischen Momente eines Sportlers, an die man sich erinnert, solange man lebt. Die SG Leutershausen hatte 1992 das Halbfinale der Deutschen Meisterschaft erreicht, was schon eine große Überraschung war. Das erste Spiel dieses Halbfinales hatte die Mannschaft in Essen verloren, dann zu Hause gewonnen, und anschließend ging es wieder nach Essen. Kurz vor Schluss steht es unentschieden, Essen ist im Angriff – und verliert den Ball.

Uli zählte für gewöhnlich nicht zu den Spurtstärksten, und Tempogegenstöße waren deshalb nicht seine Sache. Aber in diesem Fall geht er nach vorn. In jedem anderen Spiel wäre er eingeholt worden, aber nicht heute. Und so stürmt er allein auf das Tor von Nationaltorhüter Stefan Hecker zu. Jeder deutsche Torwart wusste natürlich, dass Ulis Lieblingsecke rechts unten war. Also läuft Roth auf Hecker zu und grübelt: Wenn du den reinbringst, sind wir im Finale. Aber der erfahrene Hecker weiß, dass du rechts flach wirfst. Also: Heute ausnahmsweise nicht in die Lieblingsecke werfen, heute einmal alles anders machen. In Bruchteilen von Zehntelsekunden gehen Sportlern solche Gedanken durch den Kopf. Uli Roth knallt den Ball trotzdem rechts unten in die Ecke. Der Ball ist drin. Das Spiel ist aus. Sieg. Finale.

Interview


Die 10 häufigsten Fragen zum Prostatakrebs, gestellt an Professor Hartmut Huland

Was ist die beste Behandlung für mich?

Was sind die größten Fortschritte in der Diagnostik des Prostatakrebses?

Die Bildgebung hat sich in den letzten Jahren immer weiter entwickelt, besonders beim MRT gibt es Fortschritte. Ansonsten hilft uns der PSA-Test, Tumoren immer rechtzeitiger zu entdecken.

Was hat sich in den letzten zehn Jahren im Bereich der Therapie getan?

Es hat nicht den großen Knall gegeben. Die Strahlentherapie ist immer präziser geworden, sie hat sich enorm verbessert. Die Operationen werden immer schonender vorgenommen, um Potenz und Kontinenz zu erhalten. Dort hat auch die Da-Vinci-Methode geholfen. Aber man muss auch wissen: Es ist eine sehr teure Anschaffung, die Kosten pro Eingriff sind vergleichsweise hoch. Und nach unseren Daten sind die Ergebnisse nicht signifikant besser als in der offenen Operation.

Wie haben Sie die Diskussion über den PSA-Test wahrgenommen?

Der PSA-Test ist unbestritten der beste Früherkennungsmarker, den wir haben. Wir entdecken Tumoren fünf bis zehn Jahre früher als mit dem tastenden Finger des Urologen. Das ist eigentlich in der Wissenschaft völlig unstrittig. Das Problem ist: Wenn ein erhöhter PSA-Wert gemessen wird, muss ich das Wort Krebs in den Mund nehmen, um darüber mit dem Betroffenen zu sprechen – vier von zehn Männern mit einem erhöhten PSA-Wert haben einen bösartigen Tumor als Ursache der PSA-Erhöhung, bei den anderen sind gutartige Veränderungen wie Entzündungen oder gutartige Vergrößerungen die Ursache. Die Ärzte wissen aber heute sehr gut damit umzugehen.

Wie groß ist die Angst der Patienten vor einer Übertherapie?

Wenn die Männer zu uns in die Klinik kommen, haben sie in der Regel keine Angstgefühle. Das Wort Krebs ist leider immer noch das Problem, es dauert manchmal etwas, bis man erklären kann, dass Krebs nicht gleich Krebs ist. Und dass nicht jeder Krebs auch lebensbedrohlich ist.

Welche Männer sind am gefährdetsten, Prostatakrebs zu bekommen?

Dazu kann man keine generellen Aussagen treffen: Es kommt wesentlich darauf an, in welchem Stadium der Tumor entdeckt wurde. Wenn er schon gestreut hat, kann man ihn nicht mehr beseitigen, man kann nur versuchen, ihn jahrelang in Schach halten. Deshalb ist ja der PSA-Test so wertvoll, um die Tumoren möglichst früh aufzuspüren.

Wann entscheiden Sie sich zum Abwarten statt zum Operieren?

Diese Entscheidung wird auf Basis von zwei Komponenten getroffen. Einerseits der geschätzten Lebenswertung des Patienten. Der Krebs wächst so langsam, dass er für einen Neunzigjährigen nicht lebensbedrohend ist. Bei siebzig- oder achtzigjährigen Männern muss ich mir die Mühe machen, die Lebenserwartung abzuschätzen. Wenn sie schon an anderen schweren Krankheiten leiden, werden sie vermutlich daran sterben, aber nicht am Prostatakrebs. Andererseits spielt die Aggressivität des gefundenen Tumors eine Rolle. Es gibt Tumoren, vor denen sich selbst Fünfzig- oder Sechzigjährige nicht fürchten müssen. Die muss ich nur sehr genau beobachten, damit der Tumor nicht doch irgendwann explodiert, ohne dass ich es merke. Das ist eine Abwägung, die manchmal sehr kompliziert sein kann. Wichtig sind in diesen Fällen die PSA-Werte und die Analysen der Gewerbeproben.

Woher weiß ich, was die beste Therapie für mich ist?

Es gibt die Qual der Wahl zwischen zwei richtig guten Behandlungsmöglichkeit: Die Operation und die Bestrahlung. Welche im Einzelfall die richtige ist, müssen die Kliniken auch aufgrund der Erfahrung der eigenen Behandlungsdaten treffen, wobei die Heilungsraten, Komplikationen wie Impotenz und Inkontinenz sowie andere potenzielle Nebenwirkungen eine Rolle spielen. Es gibt ein bisschen die Tendenz: je fitter und jünger die Patienten sind, desto eher tendiert man zu einer Operation. Einen fragilen Siebzigjährigen, der vielleicht schon einen Herzinfarkt hinter sich hat, sollte man vielleicht nicht unbedingt einer dreistündigen Operation unterziehen.

Kann man als Patient auf medizinischen Fortschritt hoffen?

Wunder oder eine Wissensexplosion erwarte ich nicht. Am ehesten wird es wohl weitere Fortschritte bei der Bildgebung, also in der Diagnose, geben.

Uli und Michael Roth haben mit ihren offenen Worten über ihre Krankheit viele Menschen erreicht und bewegt. Haben Sie die Reaktionen auch in ihrer Klinik feststellen können?

Anfangs schon, die Brüder Roth haben viel dazu beigetragen, dass sich Männer mehr um sich selbst gekümmert haben. Aber leider hat das nicht lange angehalten. Die Männer hinken weit hinter dem Gesundheitsstatus der Frauen her. Sehr oft sind es in den Behandlungsgesprächen die Ehefrauen, die die Fragen stellen. Ich persönlich nehme die Frauen in Gesundheitsfragen immer noch als viel engagierter wahr. Die John-Wayne-Haltung der Männer – mir wird schon nichts passieren – ist leider noch nicht Vergangenheit.


Professor Hartmut Huland ist international einer der renommiertesten Mediziner für Prostatakrebs, sein Spezialgebiet ist die radikale Prostatektomie. Huland war 1998 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie, 2004 wurde er zum Chefarzt an der Martini-Klinik in Hamburg ernannt. Die Martini-Klinik gehört zum UKE Hamburg, in ihr werden weltweit mit die meisten Operationen an der Prostata durchgeführt.

Leutershausen war rot-weiß geschmückt. Es war so etwas wie der Sieg der kleinen Gallier über die Römer: ein Triumph der Tradition über das Geld. Es störte letztlich niemanden mehr in dem Ort, dass die Endspiele gegen die SG Wallau-Massenheim schließlich verloren gingen. Dort, wo Michael und Uli gemeinsam vor dreizehn Jahren mit dem Hochleistungssport begonnen hatten, beendeten sie dann auch offiziell ihre Karriere. Zu ihrem Abschied spielte in Leutershausen die Olympiamannschaft von 1984 gegen eine Bundesligaauswahl, und es war jeder dabei, der etwas vom Handball verstand und der die Roths kannte, denn alle wussten längst, sagt Michael, „dass es scheppert, wenn wir feiern“.

Hurra, dass wir noch leben!

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