Читать книгу Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments - Michael Schneider - Страница 9
1 Freundschaft – enzyklopädische Annäherungen 1.1 Freundschaft in der Kultur der Gegenwart
ОглавлениеSocial Media, insbesondere Facebook, hat in der Gegenwartskultur zu einer Inflation der Freundschaften geführt.1 Die meisten Profile verzeichnen hunderte oder sogar mehr als tausend Freunde. Viele Freundschaften verweisen auf eine tatsächliche natürliche Person oder sogar eine ‚Person des Öffentlichen Lebens‘ hinter dem Account. Ein Konto mit sehr wenigen Freunden wird dagegen schnell als Fake Account entlarvt, der eine Freundschaft lediglich für bestimmte Zwecke – Veröffentlichung mehr oder weniger wirrer politischer Botschaften und Kommentare, Ausspähen anderer oder gar Verbreiten von Schadsoftware – missbraucht. Die große Zahl veranlasst Facebook wiederum zu einer Differenzierung, Strukturierung und Klassifizierung innerhalb der Freundschaften: Ich soll markieren, welche Freunde zur Familie gehören und welche Freunde der Kategorie ‚Enge Freunde‘ zuzurechnen sind. Diesen besonderen Freunden kann ich auch besondere Rechte zuweisen; ich kann entscheiden, welche Informationen welche Gruppe von Freunden sehen kann. Und verschiedene Algorithmen helfen mir dabei, neue Freunde zu finden – über möglichst viele Gemeinsamkeiten, den gleichen Wohn- oder Geburtsort, den gleichen Arbeitgeber oder die Zugehörigkeit zu den identischen Gruppen. Und natürlich bieten sich solche Personen als Freunde an, mit denen ich möglichst viele gemeinsame Freunde habe, also Freunde von Freunden. Und auch für den Prozess des Anfreundens hält das System bestimmte Mechanismen bereit und prägt seine ganz eigenen Neologismen wie ‚Freundschaftsanfrage‘ oder ‚Freundschaftsvorschlag‘. Und schließlich gibt es unterschiedliche Bewertungen dieser Freundschaften: Sind solche Facebook-Freunde überhaupt ‚richtige Freunde‘, ist eine Social Media-Freundschaft eine ‚echte Freundschaft‘? Hat sich im Vergleich zur Brieffreundschaft lediglich das Medium geändert oder setzt eine ‚echte Freundschaft‘ wie auch immer gearteten persönlichen Kontakt im ‚echten Leben‘ voraus?2 Die Pandemie-Situation im Jahr 2020 hat diese Fragen noch einmal zugespitzt: Welche Beziehungsebenen des analogen Lebens (Arbeit, Unterricht, Freizeit, Freundschaft) lassen sich überhaupt in die digitale Welt verlagern? Funktioniert diese Verlagerung ‚verlustfrei‘ oder verändern sich Arbeit, Unterricht, Freizeit und eben auch Freundschaft dadurch?
Diese kurzen assoziativen Überlegungen ließen sich noch einmal vertiefen, indem man auf verschiedene Social Media-Dienste und deren jeweiliges System von Beziehungen schaut. Einige führen den Freundesbegriff direkt im Namen (wie z.B. Stayfriends), andere, wie die insbesondere bei Jugendlichen3 noch beliebtere Plattform Instagram sprechen statt von ‚Freunden‘ und ‚Freundschaft‘ von ‚Follower‘ und ‚Folgen‘. Wenn ich als Theologe von ‚Freundschaft‘ oder ‚Nachfolge‘ spreche, und auch wenn ich als Neutestamentler über die Semantik von φιλία oder ἀκολουθέω nachdenke, stehen diese enzyklopädischen Aspekte der Gegenwart im Hintergrund. Auch ohne dass Facebook einen Entwurf von Freundschaft offenlegt oder gar philosophisch diskutiert, lassen sich relativ schnell einige Merkmale des zugrundeliegenden Freundschaftskonzepts zusammenstellen. Zugleich zeigt sich, dass diese implizite Konzeption von Freundschaft einigermaßen typisch für unser gegenwärtiges Alltagsverständnis von Freundschaft insgesamt ist.
Ein solches Alltagsverständnis von Freundschaft lässt sich im Anschluss an Svenja Wiertz in fünf wesentlichen Aspekten umreißen.4 Zunächst einmal bezeichnen wir mit Freundschaft grundlegend ein gegenseitiges, reziprokes und in gewissem Sinne auch symmetrisches Verhältnis. Schon sprachlich ist offensichtlich, dass ‚befreundet sein‘ das gegenseitige Verhältnis von wenigstens zwei Personen bezeichnet. Ohne dass ein Gegenüber benannt (‚Ich bin befreundet.‘) ist, kann das Verb nicht sinnvoll gebraucht werden. Am Beispiel Facebook ist dieser Aspekt unmittelbar evident: Freundschaften bilden sich jeweils in zwei Freundeslisten ab – mein Freund hat für mich denselben Status wie ich für den Freund. Etwas umstrittener als die Gegenseitigkeit und die Reziprozität ist die Notwendigkeit einer Symmetrie innerhalb eines freundschaftlichen Verhältnisses. Wenn in der Alltagssprache auch die Begriffe Tierfreund oder Kunstfreund vorkommen, so ist unklar, ob damit eine reziproke Freundschaft gemeint sein kann. Problematisch ist dabei die Frage, ob ein Tier oder ein Kunstwerk eben auch umgekehrt den Tierfreund oder den Kunstfreund freundschaftlich zugewandt sein kann, die Beziehung also als symmetrisch und reziprok bezeichnet werden kann. Im theologischen Kontext stellt sich die Frage nach der Symmetrie insbesondere beim Topos der Gottesfreundschaft. Lässt sich in diesem Sinne von Freundschaft zwischen Gott und Mensch sprechen, ohne dass dies notwendigerweise zur Vermenschlichung Gottes bzw. der Aufhebung einer kategorialen Unterscheidung führt?
Zweitens beschreibt Freundschaft eine Beziehung, die prinzipiell positiv besetzt ist und auf Zuneigung basiert. Demgegenüber etabliert das Konzept der Feindschaft zwar auch eine Beziehung,5 die aber gerade auf einem Gegensatz bzw. auf Abneigung fußt. Sodann setzt Freundschaft eine Form der Vertrautheit, wenigstens aber die gegenseitige Kenntnis voraus; mit dem gänzlich Fremden und Unbekannten kann ich nicht befreundet sein.6 Gerade in der Gegenwart wird Freundschaft von anderen Verbindungen, etwa denen innerhalb der Familie, dadurch abgegrenzt, dass hier (vermeintlich) eine freiwillig gewählte Beziehung vorliegt – „Freunde kann man sich aussuchen“. Und schließlich geht es beim Phänomen der Freundschaft um eine Beziehung auf persönlicher Ebene. Es handelt sich also um „Beziehungen, die Personen untereinander als genau diese und nur diese Personen haben: nicht aufgrund bestimmter Rollen, die sie erfüllen.“ 7
Im Anschluss an diese alltagssprachlichen Beobachtungen schlägt Wiertz vor, den Begriff der Freundschaft in der Gegenwart nach Bindungsstil (eher vorläufig/eher verbindlich) und Praxisausrichtung (Spaß/Kommunikation/Nutzen) zu differenzieren. Im weiteren Verlauf ihrer Studie skizziert sie sodann drei stereotype Freundschaftsformen der „komplexen Spaßfreundschaft“, der „kommunikationsorientierten Anerkennungsbeziehung“ und der „quasi-familiären Beistandsgemeinschaft“8.