Читать книгу Zürich. Eine Stadt in Biographien - Michael Schwelien - Страница 10
ОглавлениеGEORG BÜCHNER
1813–1837
Wegen seines revolutionären Aufrufs »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« musste der junge Dichter nach Zürich fliehen. Dort fand er am Ende seines kurzen Lebens Frieden und Freiheit.
Er war Mediziner, Naturwissenschaftler, Schriftsteller und Revolutionär, und er verbrachte nur wenige Monate in Zürich. Es sollten die wichtigsten seines Lebens werden. In Zürich verfasste er die entscheidenden Teile seines Hauptwerks, in Zürich erfuhr er Anerkennung, und in Zürich holte er sich den Tod. Zürich wurde für Georg Büchner, einem der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller, zu seiner Schicksalsstadt.
Es ist gar nicht so leicht, die Spuren, die Büchner in Zürich hinterlassen hat, nachzuvollziehen. Da wäre sein Wohnhaus in der Spiegelgasse Nr. 12 2 ( ▶ F 3), an dem eine zweizeilige Gedenktafel angebracht ist: »Hier starb am 19. Febr. 1837 der Dichter Georg Büchner.« Da wäre die Universität 21 ( ▶ J 1), an der der junge Deutsche am 3. September 1836 nur drei Jahre nach ihrer Gründung im »Hinteramt«, einem ehemaligen Augustinerkloster, zum Doktor der Philosophie promovierte und an der er als Privatdozent für Vergleichende Anatomie erste Vorlesungen hielt. Da wäre sein idyllisches Grab auf dem Germaniahügel. Und da wäre die lebendige Theaterszene der Stadt, auf deren Spielplänen immer wieder Stücke von Büchner stehen, wie etwa »Leonce und Lena«, 2011 in einer aufsehenerregenden Inszenierung des Schauspielhauses 18 ( ▶ J 4). Im Frühjahr 2012 gab das kleine, aber sehr renommierte Theater am Neumarkt 20 ( ▶ G 2) Büchners »Woyzeck«, jenes Stück, mit dem der blutjunge Dichter in die Weltliteratur einging.
»Der Woyzeck Georg Büchners … Eine ungeheure Sache … Das ist Theater, so könnte Theater sein.« So hat es Rainer Maria Rilke empfunden. Allem Anschein nach hat Georg Büchner seinen »Woyzeck« nach mehreren authentischen Fällen gezeichnet. Das historische Vorbild war der Perückenmacher Johann Christian Woyzeck. Dieser erstach am 21. Juni 1821 in Leipzig aus Eifersucht die fünf Jahre ältere Witwe Johanna Christiane Woost. Er wurde in einem langwierigen Prozess überführt und am 27. August 1824 auf dem Leipziger Marktplatz im Alter von 44 Jahren geköpft.
Der Fall des echten Woyzeck ist sowohl rechtshistorisch als auch medizinhistorisch bis ins letzte Detail dokumentiert. Es ging in der Debatte um die Frage der Zurechnungsfähigkeit des Täters. Es ging um die Psychiatrie. Lange vor Sigmund Freud debattierten Ärzte und bekannte Persönlichkeiten über den psychischen Zustand von Angeklagten. Im Falle des echten Woyzecks tat sich sogar der sächsische Thronfolger Maximilian hervor. Wichtiger als dessen Meinung war aber die des königlich-sächsischen Hofrats, Professor Johann Christian August Clarus. In seinem ersten Gutachten hatte er Woyzeck Zurechnungsfähigkeit attestiert. Woyzeck wurde zum Tode verurteilt. Kurz vor der Vollstreckung meldete sich ein Augenzeuge zu Wort und beeidigte Woyzecks geistige Verwirrung. Clarus musste ein zweites, weit umfangreicheres Gutachten anfertigen. Er ließ es veröffentlichen, noch vor der Hinrichtung. Es hieß »Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders J. C. Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzeneikunde actenmäßig erwiesen«. Clarus schrieb: »(Woyzeck ist) durch ein unstätes, wüstes, gedankenloses und unthätiges Leben von einer Stufe der moralischen Verwilderung zur anderen herabgesunken (und hat) … im finstern Aufruhr roher Leidenschaften, ein Menschenleben zerstört.« Clarus erkannte also keine Schuldunfähigkeit aufgrund sozialer und psychischer Umstände, was andere Ärzte taten und in »Henkes Zeitschrift« gegen Clarus polemisierten. Seither beschäftigt die Gerichtsbarkeit die Frage, ob ein Täter hinter Gitter oder in die Psychiatrie zu stecken ist.
BÜCHNER PRÄGTE DAS RECHTSVERSTÄNDNIS
Büchner, dessen Dramenfragment »Woyzeck« vermutlich 1836 in Straßburg begonnen wurde und das bei dessen Tod 1837 in Zürich nicht ganz vollendet war, hing offenbar der Theorie von der Schuldunfähigkeit an. Im Drama war der einfache Soldat Franz Woyzeck der Laufbursche eines ihn drangsalierenden Hauptmanns. Weil er mit dem knappen Sold seine Freundin Marie und das gemeinsame uneheliche Kind Christian nicht versorgen konnte, ließ er sich von einem gewissenlosen Arzt gegen geringes Entgelt zu Versuchszwecken auf eine Erbsendiät setzen. Als nun auch noch Marie eine Affäre mit einem Tambourmajor begann, glaubte er innere Stimmen zu hören, die ihm befahlen, Marie zu töten. Heute würde ein Psychiater wohl Schizophrenie erkennen. Und ein Gericht würde Woyzeck zur Behandlung in eine geschlossene Anstalt überweisen.
Büchners Stück, bis heute eines der meist gespielten deutschsprachigen Dramen, wurde erst am 8. November 1913 im Münchner Residenztheater uraufgeführt. Dass dies so spät geschah, lag nicht nur daran, das es ein Fragment war. Es lag an den Zeiten. Die herrschende Meinung war nicht gewillt zu akzeptieren, dass ein Mörder schuldunfähig sein könnte. Dass sich ein solches liberales Rechtsverständnis schließlich durchsetzen konnte, daran hatte der junge Büchner seinen Anteil.
Er wurde am 17. Oktober 1813 in Goddelau im Großherzogtum Hessen geboren. Es war die Zeit, die »Vormärz« genannt wird, die Zeit vor der Revolution in den Staaten des Deutschen Bundes, die im März 1848 begann. Er war das erste von sechs Kindern, die alle Karriere machten, die Politiker, Schriftsteller, Frauenrechtlerinnen und Professoren wurden. Büchner begehrte schon als Kind auf. Gegen den Vater, einem strengen Medizinalrat, gegen die Schule. Zwar schloss er das Gymnasium mit herausragenden Leistungen in Griechisch und Latein ab. Doch er liebte Naturwissenschaften und Geschichte. In einem seiner Schulhefte notierte er: »Lebendiges! Was nützt der tote Kram!«
1831 begann der 18-jährige Büchner ein Anatomiestudium an der Universität Straßburg. Er lebte bei einem evangelischen Pfarrer namens Johann Jakob Jaeglé, mit dessen Tochter Wilhelmine er sich heimlich verlobte. Ihr schrieb er einen Brief, der später als der »Fatalismus-Brief« bezeichnet werden sollte und in dem Büchners Grundeinstellung zum menschlichen Handeln zum Ausdruck kommt. In seinen Augen kann der Mensch nicht aktiv in die Geschichte eingreifen, kann sie nicht bestimmen. Er sei vielmehr »Schaum auf der Welle«.
Im November 1833 kehrte Büchner wieder in das Großherzogtum Hessen zurück, an die Universität Gießen. Er vermisste seine Wilhelmine und erlebte die Schikanen des deutschen Obrigkeitsstaates. Und er hasste die meisten seiner Hochschullehrer, besonders den Medizinprofessor Johann Bernhard Wilbrand, nach dessen Vorbild er den unmenschlichen Experimentierdoktor im »Woyzeck« ersann.
Auch mit seinen Kommilitonen kam Büchner nicht aus; sie waren ihm nicht radikal genug, wollten unter sich bleiben. Büchner dagegen wollte auch Nicht-Studenten in die radikal demokratische Bewegung aufnehmen. So gründete er eine Geheimorganisation, die »Gesellschaft für Menschenrechte«. Die Tatsache, dass dieser revolutionäre Bund nur eine kleine Zahl von Anhängern fand, dürfte Büchners fatalistische Auffassung bestärkt haben, der Mensch sei nur Spielball der Geschichte.
Gleichwohl versuchte er stets aktiv in diese einzugreifen. 1834 verfasste er ein Pamphlet, das die hessische Landbevölkerung zum Aufstand rief. Die Parole ist bis heute der Schlachtruf der Sozialrevolutionäre aller Welt: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« In der Flugschrift belegte Büchner beeindruckend, dass die Landbevölkerung mit ihren Steuern die Exzesse bei Hofe finanzierte. Aber sie lasen nur wenige. Einer war der Universitätsrichter Konrad Georgi, der prompt Büchners Zimmer durchsuchen ließ. Er verhörte Büchner, ließ ihn aber nicht festnehmen.
Büchner nutzte die Zeit und verfasste in nur fünf Wochen das Drama »Dantons Tod«. Nirgendwo zeigt sich seine fatalistische Einstellung besser als in diesem Vierakter. Im Gegensatz zur historischen Figur ist Büchners Danton von Anfang an die Sinnlosigkeit der Revolution klar.
Büchner drängte auf eine schnelle Veröffentlichung des Werks, er benötigte dringend Geld für die Flucht. Diese gelang ihm, obwohl er schon steckbrieflich gesucht wurde – nach Zürich.
EXIL IN DER SPIEGELGASSE 12
In der weltoffenen Stadt widmete er sich vor allem den Naturwissenschaften. Von der liberalen Universität Zürich wurde er – noch in Abwesenheit! – promoviert, allerdings für eine Arbeit über das Nervensystem der Barben. Nur drei Wochen nachdem er eine Wohnung in der Zürcher Spiegelgasse 12 bezogen hatte, in einem Haus neben jenem, in dem 80 Jahre später der Revolutionär Lenin Zuflucht fand, wurde er zum Privatdozenten ernannt. Am 5. November 1836 hielt er seine erste Vorlesung. Die wenigen Studenten, die sie hörten, waren begeistert.
Zwölf Wochen später erkrankte er an Typhus, allem Anschein nach hatte er sich bei seiner Arbeit an den Präparaten infiziert. Seine Nachbarn Caroline und Wilhelm Schulz, ebenfalls Flüchtlinge aus Deutschland, pflegten ihn. Sie benachrichtigten auch seine Verlobte. Büchner selbst hat seinen Zustand auf dramatische Weise verkannt: Noch Ende Januar 1837 schrieb er in einem Brief an seine Braut: »Ich habe keine Lust zum Sterben und bin gesund wie je.« Wilhelmine Jaeglé reiste trotzdem von Straßburg nach Zürich – und kam gerade noch rechtzeitig, um ihn bei seinem Dahinscheiden am 19. Februar 1837 in den Armen zu halten. Er wurde nur 23 Jahre alt.
Er hatte in den letzten Monaten wie ein Besessener gearbeitet und die Komödie »Leonce und Lena« vollendet. Er schrieb am »Woyzeck« und verfasste wohl ein Drama über den italienischen Renaissancedichter Pietro Aretino; das Manuskript ist allerdings verschollen. Es heißt, dass es seine Verlobte nach seinem Tod wegen einiger atheistischer Stellen verbrennen ließ. Doch vermutlich hatte Büchner das fertige Manuskript zur Korrektur oder Reinschrift gegeben, wo es nach seinem unvorhersehbaren Tod für immer verschwand.
Georg Büchner wurde auf dem Stadtfriedhof »Krautgarten« beerdigt. Und siehe da, nicht nur Hunderte von Studenten, auch viele Professoren und sogar die beiden Bürgermeister der Stadt gaben ihm, dem flüchtigen Revolutionär, das letzte Geleit. 1875, als der alte Friedhof eingeebnet wurde, kamen die sterblichen Überreste auf dem Germaniahügel zur letzten Ruhe.
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GERMANIAHÜGEL
Büchner-Grab
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