Читать книгу Zürich. Eine Stadt in Biographien - Michael Schwelien - Страница 9
ОглавлениеJOHANN HEINRICH PESTALOZZI
1746–1827
Er gründete die erste Schule, die auch Kindern aus armen Familien offen stand. Er wollte die Fähigkeiten seiner Schützlinge zur Entfaltung bringen und schenkte der Welt den Gedanken »Schulbildung für alle«.
Dort, wo eigentlich nur diskrete Privatbanken, feine Boutiquen und noble Hotels vorzufinden sein sollten, dort, wo die edelste Straße einer der reichsten Städte der Welt eigentlich bis zum letzten Quadratzentimeter bebaut sein sollte, dort, wo das, wie Immobilienmakler sagen, »Filetstück von Zürich« liegt, dort findet sich überraschenderweise ein kleiner Park. Es ist eigentlich nur ein leerer, fast unansehnlicher Platz. Früher war es der Pausenhof einer Schule. Und das passt. Mitten auf diesem Platz steht überlebensgroß das Denkmal Pestalozzis, errichtet 1899 vom Luzerner Bildhauer Hugo Siegwart.
Anderswo auf der Welt stehen auf solchen prominent gelegenen Plätzen die Statuen großer Herrscher oder zumindest großer Feldherren. Derart zentral gelegene Plätze sind gemeinhin reserviert für jene, die ihre Nation groß gemacht haben – und zwar auf einem Pferd und mit dem Zepter oder Schwert in der Hand.
Die Schweiz zog nie in einen Krieg. Jedenfalls nie ganz richtig. Zürich hat nur einem Kriegsherrn ein Denkmal gesetzt, dem Heerführer Hans Waldmann. Dieser wollte um 1480 als Bürgermeister der Stadt die ganze Eidgenossenschaft an das Deutsche Kaiserreich und das Herzogtum Mailand anlehnen statt an Frankreich, was ihm zum Verhängnis wurde. Schließlich hat man ihn hingerichtet, übrigens gleich um die Ecke. Sein Reiterstandbild steht an der Limmat hinter dem Fraumünsterstift 6 ( ▶ D 5), einen Katzensprung entfernt von dem Denkmal Pestalozzis.
Die Schweiz eroberte keine fremden Länder. Sie stellte indes den Herrschern Europas kampferprobte Söldner, so wie Waldmann einer war. Doch an diese erinnert man sich kaum. Die Schweiz gedenkt heute eher den Künstlern, Schriftstellern und Denkern, die hier, besonders in Zürich, im Verlauf der Jahrhunderte Frieden und Freiheit vorfanden.
Gleichwohl ist die Schweizer Finanzhauptstadt Zürich schon seit mehr als 100 Jahren ein veritables Schlachtfeld im weltweiten Geldgeschäft. Schweizer Geldinstitute sind, so sagt man es heute, zu Global Playern geworden. Und ausgerechnet dort, wo wenige Meter unter dem Straßenpflaster die Tresore mit den versteckten Reichtümern der Oligarchen aus aller Herren Länder lagern, wo riesige Mengen an Raub- und Fluchtkapital gebunkert sind, ausgerechnet dort wird an einen erinnert, der mit Geld und Macht so gar nichts zu tun hatte.
Vielleicht, weil die Geldmacht weiß, dass sie ohne die Macht der Herzen und ohne die Macht des Hirns gar nicht existierte. Vielleicht würdigt sie diesen einen an dieser derart exponierten Stelle, weil sie weiß, dass ohne die Verwirklichung von dessen einzigartiger Grundidee – Schulbildung für alle! – die meisten von denen, deren Geld um und buchstäblich unter seinem Denkmal liegt, dass die meisten von ihnen gar nicht zu ihrem Reichtum gekommen wären. Moderner Reichtum basiert fast immer auf der Arbeit vieler Gutgebildeter. Vereinfacht lässt sich sagen, dass Staaten nur dann aufstreben, wenn sie ihre Kinder in gute Schulen schicken, denn Bildung ist die kostbarste Ressource.
Johann Heinrich Pestalozzi muss ähnlich gedacht haben. Eine Schule für alle! Mit gleichen Rechten und Pflichten für alle! Mit der Betonung auf Arbeit! Für alle! Am Ende wird sich zeigen, wer welchen Lebensweg einschlägt.
Heute, knapp 200 Jahre nach Pestalozzis Tod, wird die Grundidee kaum noch in Frage gestellt. Weltweit gilt die allgemeine Schulpflicht. Differenzen existieren allerdings in den Details: Wann trennen sich die Wege der Schüler; wie viel Geld wendet man für den Einzelnen anteilig auf und wie lange?
ALLES GING VON EINEM PFARRHAUS AUS
Es ist eine Sache, eine großartige Grundidee zu formulieren, eine andere Sache, sie auszuführen. Das musste Pestalozzi selber erfahren. Gut begründet war seine Idee auf jeden Fall.
Das liegt zum Teil an der Familiengeschichte. Die Vorfahren Pestalozzis stammen aus dem Sankt Jakobstal in der nördlichen Lombardei. Es gehörte also noch zu Lebzeiten von Johann Heinrich zu den Drei Bünden, einem Freistaat auf dem Gebiet des heutigen Schweizer Kantons Graubünden. Es fiel aber, wie auch die Lombardei, später als Val San Giacomo an Italien.
Es waren zunächst nicht die wechselvollen nationalen Geschicke des Val San Giacomo, die für das Denken des Johann Heinrich Pestalozzi ausschlaggebend wurden. Es waren die politischen Zeitläufe. Bereits im 16. Jahrhundert war ein Spross der Familie aus dem Val San Giacomo nach Zürich gezogen, um dort zu studieren. Er blieb, und 1746 kam sein Nachfahre Johann Heinrich dort zur Welt. Dessen Großvater war Pfarrer der reformierten Kirchengemeinde von Höngg gewesen, sein Vater Chirurg und die Mutter Abkömmling einer Familie von Bessergestellten. Das Pfarrhaus von Höngg steht heute noch vor der reformierten Kirche oberhalb eines Weinbergs mit Blick auf die Stadt; eine Gedenktafel zeugt von dem prominenten Bewohner.
Man kann also sagen, Johann Heinrich Pestalozzi wuchs in aufgeklärten Verhältnissen auf, obwohl die moderne politische Bedeutung des Begriffs sich damals gerade erst entwickelte. Wir definieren den Begriff »Aufklärung« heute im Sinne des Genfer Philosophen und geistigen Wegbereiters der Französischen Revolution, Jean-Jacques Rousseau, verstehen Aufklärung als den Gedanken, dass die Vernunft imstande sei, die Wahrheit ans Licht zu bringen und die Tugenden zu befördern. Untrennbar einher geht damit der Gedanke, dass die politische Macht nicht von der Religion zu bestimmen ist.
Johann Heinrich Pestalozzi, dem schon vom Großvater Andreas Pestalozzi, dem Pfarrer von Höngg, so etwas wie Liebe zu Familie und Volk vermittelt worden war, studierte in Zürich zunächst Theologie, wechselte dann zu den Rechtswissenschaften auf das Collegium Carolinum, wo er – auch dies ist bezeichnend – bei Johann Jakob Bodmer lernte, einem Aufklärer, aber auch einem Romantiker, der die mittelhochdeutsche Dichtung neu entdeckt hatte. Johann Heinrich Pestalozzi brach das Studium ab. Er schmiss es hin. Ob unter dem Einfluss dieses Bodmer oder nicht, das ist nicht mehr festzustellen. Gesichert ist indes, dass Pestalozzi seinen Vorbildern gern auf das Genaueste folgte.
Zunächst begann er eine landwirtschaftliche Lehre. Dann gründete er ein Agrarunternehmen. Er wollte durch die Einführung neuer Dünger und Gewächse der verarmten Bauernschaft als gutes Beispiel vorangehen. Und er scheiterte dabei leider kläglich.
Zur selben Zeit heiratete er Anna Schulthess – gegen den Willen ihrer Eltern. Schon im nächsten Jahr, 1770, kam ein Sohn zur Welt. Sie nannten ihn Hans Jakob, eigentlich Jean-Jacques, nach Jean-Jacques Rousseau. Und als sei damit dem aufklärerischen Gedanken noch nicht Genüge getan, setzte Pestalozzi noch einen drauf, und zwar gewaltig.
Er folgte Rousseaus Schrift »Emile oder über die Erziehung« zur natürlichen Kindererziehung bis aufs Wort, versuchte, das Jakobli genauso zu formieren, wie Rousseau seinen Zögling Emile. Für seinen Emile hatte der Philosoph Pars pro Toto zwei pädagogische Ziele: Er sollte in die Lage versetzt werden, in der Zivilisation zu bestehen, ohne daran Schaden zu nehmen; und er sollte bereit sein, den »Gesellschaftsvertrag« zu schließen, jenen Vertrag, der die politische Ordnung bestimmt.
Das Jakobli war aber leider kein guter Schüler. Er konnte mit elf Jahren noch nicht einmal richtig lesen und schreiben, obwohl (oder weil) Pestalozzi ihn körperlich hart gezüchtigt hatte, seit er drei war. »Er kann keine zwei Linien Gebete auswendig … Ich hoffe zu Gott, diese Unwissenheit, in welcher die Vorsehung mir erlaubt, ihn lassen zu können, werde das Fundament seiner vorzüglichen Ausbildung und seiner besten Lebensgeniessungen sein«, schrieb der ratlose Vater an den Pädagogen Peter Petersen. Bei der Erziehung des eigenen Sohns scheiterte Pestalozzi also kläglich, nein, tragisch, denn das Jakobli starb schon 1801, nur 31-jährig.
IN DER PRAXIS SCHEITERTE ER KLÄGLICH
Schon 1773 hatte Pestalozzi sein Landgut Neuhof in Birr im heutigen Kanton Aargau in eine Schule verwandelt. Er nahm 40 Kinder auf, die lesen, schreiben und rechnen lernen sollten, denen sittlich-religiöser Unterricht zuteil wurde, die aber auch spinnen, weben und im Landbau arbeiten mussten. Der Stich eines unbekannten Künstlers zeigt das Ehepaar Anna und Jakob Heinrich Pestalozzi beim Unterricht, zu seinen Füßen scharen sich Jungen und Mädchen in wissbegieriger Eintracht. Doch auch dieses Unternehmen scheiterte kläglich. Weil die Anstalt nur Schulden machte, musste Pestalozzi sie nach fünf Jahren Betrieb schließen.
Von 1780 bis 1810 widmete sich Pestalozzi nur noch der Theorie: Er wurde Schriftsteller. Und da hatte er Erfolg. Er wurde Redakteur beim »Helvetischen Volksblatt«. Seine Schriftwerke fanden Anerkennung in ganz Europa. Die französische Nationalversammlung erklärte ihn als einzigen Schweizer zum französischen Ehrenbürger. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften nahm ihn als auswärtiges Mitglied auf.
Dank dieser Erfolge konnte Pestalozzi wieder eine Schulanstalt eröffnen, die zum Vorbild für reformpädagogische Schulmodelle auf der ganzen Welt werden sollte. Es war das Erziehungsinstitut im Schloss Burgdorf im heutigen Kanton Bern, das 1804 nach Yverdon-les-Bains verlegt werden sollte. Hier entwickelte Pestalozzi sein Modell weiter – und machte es durch neue Schriften berühmt. Seine »Idee der Elementarbildung«, das heißt »Lernen mit Kopf, Herz und Hand«, strebt eine Erziehung an, welche die intellektuellen Kräfte (der Kopf), die sittlich-religiösen Kräfte (das Herz) und die handwerklichen Kräfte (die Hand) gleichsam herausfordert und ausbildet. Pestalozzi musste auch diese Anstalt aufgeben, 1825, zwei Jahre vor seinem Tod. Als Grund für dieses Versagen galt diesmal allerdings der Streit um seine Nachfolge.
Pestalozzi starb am 17. Februar 1827 im Alter von 81 Jahren in Brugg bei Zürich. Er wurde am Schulhaus von Birr, seiner alten Wirkungsstätte, beigesetzt. Auf seinem Grabstein steht unter anderem »Erzieher der Menschheit. Mensch, Christ, Bürger, Alles für Andere, für sich Nichts. Segen seinem Namen!«
PESTALOZZI-DENKMAL
Bahnhofstrasse/Pestalozziwiese, Quartier City
▶ Tram: Paradeplatz
PFARRHAUS DER REFORMIERTEN KIRCHE HÖNGG
Ackersteinstrasse 190, Quartier Höngg
▶ Tram: Meierhofplatz