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PROLOG

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Rolly Tambara hatte ein Problem: „Der Pirat hat meine Bibel mit Füßen getreten!“

Rolly saß mit mir im Schatten eines Förderbands an Deck eines gekaperten Thunfisch-Kutters. Er war vermutlich mein bester Freund im Umkreis von zweieinhalbtausend Kilometern, sicherlich der beste Freund in der somalischen Region Galmudug, wo wir uns das erste Mal getroffen hatten, und ganz bestimmt der einzige Freund hier vor dem Horn von Afrika im Indischen Ozean, wo der Kutter momentan vor Anker lag.

Rolly stammte von den Seychellen und war Fischer, ein alter Mann, faltige Stirn, kahler Kopf, gedrungene Gestalt, klein, kräftig, aufrecht. Er sprach Kreolisch. Nach einiger Zeit als Geiseln an Land hatte man uns an Bord der NAHAM 3 verschleppt.

„Wer war es?“, fragte ich.

„Kenn ihn nicht.“

Rolly saß mit seiner Bibel an Deck, als einer der Piraten von der Brücke herabkam, um sich Tee zu kochen. Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, setzte er sich zu Rolly, neugierig, was dieser da las. Als er sah, dass es eine Bibel war, versuchte er sie mit seinen salzverkrusteten Füßen über Bord zu kicken – mit den Händen hätte er dieses Buch niemals angerührt.

„Ist sie über Bord gegangen?“

„Nein, ich konnte sie gerade noch retten.“

„Wo ist der Kerl jetzt?“

„Auf der Brücke, mit seinem Tee.“

„Und du weißt nicht, wie er heißt?“ Rolly schüttelte den Kopf.

„Du musst es Tuure sagen.“

Auf diesem verfluchten Kahn war Tuure der Chef, ein Somali undefinierbaren Alters mit nach vorn gebeugten Schultern, zerzaustem Haar und Zahnlücken, die sein Grinsen regelmäßig freilegte. Sein eigenartiger Sinn für Humor und sein – wenn auch eigenwilliges – Verständnis von Gerechtigkeit sicherten ihm einen gewissen Einfluss unter den Piraten. Er lief an Deck umher und grüßte mit erhobener Hand jeden, dem er begegnete, mit einem krächzenden „Heeyyyy!“. Er war klapperdürr, sein Anblick erinnerte mich an „The Fonz“ aus der Kultserie Happy Days – nur noch etwas heruntergekommener und morbider. Tuure würde vermutlich nicht viel mit einer Bibel anfangen können, aber er ließ andere mit seinem muslimischen Glauben in Ruhe. Außerdem verachtete er Respektlosigkeit – ein wenig zumindest.

Rolly hörte auf meinen Rat und ging aufs Oberdeck. Seine Beschwerde sorgte bei den Piraten für Aufregung. Ich brühte mir eine Tasse Instantkaffee auf und verzog mich an einen Platz, von wo ich über das Wasser aufs Land blicken konnte. Wir lagen unmittelbar vor der Stadt Hobyo. Kurzsichtig, wie ich war, sah ich allerdings wenig mehr als ein paar verschwommene graue Felsen auf dem ansonsten wüstenleeren Ufer. Manchmal blitzte das Sonnenlicht wie Nadelstiche auf, wenn es von den Zinkdächern der Hütten in der Stadt reflektiert wurde.

Die NAHAM 3 maß von Heck bis Bug etwa 50 Meter. Sie fuhr unter der Flagge Omans, war allerdings von einer taiwanesischen Firma gechartert worden, ein Langleinen-Fischerboot. Die Besatzung waren chinesische, kambodschanische, vietnamesische, indonesische und philippinische Fischer und Seeleute. Jetzt saßen sie als Geiseln an Bord ihres Schiffes fest und vertrieben sich ihre Zeit mit Kartenspielen und Rauchen, Insassen eines Gefangenenlagers auf See. Ich selbst, damals Anfang 40, war als Journalist an Bord gestrandet, mein altes Leben in Berlin nur mehr eine verblassende, ferne Erinnerung. Ich war schmächtig geworden. Während der drei, vier Monate in Gefangenschaft hatte ich gut 20 Kilo verloren.

Am Heck des Schiffes gab es eine Thunfischwaage: ein Haken mit Federn. Man konnte ein Seil daran befestigen und sich baumeln lassen. Dann hing man da wie ein toter Fisch. An der Reling stand Jian Zui – gesprochen „Jyen-Tswai“. Das war sein Spitzname. In Wirklichkeit hieß er Leng Wenbing. Er stammte aus China. Sein flaches Gesicht wirkte einfältig, nur manchmal zeigte sich ein breites Grinsen. Jian streckte mir seine Zigaretten entgegen.

„Nein danke!“

Er schnippte seinen Zigarettenstummel über die Reling ins Wasser, blickte hinüber nach Hobyo und legte seine Handflächen über dem Kopf zusammen, wie für einen Kopfsprung über Bord. Mir stockte der Atem, seine Geste war ein klarer Verstoß gegen die ungeschriebenen Gesetze an Bord. Verstohlen sah ich mich nach unseren bewaffneten Wächtern um, die auf dem Oberdeck in der Sonne dösten. Jian Zui und ich konnten uns kaum verständigen, dachten aber das Gleiche. Tausende Male schon hatte ich mir vorgestellt, mit einem beherzten Sprung ins Wasser mein Gefängnis zu verlassen. Bei Jian war ich mir allerdings nicht sicher, ob er schwimmen konnte.

Er grinste: alles nur Spaß! Er blickte gen Himmel und faltete seine Hände zum Gebet wie ein guter Katholik: „Santa Maria!“

„Santa Maria!“, unter den Chinesen an Bord hieß das so viel wie „Tod“. Wer springt, ist tot.

Ich nickte.

Ein Motorboot schoss über die Dünung auf uns zu. Zweimal täglich kam ein Versorgungsboot von Hobyo herüber. „Moto“, kommentierte Jian Zui. Das Boot kam längsseits, die Insassen warfen ein Tau an Bord und die Piraten belegten damit eine Klampe an Deck, während die Wellen die Boote auf und ab schaukeln ließen. Drei, vier Somalis sprangen an Bord, ein weiterer reichte ihnen einen Sack Khatblätter, ein Aufputschmittel, das die Somalis kauen, so wie im Westen Alkohol getrunken wird. Die Piraten stritten sich, wer den Sack oben verstauen sollte.

In diesem Sommer des Jahres 2012 beobachtete ich das Kommen und Gehen der Zulieferboote mit vorsichtigem Optimismus. In einem der seltenen Telefongespräche mit meinen Angehörigen daheim in Kalifornien hatte ich auf Deutsch einen Hinweis auf unseren Aufenthaltsort fallen lassen. Meine Mutter wollte mir daraufhin ein Carepaket schicken.

„Michael, können wir dir ein Carepaket dorthin schicken?“

Der naive Optimismus in ihrer Stimme klang noch lange in meinem Inneren nach. Er hatte mich damals verwirrt und trostlos zurückgelassen. Die Vorstellung, ein Carepaket könnte es wirklich an all den Clans und Verbrecherbanden vorbei durch die Savanne zu mir schaffen, ließ mir die Tränen in die Augen steigen.

Von Süden her kam ein Flugzeug geflogen und kreiste über Hobyo. Noch bevor ich den Propellerlärm hörte, sah ich es am Himmel. Dann trug der Wind Geräuschfetzen übers Wasser zu uns herüber. Als es in weitem Bogen über uns flog, glaubte ich einen europäischen oder amerikanischen Aufklärer zu erkennen, war mir ohne Brille aber nicht sicher. Doch da kam auch schon ein Somali mit finsterem Blick von der Brücke zu uns herab und drohte mit der Waffe.

„Amerikaner!“, rief er.

Er drängte mich dorthin zurück, wo man mich vom Flugzeug aus nicht sehen konnte. Auch die Piraten zogen sich zurück, aus Angst, ihre Gesichter könnten erkannt werden.

„Amerikaner!“, rief der Somalier nochmals und wedelte mit seiner Pistole herum. Für uns Geiseln hatte er nur Verachtung übrig. Seinen Befehlen gehorchen zu müssen, ließ Wut in mir aufsteigen. Ich beugte mich erst recht über die Reling und beobachtete die Somalis, wie sie ihre Fracht von der Barke an Bord unseres Schiffes schafften. Ein Carepaket war natürlich nicht dabei.

„Lass es, Michael“, drang eine Stimme von unter dem Fließband hervor. „Provoziere sie nicht“, sagte Rolly.

Wir werden dich töten

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