Читать книгу Wir werden dich töten - Michael Scott Moore - Страница 8
DIE UNTERWELT
ОглавлениеGegen Abend erreichten wir ein Camp mitten im Busch. Man führte mich zu einer Schaumstoffmatratze, die am Fuß einer brüchigen Felswand auf dem roten Sand lag. Mit meinen verschlissenen Kleidern muss ich wie eine Vogelscheuche ausgesehen haben. Mir war schwindlig und ich konnte kaum etwas sehen, dennoch erkannte ich weitere Geiseln und noch mehr bewaffnete Männer.
In unserem Rücken ging allmählich die Sonne unter. Da wir aus dieser Richtung gekommen waren, schloss ich, dass wir uns östlich von Galkayo befinden mussten. Soweit ich das mitbekommen hatte, waren wir auf dem Weg hierher kaum in südliche oder nördliche Richtungen gefahren. Damit mussten wir nach meiner Schätzung im nordöstlichen Teil Galmudugs gelandet sein – mitten im Territorium des Sa’ad-Klans.
„Okay, Michael?“
Ein junger Mann mit ernstem Gesicht unter einem Turban hatte sich vor mir aufgebaut. Scherenschnittartig hoben sich sein Kopf und seine Kalaschnikow gegen den rötlichen Himmel in der Dämmerung ab.
„Nein“, antwortete ich nach einer Weile.
Bei jedem Wächter, der mir begegnete, kniff ich die Augen zusammen. Ich wollte wissen, ob sich einer unserer Leibwächter meinen Entführern angeschlossen hatte. Anscheinend nicht. Es hätte auch keinen Unterschied gemacht. Ich war offensichtlich in der Gewalt des Sa’ad-Klans, desselben Klans, der eigentlich für meine Sicherheit sorgen wollte. Meine Gastgeber hatten mich verraten.
Das Team, das mich im Land Rover hierhergebracht hatte, hatte sich inzwischen unter die Piraten im Lager gemischt. Einer von ihnen stolzierte, die Munitionsweste lässig über den Schultern, mit wutverzerrtem Gesicht zwischen uns Gefangenen umher. Er hatte faulende Zähne und blutunterlaufene Augen. Die anderen nannten ihn „Ahmed Dirie“.
Und noch einen Namen sollte ich immer wieder zu hören bekommen: Abdinuur. Er wurde meist voller Ehrfurcht ausgesprochen.
Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper und sorgte mich dennoch vor allem um meinen Rucksack. Noch war ich nicht lange genug Geisel, noch hoffte ich meine Angelegenheiten selbst regeln zu können. Ich hatte die Kontrolle verloren und wollte sie wieder zurück.
„Wo ist mein Rucksack?“, rief ich einem der jungen Wächter zu. „Ein brauner Rucksack, mit meiner Kamera, kannst du sie fragen, wo er ist?“
„Deine Kamera wurde gestohlen?“
„Ja!“
„Diese Verbrecher!“, platzte es aus ihm heraus.
Ich sah ihn fragend an.
Ein dürrer Somali mit tiefschwarzer Haut hockte sich neben mich und gab mir Wasser in einer Flasche, etwas Thunfisch aus der Dose und zwei dünne Scheiben Brot. Ich versuchte ein wenig zu essen. Doch überall an meinen Händen, meinem Shirt und in meinen Haaren war Blut. Mein Handgelenk pochte schmerzhaft. Vorsichtig drückte ich auf die Schwellung und konnte einzelne, lose Knochensplitter fühlen.
Im Camp herrschte eine wachsame Stille. In mir tobte dagegen der Wunsch, mich aus dieser Situation zu befreien. Alles hier stand im krassen Widerspruch zu den Dingen, von denen ich bis dahin geglaubt hatte, sie machten mich aus. Es widersprach meinen Gewohnheiten, meinen Bedürfnissen und allem, was ich zu sein und zu besitzen glaubte. „Ihr dürft das nicht!“, wollte ich meine Entführer anschreien. Nur, was hätte das geändert?
Ohne meine Brille konnte ich selbst bei Licht nur verschwommen sehen. Jetzt war die Sonne untergegangen und wir saßen in völliger Dunkelheit am Fuß des Steilhangs. Von oben rieselte ab und zu Sand auf uns herab. Ich saß immer noch blinzelnd auf meiner Schaumstoffmatratze und versuchte etwas zu erkennen. Meine Entführer forderten mich auf, endlich zu schlafen. Ein Pirat zu meiner Rechten leuchtete mir mit seiner Taschenlampe mitten ins Gesicht. Er bedeutete mir, mich hinzulegen. Offenbar wollte er sich ungestört mit Ahmed Dirie zu meiner Linken unterhalten.
„Sleeping! Sleeping!“, befahl er mir. Im Schutz der Dunkelheit zeigte ich ihm den Mittelfinger. Lasst mich frei, wenn ich euch störe, dachte ich mir.
Unser Lager befand sich inmitten eines trockenen Savannenabschnitts, einer heißen, dürren Übergangszone zwischen Küste und Ogadenwüste, die sich von hier nach Norden und Westen bis nach Äthiopien erstreckt. Jedes Geräusch wurde von der Landschaft geschluckt. Die Stille begann mich zu quälen, genauso wie die äußeren Umstände meiner Geiselhaft. Der Gedanke, welche Aufregung und Sorge meine Entführung für meine Familie und meine Freunde in Los Angeles und Berlin bedeuten musste, nagte ständig an mir. Ich war Gefangener im Dunkel einer Unterwelt, aus der bestenfalls Gerüchte aufstiegen, als Geflüster von Geistern für alle, die dort drüben in der wirklichen Welt lebten. Ob Ashwin bereits zu Hause angerufen hatte? Sollte Gerlach am Leben und frei sein, hatte er sicher zuallererst Ashwin in Mogadischu informiert. Ashwin hatte die Telefonnummer meiner Mutter in Los Angeles.
Doch war Gerlach wirklich auf freiem Fuß? Und was war mit Hamid passiert?
Gab es jetzt einen Klankrieg zwischen den einzelnen Sa’ad-Familien?
Oder hatten mich am Ende meine Kontaktleute in Somalia selbst verraten?
Irgendwann schlief ich ein. Gleich nach Sonnenaufgang packten mich die Piraten und verfrachteten mich zu zwei weiteren Geiseln auf die Rückbank eines wartenden Autos. Die beiden anderen waren um die 60. Afrikaner der eine, der andere mit der kakaobraunen Haut der pazifischen Inselbewohner. Hinter seinen Ohren standen zwei graue Haarbüschel hervor. Es war Rolly Tambara, wir sollten bald gute Freunde werden.
Neben uns quetschten sich bewaffnete Piraten auf die Rückbank und banden uns drei an den Armen zusammen. Vom Beifahrersitz aus bellte Ahmed Dirie seine Befehle nach hinten. In seinem Gesicht mit dem verfaulenden Gebiss spielte wieder jener Zug unverhohlener Wut und Verachtung. Wir saßen in demselben Auto, mit dem ich am Vortag hierhergebracht worden war. Ich erkannte den Blutfleck wieder, den meine Kopfwunde an der Deckenverkleidung hinterlassen hatte.
Etwa eine Stunde lang schaukelten wir die Pirate Road entlang, bis uns ein anderes Auto überholte. Auf einem Stück mit weichem weißem Sand hielten wir schließlich an.
„Go, go, go, go!“, herrschten uns die Piraten an und warteten darauf, dass wir in das andere Auto umstiegen. Wir waren verwirrt. Ein groß gewachsener Somali mit eindrucksvollem Silberblick, der aus dem anderen Auto gestiegen war, trieb uns an: „Come on! Come on!“ Gerade als wir in den zweiten Wagen eingestiegen waren, schlug er mir mitten ins Gesicht.
„No!“, schrie er, als hätte ich irgendetwas falsch gemacht. „No! No!“
„Fucking hell!“, fluchte ich.
Sein Kopf tauchte im Seitenfenster auf. „Wir wissen genau, was du hier treibst. Du bist Journalist!“, sagte er auf Englisch. „Macht nichts. Wenn du das Lösegeld bezahlen kannst, lassen wir dich frei.“
Er stieg in den Land Cruiser, mit dem wir hierhergekommen waren, und brauste in einer Staubwolke davon.
Wir rumpelten danach fast eine Stunde lang weiter in südlicher Richtung, bis wir auf ein eingezäuntes Gelände mit einem heruntergekommenen Haus stießen. Die Entführer brachten die beiden anderen Geiseln in das Haus. Mich drängten sie in einen Anbau daneben. Der Boden bestand aus blau gestrichenem Beton, die Fenster waren verriegelt, sonst gab es dort nichts.
Ich setzte mich auf den Boden. Ich wusste nicht, wo ich mich befand. Das Haus lag wohl am Stadtrand der ersten Stadt, die wir auf unserem Weg über die Pirate Road passiert hatten. Wir waren also entweder in Hobyo oder in Harardhere. Ich hatte zuvor gehört, wie einer der Wärter etwas wie „Harardhere“ in sein Handy gebrüllt hatte. Ich kniff die Augen fest zusammen und versuchte das Gelände vor dem Haus zu erkennen. Mindestens 20 Somalis mit Kalaschnikows und Maschinengewehren hatten sich auf dem Betonplatz in der Sonne versammelt und kauten Khat.
Um den Eingang zu meinem Zimmer schwirrten die Fliegen.
Die Fliegen kamen mir aus Hobyo bekannt vor, also war ich wohl dorthin zurückgekehrt.
Ahmed Dirie wuchtete eine Matratze in mein Zimmer. Andere brachten Thermoskannen voll Tee und ein paar Dosen Thunfisch. Jemand drückte mir ein Sieb und ein Päckchen löslichen Kaffee in die Hand. „Caffè!“, strahlte er mich an.
Ich liebte guten Kaffee, trank zur Not auch schlechten Kaffee und hatte mich noch nie über einen Kaffee beschwert – selbst in Somalia nicht. Auf meinen Reisen schluckte ich jede noch so trübe Brühe, ich wusste ja, dass zu Hause wieder ordentlicher Kaffee auf mich wartete. Denn wenn ich auch keinen Fernseher, kein Auto oder teure Möbel besaß und mir sonst keinen großen Luxus leistete, in meiner Berliner Wohnung stand eine richtige Siebträgermaschine, die mit jeder Tasse, die sie zubereitete, die Wohnung nach frisch gebrühtem Espresso duften ließ.
Mein Gegenüber hier jedoch bedeutete mir, ich solle den Tee durch das Sieb gießen. So ansteckend seine Begeisterung dabei war, ich verstand nicht, was das mit Kaffee zu tun haben sollte. Guten Kaffee habe ich in Somalia vermisst, nicht gleich vom ersten Tag an, aber nachdem ich als Geisel unter Piraten geraten war.
Irgendjemand schob mir über den Betonboden eine Schüssel gekochter Bohnen zu. Ich hatte Hunger, obwohl meine neuen Lebensumstände mich buchstäblich anekelten. Ein Pirat reichte mir einen Löffel und ich aß wortlos, während um mich herum die Fliegen schwirrten.
Auf dem Hof hatte ich neben ein paar alten Autoreifen einen Brunnen gesehen. Mein Essen verströmte denselben Geruch nach Exkrementen oder abgestandenem Wasser, der überall auf dem Gelände zu riechen war. Offenbar hatte man die Bohnen in dem Brunnenwasser gekocht. Der Gedanke reichte aus, um meinen Magen revoltieren zu lassen. Ich musste würgen und kotzte die paar Bissen, die ich gegessen hatte, auf die Türschwelle.
„Problem!“, rief einer der Piraten.
Man begann nach einem Lappen zu suchen, um das Erbrochene aufzuwischen, alle schimpften und rannten wild durcheinander. Der Pirat, der mir in der Nacht zuvor mit der Taschenlampe in die Augen geleuchtet hatte, starrte durch die Tür auf den Tumult; ganz so, als beobachte er im Zoo das Treiben im Dromedargehege. Vielleicht hat er verstanden, dass meine Kotze durchaus als Ausdruck meines Unbehagens mit meiner neuen Rolle als Geisel zu verstehen war. Und als Protest, versteht sich, gegen das unmenschlich schlechte Essen.
Eine Stunde später trat ein schmieriger Kerl in lockeren Freizeithosen zu mir ins Zimmer. Er stellte sich mir als mein Übersetzer vor. Erst später erfuhr ich von den anderen seinen Namen: Boodiin. Ungefragt und voller Herablassung begann er mir seine Weisheiten aufzudrängen und mich zu warnen. Ich hätte einen Fehler begangen, sagte er. Aber das sei schließlich nur allzu menschlich. Falls ich übrigens auf die Idee käme, die Fenster zu öffnen, warteten davor Wächter mit ihren Waffen. „Sobald du ein Fenster öffnest, stirbst du.“
„Hmm.“
„Du musst etwas essen“, sorgte er sich, „wenn du nichts isst, wirst du verhungern.“
„Das Essen ist zum Kotzen!“
„Was willst du zum Frühstück essen?“
„Keine Ahnung, wie wär’s mit Haferflocken?“
„Du musst etwas essen!“
Mein Übersetzer hatte ein schmales Gesicht mit wachsamen Augen. Seine westliche Kleidung hob ihn deutlich von meinen Wächtern mit ihren schäbigen Sarongs und den ärmellosen T-Shirts ab. Er mochte um die 30 sein, auch wenn es nicht einfach war, sein Alter zu schätzen. Mir schien er nervös und reizbar.
Um mein Handgelenk hatte ich in der Zwischenzeit ein Stück Stoff gewickelt. Er zeigte sich besorgt.
„Was ist mit deiner Hand?“
„Gebrochen“, sagte ich, „mein Handgelenk ist gebrochen, ich brauche einen Arzt.“
„Ist das passiert, als die“ – er deutete mit einer knappen Geste auf den Hof – „dich gefangen genommen haben?“
Nein, du Arsch, ich laufe zum Spaß mit gebrochenem Handgelenk durch Somalia!
„Ja!“ Ich zwang mich trotz meiner Wut zu einer etwas knapperen Antwort.
„Ich geb’s weiter.“
Du hast einen Fehler gemacht, hatte Boodiin gesagt. Aber das ist nur menschlich. Sehr witzig, das von jemandem gesagt zu bekommen, der mit meinem Lösegeld reich werden wollte.
Natürlich hatte ich es vermasselt, nur welchen Fehler hatte ich eigentlich genau begangen? Vermutlich meinte er meine journalistische Tätigkeit, das Herumschnüffeln in den Angelegenheiten der Piratenbanden. Doch was hatte der Sa’ad-Klan mit dem Frachter TAIPAN zu schaffen? Die Piraten in Hamburg stammten allesamt aus dem Darod-Klan in Puntland, sie waren erbitterte Gegner meiner vermeintlichen Gastgeber. Zu den Recherchen in Nord-Galkayo war ich überhaupt nicht gekommen. Ich blinzelte und sah auf dem Hof die Umrisse einiger Somalis, die in der sengenden Sonne ihr Khat kauten. Was hatte sie derart aufgeschreckt?
Boodiin erklärte mir, dass die Piraten, die mich gefangen genommen hatten, zu einer „bad group“ gehörten – einer miesen Bande. Hier sei ich allerdings in den Händen einer „good group“. Er sagte das ganz so, als schulde ich den netten Kerlen da draußen so etwas wie Dankbarkeit. Außerdem brauchte ich nur die Augen zusammenzukneifen, um dort auf dem Hof mindestens einen meiner Entführer aus jener „bad group“ wiederzuerkennen. Ahmed Dirie lungerte dort in einem gelben Sarong neben einem Maschinengewehr auf einem dreifüßigen Ständer, im Gesicht immer noch denselben wutbenebelten Ausdruck.
Ich sah meinen Übersetzer finster an. Er war kein guter Lügner.
„Wie heißt du?“
„Ali.“
Der wirkliche Ali, der Ali, auf den es hier ankam, war Ali Duulaay – gesprochen „Duhlei“. Er hatte mir auf der Piratenstraße ins Gesicht geschlagen, seinen Namen erfuhr ich jedoch erst später. Zweimal hatte er bisher unser Lager besucht. Bei seinem ersten Besuch stand plötzlich der Umriss seiner hoch gewachsenen Gestalt bedrohlich still im Türrahmen meines Zimmers. Nach einer Weile kam er zu mir herein, hockte sich neben meine Matratze und stellte mir in holprigem Englisch ein paar Fragen. Er war um die 40 und gut trainiert, trug Uniformhosen, ein Hemd mit Kragen und natürlich eine Kalaschnikow. Er tat so, als sorgte er sich um mein gebrochenes Handgelenk.
Dabei waren ihm offensichtlich andere Dinge wichtiger: „Du bist Deutscher?“
„Mein Ausweis ist in meinem Rucksack“, antwortete ich, „den haben Sie ja.“
Vermutlich war er es, der am Tag meiner Entführung bei unserem kurzen Stopp vor dem Haus in Galkayo meinen Rucksack in Empfang genommen hatte. Wenn das so war, warum sollte ich ihn dann nicht nach meinen Sachen fragen? Statt mich wie eine eingeschüchterte Geisel zu verhalten, versuchte ich Ali Duulaay mit einem nassforschen, fordernden Auftreten zu beeindrucken. „Sie haben mir meinen Rucksack weggenommen“, quasselte ich weiter auf ihn ein, „irgendjemand muss ihn doch haben. Bringen Sie ihn mir. Meine Notizbücher, mein Adressbuch, alles ist da drin. Ich muss dringend jemanden anrufen.“
Er starrte mir regungslos ins Gesicht, kein Blinzeln, nichts.
„Du bist Amerikaner.“
„Ich bin deutscher Staatsbürger“, widersprach ich.
Er stand auf und ging. „Ich schick den Doktor vorbei“, sagte er zum Abschied.
Den amerikanischen Reisepass hatte ich mit meinem Laptop und anderen wichtigen Dingen in Nairobi gelassen. Die Behörden in Galmudug wären sonst bereits bei meiner Ankunft in Galkayo alarmiert gewesen. Ein europäischer Reisepass war für Somalis weit weniger verdächtig. Allerdings hatte Duulaay womöglich im Internet nach meinem Namen gesucht. Wenn dort bereits über meine Entführung berichtet wurde, wusste er vermutlich alles über mich.
Du hast einen Fehler gemacht, hatte Boodiin gesagt. Fehler sind menschlich.
Ein Wächter brachte mir Zahnpasta, ein Handtuch, Shampoo, ein paar Mango-Drinks und in Plastikfolie verpackte Shorts und T-Shirts. Ich solle frische Kleider anziehen, gaben sie mir zu verstehen. Auch wenn mein Hemd und meine Baumwollhosen zerrissen und voller Blut waren, ich wollte sie lieber behalten. Sie waren bequem und vor allem vertraut. Sie den Piraten zu überlassen, die sie vermutlich beseitigen würden, verstärkte mein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Angst. Warum sollte man meine Kleider wegwerfen, warum mein altes Leben entsorgen? Beides war doch in Ordnung, so wie es zuvor gewesen war. Die neuen Kleider passten nicht, sie waren zu eng.
Ich zog mich langsam und vorsichtig um. Von draußen sahen mir die Piraten zu. Ohne Knöpfe war es schwierig, mein gebrochenes Handgelenk durch den Polyesterärmel meines neuen Shirts zu zwängen. Als ich fertig war, befahl man mir, zum Duschen zu gehen.
„Jetzt? Ich hab mir gerade frische Kleider angezogen!“
„Jetzt! Los, komm!“
„Ich kann doch auch später duschen!“
„Go, go, go, go!“
Unter vorgehaltenem Gewehr lief ich mit einer Flasche Shampoo in der Hand an den verächtlichen Blicken der Piraten vorbei über den dreckigen Hof. Die Dusche war nicht viel mehr als ein Mauereck gleich neben der offenen Latrine. Einer der Wärter reichte einen Kanister voll Wasser über die kaputte Metalltür und blieb dort stehen, während ich mich auszog. In den Mauern der Dusche waren ein paar hübsch verzierte Luftlöcher eingelassen. Wenn ich die Augen zusammenkniff, konnte ich durch sie verschwommen und schemenhaft eine staubige Straße mit ein paar Häusern erkennen. Doch solange ich keine Brille aufhatte, sah für mich alles, was ein paar Meter von mir entfernt war, wie ein Gemälde von Monet aus. Ich konnte außerdem ein paar Büsche erkennen und sah das Meer. Auf der Straße waren neben einigen Ziegen ein paar Frauen in weiten Gewändern unterwegs.
Ich konnte jedoch nicht erkennen, wo ich gelandet war. Genauso wenig sah ich eine Möglichkeit zur Flucht.
Mit meinem gesunden linken Arm goss ich mir also Wasser aus dem Kanister über den Körper. Schmutziges Brunnenwasser, wie ich vermutete, und so vermied ich den Kontakt mit meinem Gesicht und den Wunden am Kopf. Ich rieb mich mit Shampoo ein und spülte vorsichtig nach. Es war ein schöner Abend, die Sonne ging gerade unter und irgendwo in der Ferne sangen Kinder somalische Lieder.
Gefangen am Ende der Welt fiel es mir schwer, mir vorzustellen, ob und wie meine Mutter in Kalifornien inzwischen von meiner Entführung erfahren hatte. Tatsächlich hatte die Nachricht sie schnell erreicht. Gerlach hatte Ashwin kontaktiert, der sofort die deutsche und die amerikanische Botschaft in Mogadischu informierte. In der Washingtoner FBI-Zentrale hatte man bereits einen halben Tag nach meiner Entführung fünf Agenten aus dem Los Angeles County mit meinem Fall betraut.
Meine Mutter Marlis Saunders war mit ihren 72 Jahren eine rüstige, liebenswerte Dame mit einem strahlenden Lächeln. Soweit ich das von Berlin aus mitbekam, verbrachte sie ihren Ruhestand mit Tennis- und Golfstunden alles andere als ruhig. Ihr Vorname war eine Zusammenziehung von „Maria Elisabeth“, ihr Nachname derjenige ihres zweiten Ehemanns Lou Saunders. Er war bis zur Pensionierung Ingenieur beim Flugzeughersteller TRW, der mittlerweile durch die Northrop-Grumman-Gruppe aufgekauft worden ist. Beide lebten in einem Vorort von Los Angeles, wo in den 50er- und 60er-Jahren ein Großteil der Ingenieure und des mittleren Managements von TRW wohnte. Diese kleinen Küstenorte waren seit den 70er-Jahren zu einigem Wohlstand gekommen, nur das Haus meiner Mutter schien wie aus der Zeit gefallen.
Sie las wohl gerade Zeitung und wartete auf ein paar Freunde, die sie zum Mittagessen beim Mexikaner abholen wollten, als ein unscheinbarer Sedan in der Auffahrt parkte und fünf Männer in dunklen Anzügen ausstiegen. Es war Samstag und samstags sind Anzüge in Redondo Beach ein höchst ungewöhnlicher Anblick. Meine Mutter öffnete den Männern also mit einer gehörigen Portion Neugier die Tür.
„Mrs. Saunders?“, fragte der eine und hielt ihr seine Dienstmarke unter die Nase.
„Als ich die Dienstmarke gesehen habe, bekam ich es mit der Angst zu tun“, gestand mir meine Mutter später. „Es wurde der schlimmste Tag meines Lebens.“
Das FBI ermittelt in jedem Verbrechen, in das ein amerikanisches Opfer verwickelt ist, egal ob in Amerika oder im Ausland. Genauso nimmt das deutsche Bundeskriminalamt die Ermittlungen auf bei Verbrechen, denen Deutsche zum Opfer gefallen sind. Und so machte zur gleichen Zeit mein Onkel in Köln die Bekanntschaft mit einigen Beamten des BKA. Auch bei meinem Arbeitgeber, dem Spiegel in Berlin, standen an jenem Tag BKA-Mitarbeiter vor der Tür. Genauso wie in Washington die Mitarbeiter des Pulitzer Centers wiederum das FBI zu Besuch hatten. Allen hinterließen die Beamten genaue Anweisungen, was im Fall einer Entführung zu tun und zu lassen wäre. „Die meinten, wir sollten einfach immer cool bleiben, selbst dann, wenn du am Telefon gebrüllt hättest, weil ein Pirat dir gerade einen Finger abschneidet“, erzählte mir später Charles Hawley, ein Kollege und Freund bei Spiegel Online.
Im Haus meiner Mutter gaben sich die Agenten die Klinke in die Hand. Sie wollten von ihr alles über meine Reise wissen, über Gerlach und Ashwin, über alle meine Freunde und Bekannten. Sie installierten eine Abhöranlage an ihrem Telefon und schärften ihr ein, was sie den Piraten zu sagen hätte, sobald sie bei ihr anriefen. Entführer wollten eigentlich nur Geld, versuchten die Beamten sie aufzumuntern, was nützte ihnen da eine tote Geisel. Meine Mutter war verwirrt und voller Angst. „Und die ganze Zeit klingelten ihre verdammten Blackberrys“, erinnerte sie sich. „Ich ahnte ja nicht, dass in unserer Nachbarschaft so viele FBI-Agenten wohnen!“
In der Zwischenzeit waren auch die Freunde eingetroffen, die sie eigentlich zum Mittagessen abholen wollten. Deutsche und Amerikaner aus verschiedensten Stadtbezirken Los Angeles’, die meine Eltern seit meiner frühesten Kindheit und noch länger kannten. „Denis, Sylvia, Hilde, alle waren geschockt. Aber sie kamen noch nicht mal ins Haus!“
Hilde war eine gute Freundin der Familie. An Denis Lyon, den bärtigen Mann mit der tiefen Stimme, hatte ich während meines Aufenthalts in Idaan denken müssen. Seine Frau Sylvia erzählte später, wie überrascht sie an jenem Samstag waren, als Mutter ihnen mit tränenüberströmtem Gesicht die Tür öffnete. „Deine Mutter erzählte uns an der Tür, was passiert war“, erzählte mir Sylvia, „dann tauchten zwei FBI-Agenten auf und meinten, wir könnten jetzt nicht reinkommen. Denis meinte nur, dann lass uns hier draußen reden.“
Ich hatte die Freunde meiner Eltern seit Jahren nicht mehr gesehen, aber sie waren ein fester Teil meiner Kindheitserinnerungen. Mir erscheint es immer noch als merkwürdiger Zufall, dass Denis sowohl in meinen Erinnerungen am Strand von Idaan als auch am Tag meiner Entführung bei meiner Mutter auftauchte. „Mein Vater machte sich Riesensorgen um dich und verschlang jede noch so kleine Nachricht über deinen Fall“, gestand mir später seine Tochter Sonja. „Wir haben oft über dich gesprochen. Einmal fragte ich ihn, was wir machen könnten, um dich wieder freizubekommen. Doch er sagte nur: Das weiß ich auch nicht, mein Kleines. Ich glaube, Michael steckt wirklich in der Klemme.“
Beim Aufwachen entdeckte ich, dass mir jemand eine Flasche Wasser und eine Schüssel Haferflocken in mein kleines schmutziges Zimmer gestellt hatte. Gestern hatte da noch eine Flasche Mangosaft gestanden, die jetzt verschwunden war. Ich setzte mich auf und überlegte, wie ich die trockenen Flocken essen sollte, als ein Pirat in mein Zimmer spähte.
„Wuuriyaa!“, gab er von sich. „Mango!“
„Hm?“
„Gib mir Mango.“
„Wozu?“
„Mango! Mango!“
Zu meinen Vorräten gehörten auch ein paar Flaschen übersüßter Mangolimonade, die ungenießbar aussahen, also reichte ich dem Piraten eine Flasche. Der verschwand daraufhin ohne ein weiteres Wort. Warum schnorrt sich ein Pirat von mir einen Drink, dachte ich ärgerlich. Ich war schließlich auf die Vorräte angewiesen, die mir die Piraten überließen, warum also sollte ich ihnen etwas davon abgeben?
Die Geisel mit den beiden Haarbüscheln hinter den Ohren kam aus dem Zimmer nebenan und schlurfte über den Hof zur Latrine. Er sagte ein paar Worte in brüchigem Seemannsenglisch. Die Piraten nannten ihn „Lorry“ und machten sich über ihn und seine Haare lustig. Er verlangte nach einem Haarschnitt. Und tatsächlich, als ich ihn das nächste Mal sah, waren seine Haare kurz und er sah beinahe zivilisiert aus.
Sein Seemannsenglisch musste er auf einem Handelsschiff oder auf irgendeiner Insel mit britischer Kolonialgeschichte aufgeschnappt haben – vielleicht stimmte auch beides. Er verschwand wieder in seinem Zimmer, ohne zu mir herübergesehen zu haben. Ich saß auf meiner Matratze und sehnte mich nach Kaffee und Haferflocken. Als ich einen Piraten um heißes Wasser bat, sah er mich verständnislos an.
„Caffè!“, rief er voller Eifer und deutete auf meine Thermoskanne.
Ich schüttelte den Kopf, denn in der Kanne war nur Tee.
Was für eine dumme Geisel ich doch war! Der Pirat kam zu mir herüber, riss ein Päckchen löslichen Kaffees auf und leerte das braune Pulver in ein Plastiksieb. Er bedeutete mir, das Sieb über meine Tasse zu halten, nahm die Thermoskanne und goss den heißen Tee durch das Sieb mit dem Kaffeepulver. In der Tasse war nun ein bräunlicher, klebriger Brei – ein höchst koffeinhaltiger Brei.
„Das ist ekelhaft!“, protestierte ich.
„Caffè!“, bestand der Somali.
„Niemals!“
Zwar hatte ich gerade das Kaffeerätsel gelöst, mit der Frage, wie ich die trockenen Haferflocken hinunterbekommen sollte, war ich jedoch keinen Schritt weitergekommen. Gekocht in Wasser wären sie sicher essbar, allerdings fürchtete ich, die Piraten würden dafür das Brunnenwasser verwenden. Ich musste also irgendwie einen Piraten dazu bringen, mir die Haferflocken mit dem Wasser aus meiner Flasche zu kochen.
Der Pirat, der mir mit der Taschenlampe in die Augen geleuchtet hatte, kam in mein Zimmer. Er riss das Fenster auf, wovor mich tags zuvor Boodiin noch unter Todesdrohungen gewarnt hatte. Ich zog den Kopf ein und wartete auf die erste Gewehrsalve. Doch stattdessen entwickelte sich am Fenster eine lebhafte Unterhaltung zwischen dem Piraten und einem Wächter vor dem Fenster.
Nach einer Weile ging der Taschenlampen-Typ wieder weg, ohne das Fenster geschlossen zu haben. Offensichtlich kannte er Boodiins Befehle nicht. Auf dem Weg zur Tür jedoch nahm er die Schüssel mit den Haferflocken mit.
„Hey!“, schrie ich ihn an und meine laute Stimme versetzte die Somalis ringsherum in Aufregung.
„Was willst du?“, fragte einer.
Ich war richtig wütend: „Der Kerl hat mein Essen gestohlen!“
Der Pirat sah mich verständnislos an, ganz so, als sei ich wieder einmal zu begriffsstutzig: „Haferflocken gehören in die Küche, das ist besser so.“
„Warum?“, fragte ich.
Ich bekam jedoch keine Antwort. Dabei war doch klar erkennbar, worum es hier ging. Ich hatte die beschissenen Haferflocken von den Piraten bekommen, warum also sollten sie mir mein Essen dann wieder stehlen? Es waren all diese Kleinigkeiten, die letztlich meinen Aufenthalt als Gefangener unter Piraten am Ende der Welt zu einer Qual machten. „Ein Pirat stiehlt meine Haferflocken“, der Satz wurde eine Art Mantra, eine Obsession, wie ein ständiges Echo in meinem Kopf. „Ein Pirat stiehlt meine Haferflocken, ein Pirat stiehlt meine Haferflocken.“
Am Abend besuchte mich Ahmed Dirie mit einem Moskitonetz in der Hand. Offenbar sorgte sich sein Chef um meine Gesundheit und wollte mich vor den Malariamücken schützen. Allerdings war Ahmed Dirie mit dem Aufbau des Zeltes überfordert. Mit einem gewissen Vergnügen beobachtete ich ihn dabei, wie er die biegsamen Stützen des Zelts zusammenzustecken versuchte und wie er letztlich damit scheiterte, sie in die Schlaufen des Moskitonetzes einzufädeln. Um diese Zeit des Tages war Ahmed Dirie – genau wie seine Freunde – viel zu breit von all dem Khat, das er den ganzen Tag vor sich hinkaute, um eine derart komplexe Aufgabe erfolgreich zu bewältigen. Vielleicht war er auch so einfach zu blöd. Irgendwann jedenfalls warf er entnervt das Netz mit den inzwischen zerbrochenen Stützen beiseite und ging. Den kläglichen Haufen räumte in den nächsten Tagen ein anderer Pirat beiseite.
Du hast einen Fehler gemacht, das ist nun mal menschlich.
Ein Pirat stiehlt meine Haferflocken.
Drei oder vier Tage mochte ich so zugebracht haben, verängstigt, geschlagen und verunsichert. Eines Nachts, bereits Stunden nach Sonnenuntergang, tauchte plötzlich Boodiin wieder auf und brachte einen älteren, unbewaffneten Mann mit. Er hatte einen kleinen, mit einzelnen weißen Haaren gesprenkelten Bart und schien geduldig und intelligent zu sein.
„Er ist Arzt“, stellte Boodiin ihn mir vor.
Unter dem flackernden Schein einer Taschenlampe wickelte ich den provisorischen Verband von meinem Handgelenk. Es war dick angeschwollen und man konnte immer noch unter der Haut die losen Knochensplitter spüren. Der Arzt sah zuerst Boodiin an, dann mich, danach blickte er zu Ahmed Dirie, der im Türrahmen wartete. Er war anders als die Piraten, sein gequälter Gesichtsausdruck verriet einen inneren Konflikt. Er wirkte unsicher, fast ängstlich.
Nach einem kurzen Blick auf mein Handgelenk sagte er: „Das Gelenk ist nicht gebrochen, nur angeknackst. Das heilt in den nächsten drei Wochen von selbst.“
Er fischte ein paar Bambusstöckchen und ein verschlissenes lila Tuch aus seinem Arztkoffer. Mithilfe von Nadel und Faden schiente er damit mein Handgelenk. Als er fertig war, biss er den Faden durch. Sein handwerkliches Geschick war beeindruckend. Doch wozu die Mühe, wenn doch seine Behandlung letztlich völlig nutzlos war? Ich war hier nicht in der Position, einen Streit anzufangen, selbst wenn ich sicher war, dass mein Handgelenk tatsächlich gebrochen war.
Mit der geschienten Hand auf dem Bauch legte ich mich schlafen. Mitten in der Nacht weckte mich jedoch lautes Geklapper, als das Zufahrtstor zum Hof aufgeschoben wurde. Mit laufendem Motor wartete ein Auto vor meiner Tür. Noch kannte ich nicht die Gewohnheit der Piraten, plötzlich mitten in der Nacht das Quartier zu wechseln, ahnte aber bereits, dass das wartende Auto vor meiner Tür nichts Gutes verheißen würde. Mein Herz schlug mit einem Mal schneller und tatsächlich wurde ich bald darauf in den wartenden Land Cruiser verfrachtet. Auf der Rückbank saß bereits „Lorry“ und beobachtete das Treiben der jungen Piraten mit der Verachtung eines erfahrenen, alten Mannes. Auf dem Beifahrersitz wartete grinsend Ahmed Dirie, während sich weitere Somalis mit ihren Waffen um uns herum panisch in das Auto quetschten. Noch vor Sonnenaufgang stoben wir davon und fuhren in den Busch, wie es schien, ohne bestimmtes Ziel.
Als es bereits taghell war, drehte sich Ahmed Dirie zu mir um und deutete in den wolkenlosen Himmel. Er sprach ein schnelles Somali und ich konnte nur vermuten, dass ihm dort oben irgendetwas Angst machte.
Unser Fahrer schaltete sich ein: „Bist du General bei den Marines?“
„Nein!“
„Oberstleutnant?“
„Nein!“
Irgendetwas war wohl vorgefallen und meine Entführer gaben offensichtlich mir dafür die Schuld. Sie glaubten, ich würde zu den US-Streitkräften gehören. Völlig aufgelöst redeten sie in Somali auf mich ein. Selbst die wenigen englischen Begriffe, die sie dabei einstreuten, ergaben für mich keinen Sinn.
„Helicopters!“, sagte Ahmed Dirie endlich. „American!“
„Boom-Boom? Kampf?“, fragte ich.
„Yes!“
Ich zuckte mit den Schultern, denn vermutlich waren meine Entführer nur einem unsinnigen Gerücht auf den Leim gegangen. Die US-Streitkräfte blieben für gewöhnlich jenseits der somalischen Staatsgrenzen. Seit der Schlacht von Mogadischu hielten sich die Amerikaner mit Kampfeinsätzen im Land zurück. Die Aufregung der Piraten legte sich jedoch nur langsam, während wir den ganzen Morgen ziellos kreuz und quer, teils sogar im Kreis durch den Busch holperten.
Tatsächlich wurden vier Tage nach meiner Entführung die beiden Entwicklungshelfer Jessica Buchanan und Poul Thisted durch ein Spezialkommando der US-Streitkräfte befreit. Beide waren in einem Lager nördlich von Galkayo von somalischen Piraten gefangen gehalten worden. Sie schliefen noch, als die Navy-Spezialeinheit SEAL nahe ihrem Schlafplatz mit Fallschirmen aus Hubschraubern absprang. Neun der somalischen Wächter wurden von den Soldaten während der Operation getötet. Buchanan und Thisted jedoch wurden heil in einem Hubschrauber in die Freiheit geflogen.
Meine Mutter wollte sich an diesem Abend im Fernsehen eine Ansprache Obamas an die amerikanische Nation anhören. Obama trat mit einigen Mitarbeitern seines Stabs im Weißen Haus vor die Kameras. Unmittelbar vor der Ansprache gratulierte er seinem Verteidigungsminister Leon Panetta: „Glückwunsch, das war ein guter Einsatz heute Abend!“ Niemand wusste zunächst, was das zu bedeuten hatte, bis am nächsten Morgen die Medien über die erfolgreiche Befreiung Buchanans berichteten.
Aus Hoffnung wurde für meine Mutter schnell die Enttäuschung, dass ich nicht zu den Befreiten gehörte. Unter den Tennis- und Golffreunden meiner Mutter begannen daraufhin wilde Spekulationen. Die sportlichen älteren Damen und rüstigen Rentner, allesamt streng konservative Republikaner mit staubtrockenem Humor, dachten laut darüber nach, ob und wann wohl die nächste SEAL-Truppe zu meiner Befreiung ausrücken würde. Viele riefen bei Mutter an, um ihr zu versichern, dass die alleinige Schuld bei Präsident Obama zu suchen wäre, falls mir in meiner somalischen Geiselhaft etwas zustieße.
Die Rettungsaktion hatte am 25. Januar 2012 in den frühen Morgenstunden stattgefunden. Die Beamten, die das FBI für meinen Fall abgestellt hatte, sprachen mit meiner Mutter nur ganz allgemein über die Aktion: „Sie haben mir das zwar nie direkt gesagt, aber ich glaube, dass sie für deine Befreiung immer auch eine militärische Option im Blick hatten“, erzählte meine Mutter. „Natürlich musste die erst vom Weißen Haus abgesegnet werden – ohne die Unterschrift Obamas lief da gar nichts.“
Thisted war Däne, Buchanan Amerikanerin. Beide hatten im verhältnismäßig ruhigen Norden Somalias für das Minenräumprogramm einer dänischen Hilfsorganisation gearbeitet. Ich hatte mich vor meiner Abreise nach Somalia kaum für den Fall interessiert und wusste entsprechend wenig über die Hintergründe der Entführung, genauso wenig wie über die Gruppe, die hinter der Geiselnahme steckte. Von der spektakulären Befreiungsaktion selbst bekam ich in meiner Geiselhaft zunächst nichts mit. Ich wusste nur, dass die amerikanischen Streitkräfte vor dem Horn von Afrika weniger Piraten bekämpften, sondern in erster Linie versuchten, die Milizionäre der islamistischen al-Shabaab aufzuspüren. Die Befreiung Jessica Buchanans war deshalb ein hoffnungsvolles Zeichen. Es zeigte, dass Obama und seine Regierung bereit waren, sich für das Leben einer einfachen Geisel in den Händen somalischer Piraten einzusetzen. Selbst dann, wenn sie dabei riskierten, die Pläne der europäischen Mission vor Somalia zu durchkreuzen. Der Einsatz zeugte von Verantwortungsbewusstsein und Stärke. „Die Vereinigten Staaten werden bei Entführungen ihrer Bürger im Ausland nicht tatenlos zusehen“, hatte Präsident Obama in seiner Ansprache der Nation versprochen, „wir werden alles unternehmen, um die Sicherheit amerikanischer Bürger zu gewährleisten und die Entführer vor Gericht zu bringen.“
Die Augen der Geisel neben mir im Auto waren schmal und die Haut eher kaffee- als dunkelbraun. Woher der Mann mit dem nun kurz geschnittenen Haarkranz stammte, war schwer zu sagen. Immerhin jedoch erfuhr ich jetzt seinen vollen Namen: Rolly Tambara. Der Frage nach seiner Heimat wich er jedes Mal aus, anstelle einer Antwort legte er nur einen seiner krummen Finger auf die Lippen. Er und sein mittlerweile verschollener Kumpel waren Seeleute. Von seinem Schiff, der ARIDE, hatte ich jedoch zuvor nie etwas gehört.
Bei Sonnenuntergang stieß auf einem offenen Platz im Busch ein zweiter Wagen zu uns. Er brachte Khat und mehrere Plastiktüten voll gekochter Spaghetti. Die Piraten warfen eine Matte auf den Boden neben unserem Land Cruiser. Wir sollten uns entspannen, meinten sie. Mein Handgelenk pochte vor Schmerz und ich hatte keine Ahnung, was unser Ziel war. Aber ich wünschte nichts sehnlicher, als endlich dort anzukommen. Ich war noch nicht lange genug Geisel. Noch glaubte ich, dass selbst ein Piratenleben den Gesetzen von Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit folgen müsste. Ich ahnte ja nicht, wie viel Unsinn noch auf mich zukommen würde.
Wir waren nun mitten in der Savanne. So weit unsere Augen reichten, gab es nichts als Sand, Staub, Dornengestrüpp und vom Wind gebeugte Akazien. Während in majestätischer Stille die Sonne versank, wurde die Szenerie um uns in einen weichen roten Glanz getaucht.
„Wo ist dein Kumpel?“, fragte ich Rolly leise.
Er zuckte nur mit den Achseln: „Weiß nicht. Sie haben ihn dagelassen.“
„Wo? Im Haus?“
„Yah.“
Sein Akzent hatte auf einmal etwas Französisches. Ich wollte noch etwas fragen, doch er hob nur seinen Finger. Ein anderes Mal!
Bei Einbruch der Dunkelheit wurden wir wieder in das Auto gepackt und fuhren hinauf in die Wälder des Hochlands. Mehrere Stunden lang schwankte unser Auto über holprige Pisten, während aus den Lautsprechern somalische Volksmusik dröhnte. Unter anderen Umständen hätte mir ihr spröder, melancholischer Klang durchaus gefallen. Zu diesem Zeitpunkt klang sie für mich nach verlorener Freiheit und Unterdrückung.
Wir fuhren durch eine bewaldete Hügellandschaft. Ab und an versperrte uns eine Schranke den Weg. Unser Fahrer hupte und irgendwo aus den Büschen tauchte jedes Mal wie aus dem Nichts eine Frau auf, schob den rostigen Balken aus dem Weg und fegte für uns mit einem Besen den Staub auf der Straße beiseite. Die Szene wirkte jedes Mal irreal, wie in einem Traum, schon allein, weil in der khatspuckenden Männerwelt der Piraten Frauen sonst keinen Platz zu haben schienen.
Wir erreichten einen Abhang, von dem aus wir in ein Tal hinabsehen konnten. In einiger Entfernung sahen wir Mündungsfeuer und hörten das Knattern von Gewehren. Unser Fahrer hielt an, damit ihn ein zweites Auto überholen konnte. Bald darauf erschien das Gesicht von Ali Duulaay vor einem der Seitenfenster. Er leuchtete mit einer Taschenlampe ins Wageninnere und gab ein paar knappe Anweisungen auf Somali. Rolly und ich mussten aussteigen und wurden mitten durch ein Dornengestrüpp getrieben. „Wo gehen wir hin?“, fragte Rolly die offenbar völlig planlosen Piraten. Ahmed Dirie murmelte nur: „Go, go, go, go!“ Ich bezeichnete diesen Ausflug später immer als unseren Besuch im „Garten der sinnlosen Folter“.
An seinem Ausgang wartete bereits der Land Cruiser auf uns. Die Beine voller blutiger Kratzer stiegen wir wieder ein. Doch Ali Duulaay hatte noch nicht genug. Gemeinsam mit zwei bewaffneten Männern befahl er jetzt Dirie auszusteigen und verabreichte ihm zwischen den Autos eine Tracht Prügel. Seine beiden Gehilfen schossen etliche Salven in die Luft, während sich Dirie vor Schmerzen auf dem Boden krümmte.
Duulaay ließ uns wieder aussteigen und vor dem Wagen antreten. Mit der Taschenlampe leuchtete er uns ins Gesicht. Irgendetwas an meinem Gesicht schien ihn zu stören. Ohne ein weiteres Wort schlug er mir mit seiner Faust auf die Schläfe, sodass die Sterne um mich herum zu tanzen begannen.
„Arschloch“, zischte ich.
Duulaay schien zufrieden. Er und seine Männer stiegen in unser Auto und verschwanden damit in der Nacht.
Die Piraten zwangen uns nun über einen schmalen Steig einen Abhang hinab. Unten im Tal schimmerten die Bäume im Mondlicht. Bei einem schmalen Felsunterstand in der Mitte des Hangs hielten wir an. Die Somalis warfen uns unsere Schaumstoffmatratzen hin. In meinem Ohr kreischte immer noch Duulaays Schlag und ich zitterte leicht, entweder wegen der feuchten Kälte oder aus Nervosität.
„Michael! No sleep?“, fragte mich ein Somali mit sanfter Stimme.
„Keine Decke!“, antwortete ich.
Der Somali zog seine Lederjacke aus und reichte sie mir durch die Dunkelheit herüber. Irgendwann musste ich nach all den Strapazen und der Gewalt eingeschlafen sein. Ich wachte erst auf, als die Sonne das Tal zu unseren Füßen allmählich zu erwärmen begann.
Rolly war bereits wach und lag mit dem Rücken auf seiner Matratze. Sobald ich mich aufgesetzt hatte, fragte er: „Was ist los?“
„Ich muss mal!“
„Pissen oder scheißen?“
„Nur pissen.“
„Das heißt ‚kadi‘ auf Somali“, meinte er und rief nach unseren Wächtern. „He“, er deutete auf mich, „kadi, kadi.“
Man begleitete mich auf einem schmalen Trampelpfad zu einem Müllhaufen. Mein Wärter wartete etwas abseits auf mich und blickte mit seiner Kalaschnikow im Anschlag ins Tal hinab. Über den abbröckelnden Hang sah man auf staubgraue Bäume und Sträucher am Grund einer Schlucht, die sich inmitten der trockenen Savanne auftat.
Wir stiegen hinab zur Talsohle. Zwei Piraten trugen unsere Matratzen vor uns her, während wir uns unseren Weg durch das immergrüne Gebüsch und die Dornen zu bahnen versuchten. Am Grund des Canyons angekommen, machten wir schließlich im Schatten einiger Bäume Rast. Sofort begann einer der Piraten, jeden freien Platz um uns herum mit dornigen Zweigen aufzufüllen. „Quorrax!“, sagte er und zeigte Richtung Sonne, so als bemühe er sich für uns um kühlenden Schatten. Doch in unser Tal reichte die Sonne gar nicht hinein. Mir dämmerte, dass das Dornengestrüpp genau wie die ziellose Herumfahrerei nur den Zweck hatte, uns vor den neugierigen Kameraaugen der Drohnen abzuschirmen.
Bis jetzt hatte der hagere Pirat vom Vorabend seine Jacke noch nicht zurückverlangt. Ich staunte über ihre Qualität: Das Leder war hochwertig, die Nähte fest und intakt und selbst die Ärmelmanschetten saßen straff und stabil.
„Hat dir Angelo seine Jacke gegeben?“, fragte Rolly.
„Wer?“
„Der Somali, An-gel-o“, buchstabierte er den Namen für mich. „Ich hab gesehen, wie er dir gestern seine Jacke gegeben hat. Er hat dir am ersten Tag in der Wüste auch das Essen gebracht.“
Ich musste etwas verwirrt ausgesehen haben, denn er fuhr fort: „Thunfisch und Brot. Das war von uns, Angelo hat es dir gebracht.“
„Oh.“
„Ist ein guter Kerl.“
Rolly und sein Freund Marc Songoire waren bereits seit drei Monaten in der Gewalt der Piraten. Man hatte sie im November 2011 ungefähr 100 Kilometer vor Mahé auf den Seychellen gefangen genommen. Sie hatten damals gerade begonnen, auf Rollys Kahn den gefangenen Fisch auszunehmen und zu säubern, als ihnen die Piraten unter lauten Gewehrsalven mit ihrem Schnellboot entgegengekommen waren. Die Seychellen gehören noch zum afrikanischen Kontinent, sie liegen etwas nördlich von Madagaskar im Indischen Ozean. Von Mahé bis zur Küste Somalias sind es mindestens 1 200 Kilometer. Nach ihrer Gefangennahme waren sie eine ganze Woche lang unterwegs gewesen, bis sie Hobyo erreichten. Allerdings glaubten die Piraten Rolly nicht, als er ihnen sagte, er sei selbst Afrikaner. Seine vergleichsweise helle Haut machte sie misstrauisch. „Die Seychellen bestehen aus unzähligen Inseln, wir sind alle wild durcheinandergemischt. Ich zum Beispiel bin halb Chinese.“
Immer noch staunte er über die Einfalt der Piraten: Am Heck seines Bootes hatten sie den Schriftzug „Aride – Port Victoria“ entdeckt, jedoch beim Entziffern der Buchstaben ihre Probleme gehabt. Irgendwie brachten ihre kläglichen Lesekünste sie dazu, Rolly für einen Australier zu halten. Das war eine verlockende Aussicht für sie, schließlich war von einer australischen Geisel deutlich mehr Lösegeld zu erwarten. Einer der Piraten wollte deshalb auf Nummer sicher gehen und setzte Rollys Freund das Gewehr auf die Brust: Er sollte gestehen, dass Rolly ein australischer Staatsbürger sei. Doch leider sprach Marc nur das Kreol der Seychellen und blieb stumm. Der Pirat fühlte sich gekränkt und drückte kurzerhand ab. Zum Glück war keine Kugel im Lauf, doch das leere Klicken der Gewehrmechanik verfolgte Marc seit jenem Tag bis in seine Träume.
„Danach haben sie uns nach Somalia gebracht“, erzählte Rolly weiter. „Dort haben sie ihn gefoltert.“
„Was?“
„Yah! Sie sagten Marc, er solle seine Familie anrufen, doch er verstand nicht. Dann haben sie die Anlasserkabel von unserem Motor abmontiert und sie an seinen Armen befestigt.“ Rolly zeigte mir, wo genau die Piraten die Kabel befestigt hatten. „Mit dem Strom haben sie ihn schließlich gefoltert.“
Ich stöhnte auf.
„Am Anfang konnte er gar nichts mehr essen.“ Seine Arme versagten nach den Elektroschocks den Dienst.
„Ich musste ihn füttern wie ein kleines Kind.“
Allmählich wurde mir der Ernst meiner Lage bewusst. „Jesus!“, stieß ich aus.
„Die sind völlig wahnsinnig“, sagte Rolly noch. „Wir sind der Teufel, die sind Gott. Michael, die lassen sich nichts sagen.“
Wir waren an einem außergewöhnlichen Ort. Das wuchernde Buschwerk und die vielen Bäume in dem Tal waren unter der sengenden Sonne Somalias eine Seltenheit. Im Schutz der Blätter gab es kühlenden Schatten. Doch nicht nur für uns. Und so kämpften wir mit allerhand Getier. Mit Ameisen, die Tag und Nacht über unsere Matratzen krabbelten, neugierigen Spinnen und seltsamen schwarz-roten Käfern. Wespenartige Insekten, groß wie eine Männerfaust, surrten zwischen den Bäumen umher. Und immer wieder wurde die Stille von einem merkwürdigen Schrei unterbrochen. Wie das Wiehern eines Pferdes erklang er mal hier und mal dort. Nur fehlten nach dem Schrei all die anderen Geräusche, die ein Pferd sonst zu machen pflegte: das Schnauben, das Scharren.
„Ist das ein Vogel?“, fragte ich Rolly.
Er lauschte.
„Geier“, gab er knapp zur Antwort.
„Das klingt wie ein Pferd ohne Körper.“
Ich versuchte mir diese wiehernden Geier vorzustellen, wie sie ohne hörbaren Flügelschlag geisterhaft von einem Ast zum anderen flatterten.
Ein paar Somalis kamen über einen schmalen Steig zu uns ins Tal herab. Sie brachten Kisten voll Wasserflaschen und Mangosaft neben etlichen Kartons mit Spaghetti, Thunfischdosen, Milchpulver, drei Sorten Kekse, einen Sack Reis, einen Sack Bohnen, Mehl und – ganz wichtig – etliche Rollen Klopapier.
„Da ist wohl der Lieferwagen gekommen“, meinte Rolly.
„Irgendwo dort oben am Abhang“, stimmte ich zu.
Mittags gab es Thunfisch mit Weißbrot, das hier „Roti“ genannt wurde. Es waren kleine, kurze Laibe, ähnlich einem weichen Baguette. Mit den indischen Brotfladen, die ich als Roti kannte, hatte es jedoch wenig zu tun. Es schien mir merkwürdig, dass die Somalis ihrem Brot einen indischen Namen gegeben hatten. Auch den Namen für ihren Tee, „Shaah“, entliehen sie dem Urdu oder dem Arabischen. Die Begriffe wiesen auf Verbindungen zu Gebieten jenseits des Indischen Ozeans hin. Während seiner Geschichte trieb Somalia seit alter Zeit über den Golf von Aden hinweg einen regen Handel mit seinen arabischen Nachbarn im Norden. Über den Landweg waren Güter von Somalia aus durch Ägypten in den Sudan im Westen und über das Meer in das Reich der Moguln jenseits des Indischen Ozeans verkauft worden. Nach Gerlachs Darstellung gehörte das seit Langem muslimische Somalia deshalb nicht zu Afrika, sondern zum Orient, selbst wenn beide Einflüsse – afrikanische und orientalische – das Land prägten. Auf unserer Reise nach Hobyo waren uns ein paar verfallene Pyramiden aufgefallen, deren Überreste der Tsunami dort mitten im Busch freigelegt hatte. Gerlach vermutete, dass sie aus einer Epoche ägyptischer Besatzung zur Zeit der Pharaonen stammten.
„Sahib.“ Etwas überschwänglich hatte mich so schon während meiner ersten Tage als Geisel ein junger somalischer Pirat genannt. Er hieß Abdinasser, hatte breite, hängende Schultern und lächelte mich dienstbeflissen an. „Aniga, adiga“, sagte er und zeigte dabei abwechselnd auf sich selbst und auf mich: „Sahib!“
Auch dieser Begriff hatte wohl seinen Ursprung in Indien. Ich kannte ihn aus dem Süden Asiens, wo er stets auf die Beziehung zu einem Kolonialherrn gemünzt war. Hier in Somalia gebrauchte man ihn dagegen meist, um eine Gleichrangigkeit zu betonen. Diese Bedeutung entsprach eher dem Arabischen, wo sich bereits die Gefährten Mohammeds gegenseitig als Sahib bezeichneten. Auch die somalischen Piraten nannten sich untereinander „Sahib“.
Die Stimme meines Sahib Abdinasser war weniger tief, als man es bei einem kräftigen und großen Mann wie ihm erwartet hätte. Sie klang eher schrill und gepresst. Im Gegensatz zu den anderen hörte man ihn jedoch nie fluchen oder schimpfen. Als wir am Nachmittag duschen durften, brachte er jedem von uns in einem Kanister anderthalb Liter sauberes Wasser. Außerdem hielt er für uns nach der Dusche Feuchtigkeitscreme und ein rosafarbenes Flakon mit Rasierwasser bereit. Für kernige Männer im Busch war das ein etwas tuntiges Angebot.
Ich nahm also den Flakon und hielt ihm das Etikett mit einer Frau darauf unter die Nase: „Das hier ist für Frauen, nicht für Männer!“
„Ja, Sahib“, lachte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Man konnte Abdinasser schwer aus der Ruhe bringen. Waren seine Kollegen meist unglaublich eitel und dünnhäutig, fehlte ihm deren Missgunst und Voreingenommenheit völlig. Von nun an sollten Abdinasser und ich uns nur noch als „Sahib“ anreden.
Er beendete auch den morgendlichen Kleinkrieg beim Frühstück um die grauenhafte Brühe aus Kaffeepulver und Tee. Selbst Rolly widerte das Zeug inzwischen an. „Shaah-Caffè no good!“, protestierte ich, stolz auf meine Somali-Kenntnisse.
Noch hatte ich mir etwas von meiner Persönlichkeit aus der Zeit vor meiner Geiselhaft bewahrt und bat die Piraten, doch zukünftig den Kaffee für uns mit heißem Wasser aus der Flasche anzurühren. Immer noch erschien mir der Kaffee nach dem Aufstehen als eine Art universelles Menschenrecht. Bisher allerdings waren unsere Wärter meinen Forderungen nach anständigem Kaffee mit völligem Unverständnis begegnet. Spannung lag in der Luft und Rolly bat mich dringend, die Piraten nicht weiter unnötig zu verärgern. Schließlich stand Abdinasser auf: „Ah, yes“, sagte er nur und setzte einen Kessel mit frischem Wasser auf die Feuerstelle.
Ungläubig sahen uns die Piraten zu, wie wir uns schließlich mit heißem Wasser und etwas Trockenmilchpulver einen Kaffee zubereiteten.
„Water-Caffè“, so nannten sie das für sie neuartige Getränk.
„Haa, Water-Caffè“, bestätigte ich.
Allmählich begannen wir uns zu verstehen.
Zwischen den kurzen Gesprächen mit Rolly herrschte meist Ruhe im Tal. Es war eine stille Zeit, in der ich begann, in meinen Erinnerungen zu stöbern; beinahe wie ein Sterbender, in dessen Kopf kurz vor dem Tod die Bilder seines Lebens vorüberziehen. Allerdings schien mein Sterben ein paar Tage zu dauern. Während der ersten Woche, als die Angst um mein Leben noch sehr konkret war, zogen die Erinnerungen an mein Leben daher wie in Zeitlupe vor meinem inneren Auge vorbei.
Es begann mit dem Blick zurück auf meine Berliner Zeit, als ich noch jeden Morgen beim Frühstück die mächtigen Bäume vor meiner Wohnung am Helmholtzplatz betrachtete. Die futuristische Uhr, die dort vor meinem Fenster neben der Straßenlaterne aus der Gründerzeit stand. Ich vermisste das hartgekochte Ei, den Kaffee und die Stimmen der Nachrichtensprecher der BBC. Ordentlicher Kaffee, Frühstückseier, Radionachrichten, all das war für mich zu unerreichbaren Luxusgütern geworden.
Ich musste an den Technical denken, mit dem wir entführt worden waren. „Kibir Jabiye“, stand auf dem Heck: „Nieder mit dem Hochmut!“ Mir schien, als hätte uns derselbe Technical auch nach Hobyo an die Küste begleitet. Ich war in Galkayo nicht hochmütig aufgetreten, nicht anmaßend. Und dennoch, für Somalis war ich ein Weißer, und als solcher stellvertretend verantwortlich für die Kriege und alles andere, was der Kolonialismus dem Land angetan hatte. Inzwischen schien mir schon mein Wunsch, unbehelligt durch Somalia reisen zu können, als Anmaßung.
„Du hast einen Fehler gemacht“, hatte mir Boodiin verraten. „Doch Irren ist menschlich.“ So begann ich, mich allmählich immer weiter in meine Vergangenheit zurückzubegeben, erst ein paar Monate, dann Jahre. Wo und zu welchem Zeitpunkt hatte ich den entscheidenden Fehler in meinem Leben gemacht? Vielleicht war es in meiner Situation ja normal, die Zähne zusammenzubeißen und in seiner Vergangenheit zu wühlen, vernünftig schien es mir allerdings nicht. Unser improvisiertes Camp brachte mir Erinnerungen an einen Campingausflug mit meinen Eltern an der Pacific Coast zurück. Wir hielten unterwegs nahe Big Sur an einem Fluss zwischen alten Redwoods und Pinien und hatten bereits den salzigen Geruch des Pazifiks in der Nase. Der Ort Big Sur stand damals für amerikanische Alternativkultur. In meinen Erinnerungen fischte ich dort mit meinem Vater Forellen und röstete über einem offenen Feuer Marshmallows. Ich sehnte mich zurück nach diesem Ort, dem Salz des Pazifiks, dem Sand auf dem Campingplatz, dem schweren, vanilleartigen Duft der kalifornischen Wälder.
Zur Zeit dieses Campingtrips hatte mein Vater bereits mit dem Trinken angefangen. Meine Mutter warf ihn an manchen Abenden aus dem Zelt. Die unüberbrückbaren Spannungen zwischen ihnen fielen mir erst auf, als ich meinen Vater frühmorgens beim Gang aufs Klo nass vom Morgentau in seinem dunkelblauen Schlafsack neben dem Auto entdeckte. Ihren Streit hatten sie stets vor mir verborgen, nie war der Konflikt offen ausgebrochen. Den ganzen Urlaub schien meine Mutter bester Laune und voller Fürsorglichkeit, als bildete ich mir die dunklen Wolken nur ein, die sich über der Familie zusammenzogen.
Ich bin ohne Geschwister aufgewachsen. Entsprechend lasteten alle Hoffnungen meiner Familie allein auf meinen Schultern. Erwachsen zu werden hieß für mich immer auch, diese Erwartungen hinter mir zu lassen, genauso wie all die vielen anderen Vorstellungen und Überzeugungen aus Kinder- und Jugendtagen. Vergessen habe ich sie jedoch nie. Ich wollte Astronaut oder Arzt werden. Und ich hätte tatsächlich beides werden können, ich hätte alles werden können. Und doch entschloss ich mich, Schriftsteller zu werden.
„Michael“, holte mich Abdinasser aus meinen Erinnerungen zurück und streckte mir ein Stück Khat entgegen: „Sahib.“
„Danke, nein.“
„Zigarette?“, bot mir ein zweiter Pirat an.
Es war ein Spiel mit uns Geiseln. Die Piraten wollten wissen, wo wir zugriffen. Mir war langweilig und so nahm ich eine Zigarette. Der Pirat hielt mir sein Feuerzeug hin. Seltsamerweise war darauf ein zerkratztes Foto des Loreley-Felsens am Mittelrhein zu sehen. In Koblenz, nur wenige Kilometer weiter nördlich, hatten sich meine Eltern kennengelernt.
„Danke“, sagte ich.
Es gab Fotos meines Vaters, die ihn bei Ausflügen in der Gegend um Koblenz zeigten. Er stand darauf in einem gut sitzenden Anzug mit polierten Schuhen neben einem weißen VW Käfer, eine Zigarette locker zwischen die Finger geklemmt. Ein eleganter Mann, der sein Leben offenbar gut im Griff hatte. Damals arbeitete er noch mit Denis Lyon zusammen, vermutlich reisten sie gemeinsam in die Niederlassung nach Koblenz. Ich stellte mir vor, wie sie in einem verqualmten Waggon der Deutschen Bahn den Rhein entlangfuhren. Irgendwann zeigte Denis vermutlich aus dem Fenster, um meinen Vater auf die dramatischen Felsen am Rheinufer aufmerksam zu machen. Sicher erzählte er ihm die Sage der wunderschönen Loreley, die mit ihrem Sirenengesang die Schiffsleute ins Verderben lockt.
Mein Vater war zwar klug, hatte allerdings nur eine oberflächliche Bildung genossen. Er studierte in den 50er-Jahren ein Semester am MIT und schloss dann seine Ausbildung bei der Marine ab. Ich stellte mir vor, wie er zu Denis sagte: „Ich dachte, Sirenen gäb’s nur in Griechenland.“ Und wie Denis daraufhin trocken erwiderte: „Klar, die hier ist halt blond!“
Er und mein Vater gehörten in die Zeit der 60er-Jahre, als Alkoholexzesse Bestandteil der Unternehmenskultur in der amerikanischen Luftfahrtindustrie waren. Beide waren praktisch denkende Männer, die aber auch mal über die Stränge schlugen. Beide konnten sich noch gut an ihre Kindheit während des Zweiten Weltkriegs erinnern. Nun bauten sie Satelliten und Flugzeuge, um damit Amerika zu mehr Einfluss in der Welt zu verhelfen. Für sie war es die einzig logische Konsequenz aus den Erfahrungen des Krieges. Nach dem Sturz Hitlers sollte ein möglichst starkes Amerika dem Kommunismus im Osten die Stirn bieten. Die Hippiekultur der 60er-Jahre beäugten meine Eltern deshalb mit einigem Misstrauen. Sie selbst zogen sich modisch an und sahen immer wie aus dem Ei gepellt aus. Das Lächeln meiner Mutter auf den Bildern von damals wirkte gönnerhaft, vielleicht sogar etwas herablassend. Selbst wenn Drogen und Alkohol unsere Familie allmählich zu zerstören begannen – ihr Glaube an Amerikas Macht und Einfluss in der Welt blieb stets intakt.
Ich verbrachte ganze Tage damit, die Erinnerungen an einzelne Szenen aus meiner Kindheit und Jugend zu einer Familiengeschichte zusammenzufügen. Immer mehr solcher Erinnerungen tauchten während meiner Gefangenschaft auf. Beim Blick auf die Zahnlücke unseres Sicherheitschefs in Nuur hatte ich schon an Denis denken müssen. Ich erinnerte mich noch gut an das Umfeld, in dem wir und die Freunde unserer Familie lebten. Die Luftfahrtindustrie beherrschte damals das südliche Kalifornien, ihre Weltläufigkeit gab den Ton vor, aber auch Banalitäten bestimmten den Alltag. Ich sah vor mir, wie Denis und Sylvia in Northridge nach dem Abendessen auf unserer Terrasse saßen, rauchten und Deutsch miteinander sprachen. Sylvias Deutsch klang irgendwie elegant in meinen Ohren, während mich das Deutsch der Männer immer an den Drill auf einem Kasernenhof erinnerte, so wie ich es aus den amerikanischen Fernsehserien kannte. Stundenlang saßen sie in jenen heißen, trockenen Nächten in Los Angeles zusammen und unterhielten sich bei einer Flasche Wein im flackernden Schein von Anti-Mücken-Kerzen. Es hätte viel zu dieser Art Vorstadtglück zu sagen gegeben, zum Beispiel über die amerikanische Rüstungsindustrie und ihre stete Kriegstreiberei. Trotzdem wurde mir bei der Erinnerung an diese Szenen schmerzlich bewusst, welchen Fehler ich begangen hatte. Nicht nur, dass ich mich in der Wüste kidnappen ließ – das Versagen war schlimmer. Ich hatte versäumt, alle diese Menschen genug zu lieben.
Jetzt als Geisel – am Ende meines kurzen Lebens, wie ich glaubte – versuchte ich unbewusst und fieberhaft meine Erinnerung an mich selbst wachzuhalten, an das, was ich einmal war. Denn eine Geisel wollte ich nicht sein. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, was das genau bedeutete.
Als wir am nächsten Morgen aufwachten, kniete schon ein Pirat neben unserem Matratzenlager. Auf dem Kopf trug er einen Turban. Er war schmächtig, allerdings groß gewachsen. Aus dem Grau der Morgendämmerung heraus beobachtete er uns mit misstrauischem Blick. Niemand im Lager machte Frühstück, noch nicht einmal Tee. Rolly und ich teilten uns ein Päckchen Kekse.
„Wer ist das?“, flüsterte ich Rolly zu und deutete in Richtung des Piraten. „Der ist neu hier.“
„Angelo sagt, das ist Alis Bruder.“ Offenbar kannte Rolly unseren Gast bereits.
Alis Bruder musste wohl an Ahmed Diries Stelle getreten sein, der ja von seinem Boss übel zugerichtet worden war. Offenbar so übel, dass er als Gruppenführer für unser Lager ausfiel.
Früh am Nachmittag wurde wie jeden Tag das Khat ins Lager geliefert. Und wie jeden Tag machte sich Rolly darüber lustig: „Tschat!“ Dabei nickte er mit gespieltem Wohlwollen den einzelnen Piraten im Lager zu: „Tschat, Angelo! Tschat, Hersi! Tschat, Abdinasser!“ Alle lächelten und streckten ihren Daumen in die Höhe.
„Warum sagst du ‚Tschat‘, nicht ‚Khat‘?“, wollte ich wissen.
„So sprechen es die Somalis aus!“
Tatsächlich sprachen alle Piraten um uns herum den ersten Konsonanten weich aus, offenbar eine regionale Besonderheit. Rolly hatte es wohl nie anders gehört.
„Und auf den Seychellen, kaut ihr da auch ‚Tschat‘?“, zog ich ihn auf.
„Um Gottes willen, nein!“
Wir beobachteten die Piraten beim Auswickeln der Khatblätter.
„Kein Frühstück für uns, aber Hauptsache, ihr Scheiß-Khat ist da“, schimpfte Rolly.
Nachmittags brachte Alis Bruder Rolly auf einen Hügel auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Als ich Abdinasser, meinen Sahib, fragte, wofür, hielt er sich nur ein imaginäres Handy ans Ohr.
Niedergeschlagen kam Rolly schließlich nach gut einer halben Stunde zurück ins Lager. Die Lösegeldforderungen der Piraten seien immer noch viel zu hoch, seine Familie habe bereits jede Hoffnung aufgegeben, erzählte er mit belegter Stimme: „Wenn sie nicht innerhalb der nächsten 24 Stunden zahlen, wollen sie mich verhungern lassen. Mein Schwiegersohn wusste nicht, was er sagen sollte. ‚Der liebe Gott wird dich zu sich in den Himmel holen‘, hat er gemeint.“
Alis Bruder stand erneut vor uns.
„Jetzt du!“, befahl er mir.
Wir stiegen den Abhang hinauf. Oben saßen im Steppengras ein paar bewaffnete Somalis an einer Feuerstelle neben einem Land Cruiser. Etwas abseits unter einem Akazienbaum saß Ali Duulaay mit einer Pistole auf dem Schoß. Er unterhielt sich mit einem wohlbeleibten Mann, der sich mir mit Fistelstimme und in gutem Englisch als Omar vorstellte.
„Du musst jetzt deine Familie anrufen“, wies er mich an und reichte mir ein Handy.
„Welche Familie?“, fragte ich.
„Du hast keine Frau?“
„Geschieden.“
„Vater?“
„Der ist schon lange tot.“
„Deine Mutter? Du musst irgendwen um 20 Millionen Lösegeld für dich bitten.“
Mir rutschte das Herz in die Hose. 20 Millionen! Die Forderung war Irrsinn. Ich musste lachen.
„Hör auf!“, schrie mich Omar an und Ali Duulaay hob die Pistole, bereit, sie mir erneut ins Gesicht zu schlagen. „Das hier ist kein Spaß. Wir wissen, dass du ein Spion bist!“
„Das bin ich nicht!“
„Leise! Die sollen nicht deine Stimme hören!“ Omar zeigte in den Himmel, offenbar schien ihm das Erklärung genug für die etwas seltsame Forderung. „Die sollen uns nicht mit ihren Flugzeugen abhören! Und sag ihnen, wir brauchen 20 Millionen!“
„Die wird meine Mutter nicht bezahlen können“, widersprach ich. „Wer hat schon so viel Geld?“
„Wenn sie in 24 Stunden nicht bezahlt hat, gibt’s kein Essen und kein Wasser mehr für dich! Sag ihr das! Wir haben dich bis jetzt gut behandelt, wenn sie nicht bezahlt, verhungerst du!“
Ich hielt meinen Mund.
„Und sag ihr, dass wir auch eine Botschaft für Präsident Obama haben: Wir erschießen jeden, der versucht, dich hier rauszuholen! Sie soll das Obama sagen!“
„Wir kennen die Obamas noch nicht einmal.“
„Deine Mutter soll ihm unsere Botschaft ausrichten. Das ist kein Spaß! Letzte Woche mussten viele Somalis bei einer Geiselbefreiung sterben. Er hier hat seinen Bruder verloren!“
Duulaay hielt mir voller Zorn die Pistole unter die Nase. Noch nie hatte ich in den Lauf einer Waffe geblickt. Mein Herz raste vor Angst. Ein Blitz, ich falle nach hinten um und das war’s. Die Vorstellung ließ eine bleischwere Ruhe und Gelassenheit in mir aufsteigen. Ich wollte aufspringen, davonlaufen, doch was hätte das gebracht? So blieb ich sitzen, den Tod unmittelbar vor meiner Nase. Schließlich legte Omar seine Hand auf Duulaays ausgestreckten Arm, um ihn zu beruhigen. Ich wagte zu blinzeln. Überrascht, noch am Leben zu sein, spürte ich das Adrenalin durch meine Adern schießen.
„Was ist bei der Befreiung passiert?“, brachte ich schließlich hervor.
„13 Leute sind tot.“
„Die Geiseln auch?“
„Klar!“
Mir wurde mit einem Mal schwindlig, doch Omar reichte mir das Handy. Noch zögerte ich, die Nummer meiner Mutter zu wählen. Besser war es, das Pulitzer Center on Crisis Reporting anzurufen.
„Ich brauche meinen Rucksack“, forderte ich, „die Piraten haben ihn. Braun, eine Kamera ist drin. Und die Telefonnummern.“
„Wir haben keinen Rucksack!“
„Natürlich habt ihr ihn, wer sonst?“
„Ruf jetzt endlich an!“
Ich sah mich auf der Anhöhe um. Etwa ein halbes Dutzend bewaffneter Piraten mochte sich hier oben aufhalten. Selbst wenn die Motorhaube des Land Cruisers bereits in Richtung Straße zeigte, an Flucht war nicht zu denken.
Ich seufzte also und wählte die Nummer meiner Mutter.
Omar nahm mir das Telefon ab. Als am anderen Ende jemand ranging, sagte er nur: „Warten Sie kurz, ich geb Sie an die Geisel weiter.“
„Hallo?“, meldete ich mich.
Ich hörte die gefasste Stimme meiner Mutter, die mich nach dem Namen unserer Hauskatze in meiner Kindheit fragte.
Irgendjemand musste sie auf dieses Gespräch vorbereitet haben. Ich wiederholte die Botschaft, die Omar Präsident Obama ausrichten ließ: „Die Männer hier sagen, dass ich erschossen werde, sollte mich jemand befreien wollen. Sie haben etwas von einer Befreiungsaktion vor ein paar Tagen erzählt.“
„Ja, genau, die Geiselbefreiung!“ So wie meine Mutter das sagte, war ich mir sicher, dass die Geiseln am Leben waren. Sie musste im Fernsehen oder in der Zeitung etwas davon mitbekommen haben. Doch mit den Piraten um mich herum wagte ich nicht, weitere Fragen zu stellen.
„Mom, die wollen 20 Millionen Dollar Lösegeld.“
Ihr stockte der Atem: „Wo sollen wir 20 Millionen Dollar hernehmen?“
Eine gute Frage, zumal ich mich nicht für den Fall einer Entführung versichert hatte. In der Woche bevor ich nach Somalia geflogen war, hatte mir die Versicherung mitgeteilt, dass sie nicht bereit wäre, ein solches Risiko zu tragen. Freiberufliche Journalisten wie ich wären für einen derartigen Schutz ohnehin nur in Ausnahmefällen infrage gekommen. Dafür, dass ich mich trotzdem ins Flugzeug gesetzt hatte, sollte ich nun offenbar mit der Hölle um mich herum bestraft werden.
Ich versuchte noch, meiner Mutter eine Botschaft an Suzy, meine Exfreundin in Berlin, mitzugeben: „Sag ihr: drei Bücher an Judith.“
„Welche Bücher?“, fragte meine Mutter.
„Suzy weiß Bescheid!“
Ich wollte, dass Suzy zwei fertige Manuskripte und ein Exposé an einen Buchagenten in London weiterleitete. Sobald ich die Bücher verkauft hätte, so hoffte ich, könnte ich wenigstens etwas Geld zu der Lösegeldsumme beisteuern. Wenn auch der Verkauf eines Buches, selbst dreier Bücher, sicher keine 20 Millionen einbringen mochte. Bei dem Gedanken jedoch, dass meine Familie nun Geschäfte mit diesen Verbrechern machen sollte, drehte sich mir der Magen um.
„Ich soll euch noch sagen, dass ich kein Essen mehr bekomme, wenn ihr nicht innerhalb von 24 Stunden bezahlt. Kein Essen und kein Wasser.“
In ihrer Aufregung über das, was auf dem Spiel stand, verlor meine Mutter nun den Faden. Sie hatte auf einem Zettel neben dem Telefon all die Fragen zurechtgelegt, die sie mir stellen sollte. Doch als die Piraten tatsächlich bei ihr anriefen, erwies sich der Zettel als nutzlos. „Bei jedem Anruf drehten sich meine Gedanken nur im Kreis“, erzählte sie mir später. Das FBI hatte sie gut vorbereitet und ich bewunderte die abgeklärte Sachlichkeit, mit der sie meine Anrufe annahm, trotzdem konnte sie während des Telefonats kaum einen klaren Gedanken fassen – genauso wenig wie ich selbst. Nach meinem ersten Anruf konnte sie sich noch nicht einmal mehr an die Drohung der Piraten erinnern, mich verdursten zu lassen.
Nach dem Telefonat stolperte ich neben Alis Bruder den Pfad hinunter ins Tal. Es war später Nachmittag, als ich bei schon tief stehender Sonne in unser Lager zurückkehrte. Dort herrschte eine unheilvolle Stille. Rolly lag auf seiner Matratze. Ohne etwas zu essen bekommen zu haben, trank er mit vorsichtigen Schlucken aus einer Wasserflasche.
„Wie viel wollen sie für dich?“
„20 Millionen.“
„Genau wie bei mir.“
„Echt?“ Ich war fassungslos.
„20 Millionen: zehn für mich, zehn für Marc. Und, können deine Leute zahlen?“
„Vergiss es, Rolly!“
„Die wollen zu viel“, sagte er mit ernster Miene. „20 Millionen, weißt du, wie viel das bei uns zu Hause ist?“
„Ich kann’s mir vorstellen!“
Er legte die Stirn in Falten und überlegte: „Verdammt viel, davon kannst du dir ein Haus kaufen und ein Auto und …“
„Ein richtig schickes Auto“, lachte ich leise.
Wir fragten uns, ob uns die Piraten tatsächlich nichts mehr zu essen geben würden. Der Hunger begann uns zu quälen. Ich musste an das Telefongespräch mit meiner Mutter denken, an den Blick in den Lauf von Duulaays Pistole, an Omars wütende Tirade: „Wir wissen, dass du ein Spion bist!“ Hatte Boodiin das gemeint, als er mir damals im Haus vorwarf, einen Fehler gemacht zu haben? Hielten er und die Piraten mich für einen Spion? Hatten sie Gerüchte gehört über meine Verbindungen zur NATO, zu Atalanta? Und falls ja, hatte ich diesen Gerüchten etwas entgegenzusetzen? Oder sollte ich einfach aufhören, mir einzureden, dass irgendetwas hier unten in unserem Schattenreich einen Sinn ergeben könnte?
Weit entfernt hörten wir einen Spaten auf Steine und Erde treffen. Ein leichter Wind strich durch die Äste der Bäume, vom Abhang her erklang das wiehernde Krächzen eines dieser Pferdegeier.
Rolly rieb sich das Kinn: „Warum bist du ausgerechnet hierher in dieses Loch gekommen?“
„Das weiß ich leider selbst nicht mehr.“