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DIE GERÜCHTEKÜCHE

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Mein Vater hielt sich lieber an das, was er kannte. „Man soll seine Nase nicht in anderer Leute Dinge stecken“, sagte er immer. Und es stimmte ja, ich reiste ans Horn von Afrika nicht nur wegen der Weite der Savanne, des rauen Klangs in den Stimmen ihrer Bewohner, des einfachen Lebens ohne die gewohnten Annehmlichkeiten zu Hause. Mich trieb die Neugier. Ich wollte etwas über eine Gruppe Piraten herausfinden, der in Hamburg der Prozess gemacht wurde. Ein Prozess, der damals ganz Europa in Atem hielt. Es war der erste Piratenprozess in Deutschland seit über 400 Jahren. Während ich in Berlin für Spiegel Online arbeitete, hatte ich darüber berichtet. Der Prozess bot jede Menge Einblicke in das Denken und die Welt somalischer Piraten. Stoff genug für ein spannendes Buch, wie mir schien.

Ich habe als Journalist viel von dem indischen Dokumentarfilmer Ashwin Raman gelernt, der auch für deutsche Fernsehsender von den Krisenherden der Welt berichtet. Seine Bekanntschaft machte ich 2009 in Dschibuti, von wo aus ich für ein Magazin über Piraterie berichten sollte. Dschibuti ist ein kleiner ostafrikanischer Staat am Ausgang des Roten Meers, mit einer Hauptstadt aus verfallenen Kolonialbauten der französischen Besatzungszeit und zahllosen Hütten aus Zeltplanen, in denen es nach Ziegenmist stinkt. Die glühende Hitze dort ist unerträglich.

Wer aus Europa oder Amerika nach Dschibuti kam, übernachtete gewöhnlich im Méridien, einem teuren Hotel außerhalb der Stadt. Ich stieg jedoch nie dort ab, was die Fahrer, die mich zu meinen Terminen in der Stadt fuhren, regelmäßig verwirrte. „Aber es ist doch ein schönes Hotel, alle Europäer, alle Journalisten übernachten dort“, befand der junge Exilfranzose, der mich an meinem ersten Morgen zu einem NATO-Schiff bringen sollte. Ich mied das Méridien jedoch aus gutem Grund. Von den Europäern und Amerikanern dort konnte mir keiner etwas über das alltägliche Leben in Dschibuti erzählen. „Ich habe keine Ahnung, wo Ihr Hotel liegt“, musste selbst mein Fahrer gestehen, auch er komme nur selten in die Stadt.

Etwas außerhalb der Stadt auf der amerikanischen Militärbasis Camp Lemonnier traf ich schließlich Ashwin Raman. Zusammen führten wir ein Interview mit dem zuständigen Flottengeneral. Ashwin lebte zu dieser Zeit schon lange in Deutschland und auch er war nicht im Méridien abgestiegen. Er hatte mit seinen Kriegsberichten bereits zahlreiche Auszeichnungen gewonnen. Seine Ausrüstung: eine kleine handelsübliche Digitalkamera. „Ich filme damit einfach das, was ich sehe, mehr ist es nicht.“ Ashwin wirkt bei der Arbeit ganz unscheinbar, als sei er nur ein indischer Tourist, der für seine Enkel daheim ein paar Reiseerinnerungen festhalten will. Er hat dieses spezifische Talent, sich mit seiner Kamera unbemerkt selbst den gefährlichsten Situationen zu nähern und auch wieder rechtzeitig zu verschwinden. Vor unserem Treffen hatte er in Somalia mehrere Monate als pakistanischer Muslim getarnt unter den Kämpfern der islamistischen Miliz al-Shabaab gedreht.

Ashwin kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken. 1968 verließ er Indien, um in Oxford zu studieren. Doch bereits sein Weg nach England geriet ihm zum Abenteuer. Passende Langstreckenflüge gab es damals nicht. Stattdessen reiste er auf einem Boot voller Mekkapilger, einer hölzernen Dau, entlang der Küste des Arabischen Meers Richtung Nordwest. „Bist du schon mal auf einer Dau gesegelt?“, fragte er mich. „Es war ruhig und friedlich – zumindest bis Karatschi. Dann sind die Moslems zugestiegen und es wurde stressig und laut.“

Am Ende des Persischen Golfs, in Kuwait, ging er schließlich von Bord und fuhr von dort mit dem Bus weiter nach Bagdad; von dort wollte er den Zug nach Europa nehmen. Am ersten Tag in der Stadt wurde er Zeuge einer Hinrichtung. Das war ganz am Anfang von Saddam Husseins Herrschaft im Irak. Dass er als Reporter auch Zeuge von dessen Ende werden sollte, konnte er damals noch nicht ahnen.

Ein halbes Dutzend Mal kehrte er später als Journalist für deutsche Sender in den Irak zurück. 20 Mal reiste er in deren Auftrag nach Afghanistan. Mich erinnert Ashwin Raman an den indischstämmigen Autor Sir Vidiadhar Surajprasad Naipaul, so verschmitzt und warmherzig, wie er ist, selbst wenn ihm nur selten ein freundliches Wort über die Lippen kommt. Als Oxford-Absolvent ist er durch nichts zu beeindrucken. Nach unserem Interview mit dem Flottengeneral in Camp Lemonnier sprach ich ihn auf seine Ähnlichkeit mit Naipaul an.

„Ich hab ihn mal getroffen“, entgegnete er, „ein fürchterlicher Mensch!“

Auch Ashwin arbeitete gerade an einer Reportage über die somalischen Piraten in Dschibuti und schlug vor, gemeinsam weiterzureisen. Ich war geschmeichelt. Außerdem konnte ein erfahrener Ratgeber wie er nicht schaden. Konkrete Pläne hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.

Camp Lemonnier lag hinter gigantischen Sanddünen auf dem Gelände einer verlassenen Kaserne der französischen Fremdenlegion. Die ganze Siedlung bestand aus Schiffscontainern, dazwischen Basketballfelder, ein paar Wellblechbaracken und gepflasterte Straßen inklusive Straßenschilder. In einem „Navex“ – einem Laden der Navy – konnten Ashwin und ich uns mit Zahnpasta und Zeitungen eindecken. Der Laden sah aus, als hätte die Armee einen Drogeriemarkt aus einem Vorort von Los Angeles direkt hierher verfrachtet. Kaltes Neonlicht, Mundspülungen, Tortillachips und das Schmerzmittel Ibuprofen neben Jack-Daniels-Flaschen und Glückwunschkarten, kilometerlange Regale mit verschiedensten Haarshampoos.

Nicht zuletzt um solchen Orten zu entfliehen, war ich nach Berlin gegangen. In meiner Kindheit in Kalifornien war ich oft mit meinem Vater in diesen Läden einkaufen. Einmal versengte er mir dabei aus Versehen den Arm mit einer Zigarette. Er war an dem Nachmittag merkwürdig fahrig, wahrscheinlich hatte er getrunken. Es tat ihm furchtbar leid und er versuchte vergeblich, mich mit ein paar Lakritzschnecken zu trösten. Ich hasste amerikanische Drogeriemärkte.

In Dschibuti jedoch empfand ich das Gegenteil. Wie der deutsche Exilant Kurt Weill, der meinte, dass er auf einer einsamen Insel weniger seine Heimat Berlin als vielmehr die Drug Stores in New York City vermissen würde.

Vielleicht habe ich meinem Vater Unrecht getan. Er war kein einfältiger Mensch. Auch wenn er in seinen letzten Jahren manchmal ziemlich grob sein konnte und vergesslich wurde: Ich habe ihn als zupackenden, ehrgeizigen Mann mit einem verwegenen Lächeln in Erinnerung. Wir lebten in einem gelben Haus mit großem Garten samt Pool im San Fernando Valley. Eine typisch amerikanische Vorstadtfamilie.

Mein Vater hatte meine Mutter in Deutschland kennengelernt. Er arbeitete als Luftfahrtingenieur für den Rüstungskonzern Lockheed. Wenn in Europa ein neuer F-104 Starfighter gebraucht wurde, flogen er und seine Kollegen dorthin, um mit den NATO-Generälen in Italien oder Frankreich die Details zu besprechen. Meine Mutter war Sekretärin im Koblenzer Büro des Konzerns. Von ihrem Wohnort aus musste sie nur kurz den Rhein überqueren, um zur Arbeit zu gelangen.

Ihren bissigen Humor besaß sie schon damals, mit Anfang 20. Laut Familienlegende kam es bei der ersten Begegnung meiner Eltern zu einem amüsanten Missverständnis: Mein Vater musste aufs Klo und verlangte mit breitestem amerikanischen Akzent nach dem „Restroom“. Meine Mutter – sie kannte bis dahin nur das englische Wort „to rest“ – vermutete, mein Vater sei vom langen Transatlantikflug müde, und wies ihn in einen der Konferenzräume, dort könne er sich ausruhen.

Was nun wiederum meinen Vater irritierte: „In den Blumenkübeln?“, soll er gefragt haben.

„Wenn Sie das bequem finden“, soll meine Mutter kühl geantwortet haben und auf ihren Stöckelschuhen davonstolziert sein.

Wie viele seiner Freunde und Kollegen bei Lockheed kehrte mein Vater mit einer deutschen Braut nach Amerika zurück. Redselige, weißweinliebende Mütter aus dem Rheinland und pedantische, konservative Väter mit Ingenieursdiplom, das war das soziale Umfeld, in dem ich aufwuchs. Im Kindergarten verliebte ich mich in die Tochter der Lyons, Freunde meiner Eltern aus Koblenz. Sie hatten einen Dackel, der wütend durch das Haus in dem Wüstenvorort tobte, sobald Gäste da waren. Sein Gekläffe war Beweis genug, dass die Familie mütterlicherseits aus Deutschland stammte.

Mein Vater entwickelte als Ingenieur die Elektronik für Satelliten und Flugzeuge. Und er trank – mehr und mehr. So viel, dass am Ende immer deutlicher die Risse in unserem Vorstadtidyll sichtbar wurden. Seine Trunksucht gestand er sich erst ein, als meine Mutter ihn verließ. Oder besser, als sie ihn auf die Straße setzte. Er starb während des Hitzesommers 1981, allein in seiner verqualmten Wohnung gegenüber der katholischen Kirche am Reseda Boulevard. Mom erzählte damals, es sei ein Herzinfarkt gewesen. Nach seinem Tod zogen wir nach Redondo Beach. Die Lage nahe am Meer half gegen Mutters Allergien, allerdings war nun der Garten kleiner und unser Haus bescheidener.

Ich habe meine ganze Kindheit und Jugend in Kalifornien verbracht und habe sowohl im Süden als auch im Norden gelebt. Der oberflächliche Hedonismus der Kalifornier blieb mir dabei immer fremd und das alltägliche Verkehrschaos empfand ich als ebenso absurd wie die Unantastbarkeit der kalifornischen Schlüsselindustrien Film und Luftfahrt. Als Kind entdeckte ich einmal beim Spielen ein altes Kästchen in einem Schrank. Meine Eltern hatten darin Kleingeld aus aller Welt gesammelt. Nicht nur deutsche Mark, auch französische Francs, Schweizer Franken, mexikanische Pesos und britische Pfund waren darin. Beim Anblick der Münzen packte mich das erste Mal das Fernweh. Vorerst jedoch musste meine Briefmarkensammlung das Verlangen nach fremden Ländern befriedigen.

Mit Mitte 30 dann, als meine erste Ehe gerade in die Brüche gegangen war, fiel mir mein deutscher Pass in die Hände. Mit dem kalifornischen Way of Life hatte ich damals genauso abgeschlossen wie mit meiner gescheiterten Beziehung, den amerikanischen Drogeriemärkten, amerikanischer Politik, amerikanischem Fernsehen, dem kalifornischen Verkehr und Shoppingmalls. Kurz, ich hatte mit allem gebrochen, was mich an mein kleines, erbärmliches Leben in den Staaten erinnerte. 2005 ließ ich mich in Berlin nieder.

Aus den Fenstern meines Apartments blickte ich nun auf das Grün der Bäume in einem Ostberliner Park. Ich hatte neue Freunde gewonnen und führte ein angenehmes, ruhiges Leben. Ich liebte die milden, langen Sommertage in der Stadt, ich genoss den bitteren Frost im Winter. Nur ab und zu dachte ich mit Wehmut an den Pazifik. Und als ich erfuhr, dass es auch in Deutschland eine Surferszene gibt, reifte in mir die Idee für mein erstes Buch: Wie das Wellenreiten über die Welt kam – und was zwischendrin noch so alles passierte. Ich wollte zeigen, wie eine völlig unamerikanische Idee zum Inbegriff der amerikanischen Kultur werden konnte und wie sich am Ende die ganze Welt von der amerikanischen Begeisterung für diesen Sport anstecken ließ. Ein Reisetagebuch sollte es sein, es sollte von Hippies, amerikanischen Touristen und den Freizeitangeboten für die im Ausland stationierten amerikanischen Soldaten handeln, davon, wie nach dem Zweiten Weltkrieg der Surfsport und damit die amerikanische Kultur hinaus in die Welt getragen wurden.

Für das Buch bereiste ich Westafrika, Kuba, Marokko, Israel und den Gaza-Streifen. Dabei hörte ich erstmals Geschichten von modernen Piraten rund um Afrika und in der Karibik. Die moderne Piraterie wuchs sich zu dieser Zeit zu einem ernsten Problem auf internationalen Seewegen aus, vor allem am Horn von Afrika. Zu Hause in Berlin am Newsdesk bei Spiegel Online verfolgte ich die Meldungen von Entführungen und gekaperten Schiffen mit großer Neugier, während ich im Stillen schon über mein nächstes Abenteurerbuch nachdachte. Ich begann mich über die Art der Berichterstattung zu ärgern. Somalische Piraten, so hieß es, hätten nichts zu tun mit Seeräuberromantik, mit Augenbinden, Totenkopfflaggen und Papageien. Die Piraten von heute seien eine ernsthafte Gefahr. Nur die von heute? Das stimmte nicht. Zwar war ich wie jeder amerikanische Junge mit wilden Piratengeschichten aufgewachsen, wie sie Hollywood zu Blockbustern à la Pirates of the Caribbean weiterspinnt, zu nostalgischem Unsinn und martialischen Märchen. Aber mir war klar, dass die Wirklichkeit damit nichts zu tun hatte – auch die historische nicht. Vermutlich waren die Piraten von damals genauso bösartig und gefährlich wie die Piraten vor den Küsten Somalias heute. Ich ahnte nur noch nicht, wie viel alle Piraten miteinander gemeinsam haben.

Mitte der 80er-Jahre beschrieb Lou Reed in seinem prophetischen Song Video Violence eine Gesellschaft ganz im Bann der Popkultur, gefesselt durch Fernsehbilder von Explosionen und Schießereien. Inzwischen gehörten Gewaltexzesse wie das Schulmassaker in Columbine zum amerikanischen Alltag. Der Einsturz des World Trade Centers oder die Kriegsberichte von der US-Invasion im Irak, Bilder und Szenen, die der Fantasie eines Katastrophenfilmregisseurs zu entstammen schienen, beherrschten die Medien. Für mich war die neue Piraterie vor Somalia ein Beispiel für diesen Verfall der bisherigen Ordnung. Ich war Zeitzeuge und wollte genauer wissen, wie es dazu gekommen war.

Von Dschibuti aus kreuzte ich mehrere Tage an Bord einer NATO-Fregatte im Golf von Aden. Die GEDIZ fuhr unter türkischer Flagge und hatte sich bereits vor der Nordküste Somalias einen Ruf als Piratenjäger erworben. Kapitän Hasan Özyurt war dennoch unzufrieden. Ohne die vielen Einsatzvorschriften der NATO wären er und sein Kriegsschiff noch viel erfolgreicher. Hasan Özyurt zufolge war den Piraten nur mit einem härteren Mandat beizukommen. 200 Jahre lang hätten die Weltmächte die Piraterie in Schach gehalten, sagte er. „Dass die Piraten heute wieder hier draußen sind, ist ein Armutszeugnis für unsere Zeit.“

Und vermutlich hatte er recht. Piraten hat es immer gegeben, aber ihr letzter großer Auftritt war zur Zeit der nordafrikanischen Barbaresken. Bis ins 19. Jahrhundert hinein ließen die osmanischen Herrscher in Tunis, Algier oder Tripolis ihre Korsaren Jagd auf die christlichen Handelsflotten im südlichen Mittelmeerraum machen. Wer damals unbehelligt durch deren Gewässer reisen wollte, musste Tribut zahlen. Erst um 1800 entschlossen sich die amerikanischen Mächte, die nordafrikanische Küste von den Piraten zu befreien und deren Stützpunkte an Land zu schleifen. Noch fehlte ihnen dazu allerdings die geeignete Kriegsflotte. Ab 1815 war Amerika dann in der Lage, den Dey von Algier, einen der wichtigsten Unterstützer der Piraten, militärisch unter Druck zu setzen. Mit dem Abschluss eines Abkommens nahm er künftig die Handelsschiffe der noch jungen amerikanischen Nation von den Tribut- und Lösegeldzahlungen an die Korsaren aus. Mit diesen ersten Zugeständnissen an die Amerikaner endete allmählich auch die letzte große Ära der Piraten. Eine Ära, die tatsächlich noch den Donner von Schiffskanonen, Schwertkämpfe und waghalsige Manöver unter Segeln gekannt hatte.

Amerika hatte am Ende des 17. Jahrhunderts seine eigene Vorgeschichte als Piratenmacht gehabt, wie ich bei meinen Studien der Geschichte der Seeräuberei erfuhr. Die nordamerikanische Atlantikküste mauserte sich während des 18. Jahrhunderts binnen drei Generationen vom bevorzugten Rückzugsort für Piraten zur wichtigsten Kraft im Kampf gegen die Piraterie auf den Weltmeeren. Mit den wachsenden Handelsströmen von und nach Amerika entstanden in dieser Periode allmählich jene Werte, die es vor der Gesetzlosigkeit der Seeräuber zu schützen galt. Was, wenn Somalia heutzutage auf einem ähnlichen Weg war? Selbst wenn es natürlich Unterschiede gab, wäre das nicht zumindest eine gute These für ein Buch?

Lange Zeit drückte ich mich davor, dieser These vor Ort nachzugehen – aus gutem Grund. Doch dann sollte in Hamburg einer Gruppe somalischer Piraten der Prozess gemacht werden. Medienvertreter aus ganz Europa waren in der Stadt: Piraten in Deutschland! Am Anfang des 21. Jahrhunderts! Eine Sensation.

Im Gerichtssaal saßen zehn Somalis mit ihren 20 Anwälten. Ein holländisches Kommando hatte sie nach einem Gefecht festgenommen, als sie gerade das deutsche Frachtschiff TAIPAN kapern wollten. Die Angeklagten seien nichts als arme einfache Fischer, die nur unter Zwang zu Piraten wurden, brachten die Verteidiger vor. Ein beliebtes Klischee, das gern zugunsten der somalischen Piraten bemüht wird. Auch das deutsche Gericht saß ihm letztlich auf, nachdem es im Prozess so gut wie nichts über die wahre Identität der Männer hatte in Erfahrung bringen können.

Je länger der Prozess dauerte, umso weniger abwegig erschien es mir, selbst nach Somalia zu reisen. Mochte es noch so viele vernünftige Gründe geben, die dagegensprachen. „Doch es ist nicht allein die Vernunft, die darüber entscheidet, ob uns unsere nächste Reise in die Schweiz oder nach Westafrika führt“, schrieb schon Graham Greene in seinem Bericht Reise ohne Landkarte über den Weg in sein erstes außereuropäisches Abenteuer.

Im Frühjahr 2010 war die TAIPAN auf südlichem Kurs entlang des Horns von Afrika gefahren. Die diensthabenden Offiziere auf der Brücke machten acht Kilometer hinter dem Heck eine hölzerne Dau aus. Kein untypischer Anblick, viele Fischer der Region nutzen die bunt bemalten Holzkähne, mal motorgetrieben, mal unter Segeln. Selbst als das Boot sich dem Frachter näherte, vermutete Kapitän Dierk Eggers dort noch Fischer am Werk, die im Kielwasser der TAIPAN ihre Netze auswerfen wollten. Stattdessen tauchte hinter der Dau plötzlich eine Reihe kleinerer Schnellboote auf, die mit hoher Geschwindigkeit auf den Frachter zuhielten.

Eggers setzte sofort einen Notruf über Funk ab, während an Deck bereits die ersten Salven aus den Kalaschnikows der Piraten einschlugen. „Die Kugeln durchdrangen den Schiffsstahl wie Butter“, berichtete der Kapitän den Hamburger Richtern, „natürlich waren wir in Lebensgefahr.“

An Bord der TAIPAN gab es einen gepanzerten Schutzraum. Dort verbarrikadierte sich Eggers mit seiner Crew. Als die Richter genauer wissen wollten, wo an Bord sich der Schutzraum befinde, wich der Kapitän aus. „Irgendwo im Maschinenraum“, gab er widerstrebend preis. Weiteren Nachfragen begegnete er mit einem vorsichtigen Blick in den Gerichtssaal. Es war das erste Mal, dass er die Somalis an diesem Tag ansah.

„Wir hatten großes Glück“, sagte er, „dass unser Schutzraum nur sehr schwer zu finden ist.“

Kapitän Eggers war ein groß gewachsener Mann, damals 69 Jahre alt, drahtig mit stoppeligem Bart, das Haar zurückgekämmt, weißgrau mit ein paar blonden Reststrähnen. Seine Stimme war rau, aber angenehm. Vor Gericht erschien er in schwarzen Jeans und Lederweste. Er war ein erfahrener Seemann, das Gericht vertraute seiner Autorität.

„Niemand wagte ein Wort zu sprechen“, erzählte Eggers. „Ich ging fest davon aus, dass die Piraten sehr schnell unser Versteck entdecken und uns als Geiseln entführen würden. Vor dem Tod hatte ich keine Angst, eher davor, irgendwo an der somalischen Küste als Geisel festzusitzen.“

An Bord der TAIPAN arbeiteten damals 15 Männer aus Russland, der Ukraine, Sri Lanka und Deutschland. Alle hörten, wie die Piraten das Schiff durchsuchten. Eggers hatte Angst, die Piraten würden den Schein der Notbeleuchtung durch den Schlitz unter der Tür ihres Verstecks entdecken. „Die Maschinen wurden leiser, gleich darauf wieder lauter. Irgendwer spielte auf der Brücke offenbar mit den Hebeln“, erinnerte sich Eggers. „Plötzlich spürten wir, wie das Schiff hart nach Steuerbord drehte. Das muss Richtung Westen gewesen sein, auf die Küste Somalias zu.“

Im Maschinenraum gab es Toiletten, aber auch Computer, mit deren Hilfe man auf die Radarsignale auf der Brücke zugreifen konnte. Außerdem gab es einen Notausknopf, der alle Maschinen stoppte. Ein deutsches Aufklärungsflugzeug hatte inzwischen die TAIPAN ausfindig gemacht. Keiner der Piraten hatte es bemerkt. Aus einer Höhe von 11 000 Metern filmte es die Ereignisse an Bord. Im Gerichtssaal sahen wir die gestochen scharfen Aufnahmen. Wir sahen die Radarantennen sich drehen, die ungeheure Bugwelle des Frachters und die unbemannten Wasserkanonen, die riesige Salzwasserfontänen um das Schiff spien. Ein Frachtschiff in voller Fahrt hält so schnell nichts auf.

Eggers war überzeugt, dass er und seine Mannschaft ihre Freiheit nur ihrem perfekten Versteck zu verdanken hatten. Zwei Stunden durchsuchten die Piraten das Schiff, dann setzte ein holländischer Hubschrauber eine Spezialeinheit auf dem Deck der TAIPAN ab. Die Besatzung konnte die Schießerei hören, die Stimmen an Bord, englische Stimmen: „Sie sind in Sicherheit, wir kommen, um Sie zu retten!“ Doch weder Eggers noch die Crew vertrauten den Worten. Auch somalische Piraten sprechen bisweilen Englisch. Erst als er holländisches Gemurmel vor der Tür vernahm, fühlte Eggers sich sicher und verließ das Versteck.

Draußen an Deck lagen die Somalis gefesselt auf dem Bauch, die Augen verbunden. Die Holländer fotografierten und verhörten sie und transportierten die Gefangenen schließlich in die Niederlande ab. Von dort wurden sie nach Deutschland ausgeliefert, wo ihnen der Prozess gemacht werden sollte.

Während ich diesen Prozess 2011 verfolgte, freundete ich mich mit einem der somalischen Übersetzer an. Abdi Warsame, ein freundlicher, intelligenter Mann, arbeitete normalerweise für die deutschen Ausländerbehörden. Er stellte mir Mohammed Sahal Gerlach vor, einen somalischen Stammesältesten, der zu dieser Zeit in Berlin lebte. Gerlach stammte wie auch die meisten Angeklagten aus Galkayo und hatte bereits zuvor Journalisten bei ihren Recherchereisen durch seine Heimat bis in das Piratennest Hobyo begleitet.

Ashwin Raman und ich bissen sofort an. Wir löcherten Gerlach in den folgenden Monaten mit Fragen. Es gelang mir, zwei Zeitschriftenmagazine davon zu überzeugen, mich nach Somalia zu schicken, und ich bewarb mich erfolgreich für ein Recherchestipendium des Pulitzer Center on Crisis Reporting. Ich wollte so schnell wie möglich nach Somalia, um mir mit eigenen Augen einen Eindruck vor Ort zu verschaffen, und konnte es kaum erwarten, bis die Urteile im Prozess gesprochen waren. Ich wollte nichts riskieren, aber wenn ich eine Geschichte über die Piraten in Somalia schreiben wollte, musste ich mit den Recherchen bei den Piraten in Somalia selbst beginnen.

Anfang des Jahres 2012 landeten wir schließlich auf somalischem Boden. Offiziell hatte uns Mohamed Ahmed Alin nach Galkayo eingeladen. Er war zu dieser Zeit Präsident der Region Galmudug. Das erste Mal trafen wir uns in seiner beigebraunen Villa etwas abseits einer staubigen Hauptstraße. Hinter den hohen Mauern des Anwesens kauten Wachleute im Schatten einiger verdorrter Bäume Khatblätter. Unsere Leibwächter schlossen sich ihnen sofort an. Vor dem Haus mit dem überdimensionierten Eingangsportal parkte der silberne Geländewagen des Präsidenten. Von der Straße aus hätte niemand in Galkayo diese Art von Luxus erahnen können. Die Mauern rund um das Grundstück versteckten ihn gut. Selbst der höchste Teil des Gebäudes schien sich unter dem metallenen Hausdach wie hinter der Krempe eines Filzhuts vor den Blicken von außerhalb wegzuducken.

Mohamed Ahmed Alin empfing uns in seinem Büro. Auf seinem Kopf trug er die für Sufis typische bestickte Gebetsmütze. Zu dieser Zeit strebte die Region Galmudug, ein schmaler Streifen Land im Herzen Somalias, nach Unabhängigkeit. Man erkannte die wenig handlungsfähige Übergangsregierung in der Bundeshauptstadt Mogadischu an, wenn auch nur, um in Galmudug selbst die eigenen Führungskräfte in Stellung bringen und auf die Finanzmittel der Bundesregierung zurückgreifen zu können. Alin sah uns durch die Gläser seiner Gleitsichtbrille an. Er wirkte ruhig, aber auch etwas bedrückt.

„Herzlich willkommen in Galmudug“, begrüßte er uns. „Wie gefällt es Ihnen hier?“

„Ganz gut so weit.“

Mohammed Gerlach saß mit uns am Tisch und übersetzte das Gespräch.

„Wo sind Sie untergebracht?“, fragte der Präsident. „Im Embassy-Hotel?“

„Genau.“

„Und Sie wollen weiter nach Hobyo?“

Unser Übersetzer hatte die Recherchereise für uns geplant, darunter natürlich auch einen Abstecher nach Hobyo, wo wir uns mit Piraten treffen wollten. Der kleine Küstenort lag zwar offiziell in der Region Galmudug und damit in der Zuständigkeit Präsident Alins. Allerdings, so gestand dieser uns, hätte die Regierung dort keinerlei Einfluss, dafür fehlten ihm und vor allem dem Militär die Mittel: „Wir geben unser Bestes dort, aber es ist fast unmöglich.“

Alin saß an seinem schlichten Schreibtisch mit einem vergilbten älteren Computermodell. Durch das Fenster konnten wir das Wachpersonal hören. Alin und unser Übersetzer waren Cousins. Und wie der Präsident hatte auch unser Übersetzer einen Regierungsposten als stellvertretender Minister inne. Beide stammten aus dem Sa’ad-Klan. Während wir sprachen, wurde uns allmählich klar, dass Alin all seine stellvertretenden Minister aus dem eigenen Klan rekrutiert haben musste.

Während unserer Reisevorbereitungen hatte Gerlach häufig über seine Pläne für die Entwicklung der Region Galmudug gesprochen. Er wollte Arbeitsplätze schaffen, träumte von Häfen an der Küste, die dem Warenverkehr und damit der gesamten somalischen Wirtschaft auf die Beine helfen würden. Mir leuchtete der Plan sofort ein, er passte gut zu der These, mit der ich zu meiner Recherchereise aufgebrochen war: Piraterie war zuallererst eine Form von Handel, wenn auch eine äußerst verbrecherische und gewalttätige. Sie entsteht dort, wo die Menschen sonst keine Arbeit finden. Deswegen existierte sie einst an der Küste Amerikas und heute am Horn von Afrika.

Präsident Alin kannte die Pläne seines stellvertretenden Ministers: „Das wäre unsere Zukunft“, sagte er. Derzeit allerdings schafften die somalischen Warlords mit ihren Banden einheimische Waren wie zum Beispiel Zucker auf verschlungenen Wegen über die äthiopische oder kenianische Grenze außer Landes, ohne dafür Zölle und Abgaben zu bezahlen. Es gab also bereits einen Warenverkehr. Gerlach und Präsident Alin setzten darauf, dass dieser sich aus der Illegalität befreien ließe und aus ihm Jobs und neue Perspektiven für die somalische Wirtschaft entstanden.

„Nur schaffen wir das nicht allein“, gestand Alin, „wir brauchen dafür die internationale Hilfe.“

Ein vernünftiger Ansatz, wenn sich auch internationale Entwicklungshilfe für Somalia bisher stets als schwierig erwiesen hatte. Der Name „Galkayo“ bedeutet so viel wie „Wohin die Ungläubigen flohen“. Er verweist auf die Kriege mit den Kolonialmächten Italien und England und auf die tiefsitzenden antikolonialen Ressentiments der Bevölkerung.

Dabei hatte Galkayo trotz seiner staubigen Straßen durchaus etwas Kosmopolitisches. Die Stadt war gerade mal 100 Jahre alt, doch die vergangenen fünf Jahre organisierter Piraterie vor der Küste hatten ihre Spuren hinterlassen. Gab es zuvor kaum Strom oder fließendes Wasser, geschweige denn Schulen, so beherbergte die Stadt nun zwei Universitäten, über 20 einfache Schulen, eine Reihe konkurrierender Mobilfunkanbieter, etliche, wenn auch heruntergekommene Hotels und einige Internet-Cafés. Sogar Alkohol konnte man kaufen. Eine Boomtown sei die Stadt, erzählten die Bewohner voller Stolz, mit Krankenhäusern und klimatisierten „Hawala-Shops“ für den internationalen Geldverkehr. Die Einkünfte aus dem Piratengeschäft verschafften Galkayo sichtbaren Wohlstand. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen brachten vor allem die Lösegelder die Wirtschaft dort in Schwung. Das hatte mir bereits vor meiner Abreise ein UN-Experte berichtet: „Überall in Galkayo wird gebaut. Selbst aus dem All kann man es sehen, die Stadt ist heute nachts viel heller als noch vor ein paar Jahren.“ Auch neue Villen sprossen aus dem Boden wie Gänseblümchen auf der Wiese.

Blickte man auf die schmutzigen, ungepflasterten Straßen, war „Boomtown“ vielleicht doch etwas übertrieben. Vor allem im Vergleich zu anderen Orten, wo die Somalier mindestens ebenso erfolgreich wirtschafteten. Das Viertel Eastleigh in Kenias Hauptstadt Nairobi war fest in somalischer Hand und hatte einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung zu verzeichnen. Es blühte zwischen 2005 und 2011 regelrecht auf und sah nun beinahe wie ein zweites Manhattan aus. Offenbar profitierten auch andere Teile Ostafrikas von den Piratengeschäften der Somalis. In Galkayo saßen sehnige Männer in weiten Sarongs im Schatten vor den Hawala-Shops. Ladenschilder oder Werbetafeln gab es nicht, die Firmennamen wurden mit großen bunten Bildern direkt auf die Hauswände gepinselt. Ziegen blökten in den Straßen, einigen hatte man Telefonnummern ins Fell gemalt. Alles flirrte in der Hitze einer ungnädigen Sonne.

Gerlach führte uns durch eines der Kraftwerke, die der Stadt den Strom lieferten. Über den Straßen spannte sich von ihnen aus ein dichtes Netz Stromleitungen. Wir konnten bereits in unserem Hotel Tag und Nacht den Lärm der Generatoren hören. Das Kraftwerk war nicht viel mehr als ein offener Platz, eingepfercht zwischen zwei Gebäuden. Ein Somali war mit dem Ölen der Kolben der sechs Dieselmotoren beschäftigt, die man offenbar aus alten Lastwagen oder Traktoren ausgebaut hatte, um damit die Generatoren anzutreiben. Er lächelte uns durch blauschwarze Rußschwaden an, während er die Tanks der Maschinen aus einer Blechkanne mit Diesel befüllte.

„Sind hier alle Kraftwerke so?“, rief ich Gerlach zu.

„Im Süden ja“, schrie er zurück, „im Norden von Galkayo sind sie ein bisschen anders. Dort drüben ist die Grenze.“

Gerlachs Assistent Hamid zeigte uns eine Häuserzeile am Ende der Straße: „Davor verläuft die Grenze!“

Die Grenzlinie zwischen den beiden somalischen Bundesstaaten Galmudug und Puntland ging mitten durch die Stadt. Doch während Galmudug durch den Sa’ad-Klan regiert wurde, herrschten jenseits der Grenzlinie die Omar Mahmoud. Am Ende der Straße verlief also eine der ständig wechselnden Fronten des somalischen Bürgerkriegs. Regelmäßig schlugen hier die Granaten der Gegner ein. Nach dem Sturz Präsident Siad Barres waren die blutigen Grenzkonflikte im Land wieder aufgeflammt. Zwischen Galmudug und Puntland verlief außerdem die Stammesgrenze der beiden mächtigsten Klans Somalias, der Hawiye und der Darod. Während die Omar Mahmoud zu den Darod gehörten, waren die Sa’ad ein Teil des Hawiye-Klans.

Genau wie der Bürger- und Klankrieg war auch Somalias Piratenproblem eine Folge des Zusammenbruchs der staatlichen Autorität im Jahr 1991. Davor hatte das Land unter dem Diktator Said Barre gelitten, doch bei allem Leid und aller Ungerechtigkeit hatte Barre – ähnlich wie Gaddafi in Libyen – die widerstreitenden Klaninteressen der somalischen Gesellschaft in einer Nation zusammengehalten. Mit der Bundesregierung war nun auch die Marine verschwunden und die somalischen Fischer mussten ohnmächtig zusehen, wie Europäer und Asiaten die Gewässer vor ihren Küsten rücksichtslos leer fischten. Einige regionale Herrscher in Puntland machten daraus ein Geschäft. Mithilfe bewaffneter Schnellboote setzten sie in den 90er-Jahren einige ausländische Fischkutter vor ihrer Küste fest und forderten von den Eindringlingen sogenannte Fischereigebühren. Oft zwangen sie die Boote tagelang vor Anker zu liegen, bis sich die Eigner mit den Somalis auf die Höhe der Gebühr geeinigt hatten. Wurde am Ende die Gebühr überwiesen, in Größenordnungen um 50 000 Dollar, stellten die somalischen Regionalfürsten dem Boot eine Art Fischereischein aus und ließen die Kutter und ihre Besatzungen unbehelligt weiterarbeiten.

Dieses Geschäft lief eine ganze Weile gut, dann allerdings griffen die Piraten immer größere Schiffe an. 2005 brachten sie einen Gastanker für zwei Wochen in ihre Gewalt. Zwei Jahre später hatte sich das Problem zu einem ernsten internationalen Konflikt ausgeweitet. Statt mit ein paar Eintreibern halboffizieller Fischereigebühren hatte man es nun mit einem skrupellosen kriminellen Netzwerk zu tun, dessen Mitglieder bis unter die Zähne bewaffnet waren. Die NATO und die EU begannen vor dem Horn von Afrika mit ihren Kriegsschiffen zu patrouillieren.

Wir verließen das Kraftwerk. Im Schatten eines Marktstandes auf der Straße unterhielten sich die Frauen in ihren weiten Kleidern. Vor ihnen türmten sich Khatstängel auf wie auf anderen Märkten die Petersilie. Ihre Ware war sicher mehrere 100 Dollar wert. „Die Khatsucht treibt die Somalis in die Piraterie“, behauptete Gerlach. „Wer abhängig ist, braucht dafür am Tag 20 Dollar und mehr. Die wenigsten hier verdienen so viel.“

Das amphetaminhaltige Kraut kommt meist aus dem äthiopischen oder kenianischen Bergland. Von dort gelangt es als Flugfracht in die somalische Ebene. Jeden Morgen kann man den Khatflieger beim Landeanflug auf Galkayo hören.

Unsere Leibwächter, die gerade ihren Lohn erhalten hatten, gingen an den Stand einer jungen Frau in einem dunkelroten Kleid. Die Frau lächelte zu mir herüber. „Salam alaikum“, grüßte ich zurück.

Sie ließ mich durch unsere Leibwächter fragen, ob ich schon eine Frau hätte. Als ich lachend „Nein!“ erwiderte, drehte sie sich schüchtern um und sagte nichts mehr. Im Hotel feixten Gerlach und die Leibwächter, dass ich ihr wohl gefallen hätte. Mich erstaunte es, dass eine muslimische Frau in Somalia derart offen einen Mann ansprechen konnte. Die Stimmung in der Stadt selbst schien ungehemmt, locker – während die Menschen hier im Allgemeinen oft misstrauisch und voller Zynismus waren. Auf der einen Seite bestimmten Religion und Tradition das Leben der Leute, auf der anderen Seite herrschte Gesetzlosigkeit wie einst im Wilden Westen.

Wegen organisatorischer Probleme verzögerte sich unsere Fahrt nach Hobyo. Die Tage zogen sich scheinbar endlos hin und über der Stadt lag eine brütende Hitze. Es war so schwül und drückend, dass ich mir bisweilen nicht sicher war, ob die Außentemperatur oder bereits die Fieberschübe einer Malariainfektion meinen Körper derart erhitzten. So griff auch ich zum Khat. Solange ich an einem der Stängel der Droge kaute, ging es mir gut und ich konnte wieder klar denken. Ich erzählte Ashwin davon.

„Das bildest du dir nur ein“, gab er zurück.

Von unserem Balkon aus blickten wir auf die Straße hinunter, wo unser Leibwächter Mowliid mit einem Maschinengewehr über der Schulter auf und ab patrouillierte. Seine Munitionsgurte klimperten wie schwerer Goldschmuck.

„Was hältst du von ihm?“, fragte ich Ashwin.

„Er hat uns verdammt viel Geld gekostet“, antwortete er trocken.

Er schwieg und dachte anscheinend weiter über meine Frage nach. Nach einer Weile meinte er: „Ich halte ihn für zuverlässig. Allerdings gefällt mir unser Hotel nicht recht.“

Das Zimmer war schmutzig. Auf dem Ventilator klebte zentimeterdick der Staub, über den Betten hingen Moskitonetze. Die Stromversorgung war unzuverlässig und wir horteten wassergefüllte Plastikflaschen für den Fall, dass mal wieder das Leitungswasser abgedreht wurde, wenn wir gerade eine Dusche brauchten.

Ich dachte über die Rückreise nach, für die wir noch keine Flugtickets hatten.

„Hat dir Hamid einen Flug besorgen können?“, fragte ich.

„Bis jetzt hat er mir nur zwei Termine vorgeschlagen.“

Hamid war Gerlachs Gehilfe. Er sollte für uns in einem kleinen Reisebüro um die Ecke die Rückflugtickets besorgen. Dazu hatte er unsere Pässe mitgenommen, um damit auf drei Flügen einen Platz reservieren zu lassen. Wir würden uns einen davon aussuchen und Hamid die beiden überflüssigen Termine stornieren lassen. Eine Vorsichtsmaßnahme offenbar. Ursprünglich wollten wir Somalia gemeinsam verlassen. Doch dann entschied sich Ashwin, von Hobyo nach Mogadischu weiterzureisen, während ich allein nach Nairobi zurückfliegen sollte. Technisch kein Problem, trotzdem bedeutete jede unerwartete Änderung der Reisepläne Stress.

Mittags aßen wir im Innenhof des Hotels. An den Teetischen hatten sich die hiesigen Stammesältesten mit ihren weiten Kaftanen und blechernen Gehstöcken niedergelassen. Neben ihnen saßen etliche Exilsomalis, die bei einem Besuch in der Heimat gern im Embassy-Hotel abstiegen. Sie lebten überwiegend in Europa, hielten aber enge Verbindung zu Präsident Alin und bekleideten irgendwelche Ämter in seiner Regierung. „In Somalia gibt es sehr viele Minister“, hatte mir der Übersetzer Abdi Warsame in Hamburg erzählt. „Jeder Somali weiß besser, wie Regieren geht. Deshalb gibt’s dort auch ständig Bürgerkrieg“, hatte er gescherzt. „Europa und Amerika sind streng hierarchisch nach Klassen geordnet – auch wenn das niemand wahrhaben will. In Somalia glauben zehn Millionen Menschen ernsthaft, der Posten des Premiers stünde allein ihnen zu.“

Gerlach war eher ein gemütlicher Typ mit Brille und einem herzlichen Lächeln, groß und etwas untersetzt. In den 70er-Jahren hatte er eine Deutsche kennengelernt und nach der Hochzeit ihren Familiennamen angenommen. Bilder aus jener Zeit zeigen Somalia freier und offener als heute. Die Frauen auf den Fotos trugen keine Schleier, sondern Blusen und Hosen. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit von den britischen und italienischen Kolonialherren hatte sich Somalia mit einer moderat sozialistischen Wirtschaftsordnung und einem vernünftigen Bildungssystem zunächst gut entwickelt. Doch nach dem Sturz Siad Barres verfiel das Land in Anarchie und die Bürger glaubten nun an die Macht der Maschinengewehre und an die Verschleierung der Frauen. „Der Sa’ad-Klan war am Sturz Barres beteiligt“, erklärte uns Gerlach. „Aber was dabei herausgekommen ist, gefällt mir nicht.“

Ein junger Somali mit Spitzbart grüßte Gerlach und setzte sich zu uns an den Tisch.

„Das ist Mohamud Awale“, stellte uns Gerlach den etwas behäbigen jungen Mann vor. „Er ist Bürgermeister in Hobyo.“

Es überraschte uns etwas, den Bürgermeister hier anzutreffen, schließlich lag Hobyo rund 200 Kilometer entfernt von Galkayo.

„Nur ein Ehrentitel“, erklärte Mohamud Awale. „Ich lebe eigentlich in London.“

„Es ist schwierig, in Hobyo zu arbeiten, oder?“, warf Ashwin ein.

„Ja, leben kann ich dort nicht“, gab der Bürgermeister unumwunden zu. „Unsere Provinzregierung hat entlang der Küste nicht den geringsten Einfluss – irgendwann, eines Tages vielleicht. Im Augenblick organisieren wir nur Hilfslieferungen dorthin. Die Leute in Hobyo hungern. Auch wenn wir dort kaum hinkönnen, wir als Regierung müssen irgendwie helfen, einfach raushalten können wir uns nicht.“

„Kommen Sie doch morgen einfach mit uns mit“, schlug Ashwin vor.

„Stimmt, vielleicht ist es gut, wenn ich mich dort zeige.“

„Und was machen Sie in London?“, fragte Ashwin.

„Ich bin Busfahrer.“

Hamid, Gerlachs Gehilfe, der jetzt neben uns Platz nahm, war schmächtig, sein Spitzbart hatte bereits ein paar graue Haare. Er trug sein weites Hemd offen und rauchte Royal. Für Gerlach vermittelte er Journalisten in Galkayo Kontakte zu Einheimischen. Auch unsere Leibwächter hatte er ausgesucht – mithilfe eines Stammesältesten vor Ort, wie Gerlach betonte. Jetzt brachte Hamid uns eine überraschende Nachricht: Es gebe Gerüchte in der Stadt, dass einer der Anführer der Piraten mich entführen wolle.

„Mohamed Garfanji hat 15 Millionen Dollar auf deinen Kopf ausgesetzt“, berichtete er.

Ich bekam es mit der Angst zu tun: „Müssen wir das ernst nehmen?“

Gerlach und Hamid berieten sich. Schließlich schüttelte Gerlach den Kopf. „Gerüchteküche“, sagte er zu mir auf Deutsch. Meist sei an solchen Gerüchten nicht viel dran. Allerdings kursierten sie oft unter Menschen, die kaum lesen und schreiben könnten und dazu neigten, Lügen für bare Münze zu nehmen. Falschnachrichten würden überall in Somalia gestreut. „Die somalische Gerüchteküche ist gefährlich“, gab er zu.

„Das glaube ich sofort“, sagte ich.

„Wir müssen vorsichtig sein.“

Den ganzen Nachmittag wollte ich nichts als nach Hause. Allerdings starteten die Maschinen nach Nairobi nicht jeden Tag, also musste ich warten. Außerdem wollte ich den Trip nach Hobyo nicht einfach absagen. Vielleicht, so dachte ich mir, wäre es ohnehin besser, nicht im Hotel auf mein Flugzeug zu warten, sondern weiterzureisen. So wäre es schwieriger für die Piraten, mich aufzuspüren.

In unserem Hotelzimmer beriet ich mich mit Ashwin. „Hör zu, Michael“, sagte er, „ich weiß, das ist beängstigend. Aber das ist genau das, was sie wollen, nämlich dass wir Angst haben. Vielleicht wollen sie einfach nur mehr Geld. Wenn dieser Garfanji dich wirklich entführen will, was hält ihn davon ab, mit seinem Technical hier vorm Hotel vorzufahren und dich einfach mitzunehmen?“

Ich nickte nur. Ein Technical war ein Überbleibsel aus dem somalischen Bürgerkrieg, ein Pick-up mit einem Maschinengewehr auf der Ladefläche.

„Mach dir keine Sorgen“, beruhigte mich Ashwin. „Gerlach meint, deine Entführung würde hier einen kleinen Bürgerkrieg auslösen.“

„Das stimmt“, gab ich zu.

„Es ist ein Gerücht, nicht mehr!“

Ich nickte wieder. Wir waren schließlich als Gäste des Präsidenten hier, was sollte uns also schon passieren.

Hamid und Gerlach hatten für die Reise nach Hobyo die Zahl unserer Leibwächter verdoppelt. Mit drei Land Rovern und einem Technical machten wir uns morgens auf den Weg. Unterwegs wurden wir mächtig durchgeschüttelt. „Kibir Jabiye“, stand auf dem Heck des Technicals vor uns. „Nieder mit dem Hochmut!“, übersetzte Gerlach für uns, ein alter Slogan aus der Zeit der Kämpfe gegen Diktator Siad Barre. Die Technicals waren Anfang der 90er-Jahre eine der wichtigsten Waffen der Aufständischen.

„Kennt ihr Aidid?“, fragte Gerlach.

Ich wusste, dass Farrah Aidid damals den Aufstand gegen Siad Barre angeführt hatte. Später, 1993, hatte er dann als Warlord in der Schlacht um Mogadischu gegen die Soldaten der Vereinten Nationen gekämpft.

„Aidid gehört zu unserem Klan. Während der Aufstände war ‚Kibir Jabiye‘ unser Schlachtruf.“

„Aidid ist also ein berühmter Sa’ad?“, warf ich ein.

„Genau!“, antwortete Gerlach.

In Ridley Scotts Kriegsfilm Black Hawk Down war er einer der Schurken des Bürgerkriegs – aus amerikanischer Sicht. Die Somalis feiern ihn als Kriegshelden.

Stoßstange an Stoßstange rumpelten wir über die staubigen Straßen. Man hatte Ashwin, Gerlach, Hamid und mich in ein Auto gepfercht. Einige der Exilsomalis aus dem Hotel saßen in einem zweiten Wagen. Mit uns fuhr auch Digsi, ein Ältester des Sa’ad-Klans. Er war sehr einflussreich, hieß es, einflussreicher als Präsident Alin. Der kräftige Mann mit der rundlichen Silhouette und dem schütteren weißen Haar schritt mit stolzgeschwellter Brust einher. Während die Somalis im anderen Wagen als Vertreter der machtlosen Regionalregierung nach Hobyo reisten, hofften wir, dass die Piraten Digsi, ihrem Ältesten, den gebührenden Respekt entgegenbringen würden und uns seine Autorität vor Schwierigkeiten bewahrte.

Ein paar bewaffnete Somalis klammerten sich auf der Ladefläche des Technical fest, während das Maschinengewehr bei jedem Schlagloch über ihren Köpfen hin und her schwenkte.

„Sind das alles Sa’ads?“, fragte ich Gerlach.

„Ja“, antwortete er.

Mowliid, unser Leibwächter, hatte sich in den Laderaum unseres Land Rovers gezwängt. Er tippte Gerlach auf die Schulter.

„Mowliid will euch sagen, dass K’naan, der kanadische Rapper, sein Klanbruder ist“, übersetzte Gerlach.

„Echt?“, rief ich erfreut und drehte mich zu Mowliid um.

Gerlach und er redeten eine Weile auf Somali und der Fahrer spielte über die Musikanlage einen Song von K’naan.

„Der Fahrer gehört auch zu K’naans Klan“, sagte Gerlach. „Der Rapper ist das zweite berühmte Familienmitglied der Sa’ad.“

Einen Tag lang fuhren wir so durch sengende Hitze und weiß-rötlichen Staub, bis die untergehende Sonne die wenigen Wolken am Horizont rötlich färbte. Kurz vor dem Örtchen Budbud – auf Somalisch „Putput“ ausgesprochen – hielten wir an, um uns ein wenig die Beine zu vertreten. Wir wollten dort bei Digsis Verwandten übernachten.

„Besser, wir lassen uns Zeit“, hatte Gerlach gesagt. „Junge Somalis fahren die Strecke über die Khatpisten schon mal in vier, fünf Stunden. Aber wir sind nicht so schnell.“

„Was sind Khatpisten?“, fragte ich ihn.

„Die Lieferwege für das Khat“, erklärte er. „Jeden Tag wird es aus Galkayo nach Hobyo gebracht – ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.“

Budbud war ein winziges Dorf. Zwischen flachen Hütten lag überall ein grauer, feiner Staub, der von den Dünen und Anhöhen mit jedem Windstoß herübergeweht wurde.

„Hier fängt allmählich die Wüste an“, erklärte Gerlach. „Die Savanne zieht sich mit dem Klimawandel Jahr für Jahr weiter zurück.“

Vor einem Betonklotz mit pastellfarbenem Anstrich warteten bereits die Dorfbewohner auf unsere Autokarawane. Die Männer mit ihren Turbanen und weiten Sarongs wirkten grobschlächtiger als die Leute in der Stadt. Einige trugen wilde Bärte. Einige der Ältesten hatten ihre Barthaare mit Henna gefärbt. Digsi wurde von ihnen herzlich begrüßt, während Hamid uns schnell ins Innere des Hauses lotste.

In einem dunklen Schlafzimmer setzten wir uns. Eine leichter Luftzug bewegte die blauen Vorhänge vor dem Fenster in der Ecke des Raumes. Auf einem hölzernen Frisiertisch standen Dosen und Fläschchen mit allerlei Cremes und Wässerchen. Auf dem Boden lag eine mit Satin bezogene Matratze. Abgesehen von ein paar zerschlissenen Wandteppichen gab es hier sonst nichts, noch nicht einmal einen Stuhl.

„Wo um alles in der Welt sind wir hier?“, wollte Ashwin von Hamid wissen.

„Wir sind bei Digsis Schwester zu Gast, sie überlässt uns heute ihr Schlafzimmer“, erklärte er. „Ihre Familie wird extra für uns eine Ziege schlachten.“

Unsere Leibwächter setzten sich mit ihren Gewehren um uns herum auf den Boden. Mowliid hatte immer noch seinen Patronengürtel über den Schultern und lehnte das Stativ mit dem Maschinengewehr gegen den Türrahmen. Da das Gewehr mit der Munition aus seinem Gürtel geladen war, blieb er mit seiner Waffe verbunden, solange er den Gürtel an sich trug. Umständlich befreite er sich, indem er die Patronenkette zu einem Haufen neben der Waffe aufschichtete.

„Brauchen wir hier Schutz?“, fragte ich und deutete auf das Gewehr an der Tür.

„Vor Piraten!“ Er grinste breit und bot mir einen schlaffen Strunk aus seinem Khatvorrat an.

Ich schüttelte den Kopf.

Die Sonne ging unter und über dem Dorf lag ein roter, fast endzeitlicher Glanz. Immer wieder kamen groß gewachsene junge Männer mit zerzausten Bärten vorbei, um durch den Türrahmen einen Blick auf uns zu erhaschen. Vor unserem Zimmer hörten wir Frauen, die sich am Herd zu schaffen machten.

„Michael“, Mowliid zeigte auf die Patronen an seinem Munitionsgürtel, vermutlich 30-Millimeter-Kaliber, „wie teuer?“

„Wie viel die kosten? Die Patronen? Keine Ahnung!“

„Ein Dollar!“, sagte er.

„Das Stück?“, fragte ich ungläubig.

Er nahm einen Teil seines Gürtels hoch und wog ihn mit der Hand: „Alles zusammen 500 Dollar!“, schätzte er. Ein Somali verdient im Jahr durchschnittlich 550 Dollar. Wenn Mowliid also stolz mit seinem klimpernden Gürtel über den Schultern durch die Straßen patrouillierte, dann trug er aus somalischer Perspektive ein Vermögen spazieren.

Nun wurde es draußen dunkel und man brachte uns zwei große Pfannen Nudeln herein. Mit einem Krug voll Wasser wuschen wir uns zunächst die Hände. Hamid goss jedem von uns ein Glas Tee ein. Dann begannen Gerlach, Digsi und die anderen Somalis mit den Fingern direkt aus der Pfanne zu essen.

„Besteck gibt es hier nicht, wir sind auf dem Dorf, nicht in der Stadt!“, erklärte uns Hamid. Die Spaghetti waren mit gerösteten Zwiebeln und Stücken von Ziegenfleisch gemischt. Wir versuchten das Fleisch mithilfe der Spaghettibündel zu fassen und zu essen.

„Die Spaghetti haben wohl die Italiener hierhergebracht?“, fragte ich Gerlach.

„Das ist auch das einzig Gute, was die Kolonialzeit Somalia hinterlassen hat“, lachte er.

Wir saßen auf dem Boden und aßen alle aus derselben Pfanne. Im Halbdunkeln sah ich etwas über unsere Nudeln krabbeln. Ich bin normalerweise nicht zimperlich, aber dieser fette Mistkäfer auf den Nudeln war mir zu eklig.

„Vorsicht!“, warnte ich die anderen.

Gerlach sagte etwas auf Somali, daraufhin verschwand die Pfanne hinter der Zimmertür. Nach ein paar Augenblicken wurde uns eine andere Pfanne gereicht. Mir war der Appetit vergangen, aber es half nichts, Digsi hatte in seiner Pfanne ein Stück Ziege entdeckt, das er seinen Gästen nicht vorenthalten wollte. Also wurde das Stück Fleisch mit viel Aufsehen zu uns herübergereicht.

„Die Schulter“, raunte Hamid, „das beste Stück! Es ist eine Ehre, davon angeboten zu bekommen!“

„Mahadsanid“, bedankte ich mich auf Somali.

Ich versuchte vorsichtig, das brühend heiße Stück Fleisch mit den Fingern zu teilen. Digsi nickte mir lächelnd und voller Wohlwollen zu. Die Art jedoch, mit er mich als Ehrengast in seinem Haus begrüßte, hatte etwas Gestelltes und ging mir in den kommenden Monaten nicht mehr aus dem Kopf. Offenbar wollte er den anderen Somalis beweisen, dass er noch gewissenhaft die alte somalische Tradition der Gastfreundschaft gegenüber Fremden pflegte. Doch waren Digsis Gesten zu theatralisch, zu aufgesetzt, als dass ich mich geehrt fühlen konnte. Mehr und mehr wurde mir unwohl in meiner Haut.

Nach dem Essen wurde uns nochmals Wasser in einem Krug gereicht und wir wuschen uns damit die Hände. Digsi reichte seinen Gästen einen Flakon Kölnisch Wasser. Mir hätte eine Serviette gereicht, um das Fett an meinen Fingern loszuwerden. Doch wieder war es Digsi, der sich meiner annahm und mir mit einem Lächeln vormachte, wie man Hände und Unterarme mit dem süßlichen Parfüm einzureiben hatte. Offenbar sollte der betäubend schwere Duft des Parfüms das Ziegenfett an den Fingern mitsamt Staub und Schweiß der Reise verschwinden lassen.

Am Horizont wurden zwei Minarette sichtbar. Wir fuhren mit unseren Wagen hintereinander auf einer staubigen Piste – der „Pirate Road“, wie sie Gerlach nannte – durch den Busch. Ab und zu gab das Gelände den Blick auf das Meer frei.

„Das ist die Straße von Harardhere nach Eyl, Hobyo liegt genau in der Mitte“, sagte Gerlach.

Ich deutete kurz auf den Technical vor uns, dessen Maschinengewehr bei jedem Stein, bei jedem Schlagloch auf der Ladefläche umherschlenkerte.

„Meinst du, wir werden von Drohnen beobachtet?“, fragte ich.

„Klar!“, Gerlach lachte.

Wir fuhren an einem riesigen grauen Moscheekomplex vorbei. Auf dem Dach zwischen den beiden Minaretten standen vermummte Männer und hielten mit Granatenwerfern im Anschlag Wache.

Mowliid sagte etwas und Gerlach übersetzte: „Wahrscheinlich halten sie dort Geiseln.“

„In einer Moschee?“, fragte ich ihn ungläubig.

Die Moschee und die Waffen hatten mich sofort an die islamistische Al-Shabaab-Miliz erinnert. Eine Terrororganisation, die in Hobyo ansonsten keine Präsenz zeigte.

„Die Geiseln werden irgendwo in der Moschee oder ganz in der Nähe sein“, antwortete Gerlach.

„Die Typen da sehen aus, als wären sie von al-Shabaab“, warf ich ein.

„Piraten“, sagte Gerlach verärgert. „Piraten sind keine Moslems! Wer in einer Moschee Geiseln hält, entweiht die Moschee!“

Wir passierten inmitten von Sand und dürren Sträuchern die ersten niedrigen Hütten am Stadtrand von Hobyo. Etwas weiter sahen wir eine Villa, umgeben von hohen Mauern. Über dem Eingangstor thronte weithin sichtbar das Gipsmodell eines Geländewagens, angemalt mit leuchtenden Pastellfarben. „Land Cruiser“, stand darunter. Wer es unter den Piraten zu etwas bringt, so das landläufige Versprechen, dem winken Luxusautos und Wohlstand. Wer durch dieses Tor eintritt, so die Botschaft des Hausherrn, kommt diesem Versprechen einen guten Schritt näher.

„Das Haus gehört tatsächlich einem berühmten Piraten“, bestätigte Gerlach meinen Verdacht.

„Wie heißt er?“, fragte ich nach.

„Was weiß ich“, murmelte Gerlach nur.

Wir fuhren durch die Stadt und erreichten schließlich einen breiten Strandabschnitt. Direkt am Wasser lagen große Boote mit hochgeklappten doppelten Außenbordmotoren im Sand. Es war der Hafen der Stadt, wenn man so will.

Wir hielten nahe einer natürlichen Buhne aus schwarzem Fels und unsere Leibwächter sicherten für uns den Strand. Hamid erklärte uns, dass die Sa’ads den Küstenabschnitt vor uns gern in einen Hafen verwandeln wollten. Die felsige Buhne hier, schwärmte er, wäre eine ideale Pier, die erste für die Region Galmudug.

Auf den ersten Blick allerdings überzeugten uns seine Pläne nicht. Zu wild brachen sich die Wellen an den scharfkantigen Felsen. Die Gischt spritzte uns ins Gesicht.

Hobyo wirkte verlassen und unsere Leibwächter blickten angespannt umher.

„Hast du das Schiff dort gesehen?“, fragte mich Hamid.

Er deutete in Richtung Wasser auf ein Wrack, das dort gekentert auf der Seite lag.

„Ein chinesischer Fischkutter“, sagte er. „2010 haben ihn die Piraten gekapert. Seitdem liegt er hier.“

„Und die Geiseln?“

„Sind irgendwo in Hobyo. Vielleicht sogar in der Moschee.“

Also lebten hier in Hobyo Geiseln, irgendwo, verborgen vor unseren Augen.

„Ein Chinese hat sich umgebracht“, erzählte Hamid.

„Wie lange sind die schon gefangen?“

„15 Monate, vielleicht mehr.“

In der Hoffnung auf riesige Lösegeldzahlungen hielten die Piraten ihre Geiseln immer länger gefangen. Doch gehörten die Mannschaften auf den Schiffen meist einer namen- und rechtlosen Klasse Mensch an.

„Den Chinesen sind ihre Geiseln egal“, sagte Ashwin resigniert. „Die lassen ihre Leute lieber hier verrecken. Die bezahlen keine Lösegelder.“

Digsi bahnte sich trotz seines weiten Gewands geschickt seinen Weg auf die Felsen und zeigte mit einer ausladenden Geste von einem Ende des Horizonts zum anderen. Auf Somali machte er uns darauf aufmerksam, dass kaum mehr ein Schiff zu sehen war. „Früher“, so erzählte er, „lag hier ein gekapertes Schiff neben dem anderen. Heute ist hier nichts mehr.“

Noch 2011 hatte ein deutsches Fernsehteam an der Küste Galmudugs die Reihen der gekaperten Schiffe filmen können. Die Strände der Region glichen dem Hafen von Amsterdam, hieß es damals in dem Bericht. Digsi war ganz offensichtlich stolz darauf, dass bei unserem Besuch so wenig von Somalias Piraterie zu sehen war.

„Nur das chinesische Wrack hier“, sagte ich.

„Mehr aber nicht“, gab Hamid zurück.

Unsere Leibwächter stießen einen Warnruf aus. Wir sollten zu den Autos zurückkehren.

„Wir werden von Piraten beobachtet“, erklärte Hamid.

Inzwischen waren zwei Autos aus Hobyo zu uns herübergefahren. Von einer Düne aus wurden wir beobachtet. Plötzlich hörten wir das Peitschen von Gewehrsalven. Ich versuchte, mich irgendwo am Strand in Sicherheit zu bringen, bis mich jemand packte und in ein Auto verfrachtete. Mir wurde flau im Magen.

Ashwin, Hamid, Gerlach und ich zwängten uns in einen Land Rover und ich hörte Ashwin sagen: „Die haben nicht auf uns geschossen. Ich kann das hören. Glaube mir, ich hab schon oft Gewehrfeuer gehört. Die haben in die Luft geschossen.“

Ich war unsicher.

„Das klang wie ein Feuerwerk“, meinte Ashwin. „Wenn es so klingt, dann wollen sie einen nur warnen.“

„Wovor?“ Ich hatte einen Kloß im Hals.

„Sie glauben, wir sind hier, um Geiseln zu befreien“, sagte Gerlach. „Die glauben, wir gehören zur Operation Atalanta“, das Marinekommando der EU vor der Küste Somalias. „Wir haben ihnen zu erklären versucht, dass wir nur Journalisten sind, dass wir eine friedliche Lösung suchen – auch wenn unsere Leibwächter uns natürlich verteidigen.“

„Okay“, sagte ich.

Unsere Leibwächter gingen angespannt am Strand auf und ab, das Gewehr fest in der Hand. Es war nicht zu erkennen, wer genau mit unseren Angreifern „eine friedliche Lösung suchte“. Keiner schien zu telefonieren. Nach ein paar Minuten jedoch entspannte sich die Lage und wir stiegen zurück in unsere Autos.

„Wir dürfen den Strand verlassen“, sagte Gerlach.

Wir fuhren im Konvoi durch die Außenbezirke von Hobyo, vorbei an Sandhügeln und verwitterten Zaunpfählen. Wir kamen bis auf ein paar Meter an den chinesischen Fischkutter heran. Das Boot war in der Dünung zur Seite gekippt, der Kiel leuchtete noch hellblau, war aber bereits mit zahllosen rostbraunen Stellen durchsetzt. Auf Ashwins Filmaufnahmen konnten wir am Rumpf den Namen erkennen: „SHIUH FU 1“, stand dort in lateinischen und chinesischen Buchstaben.

Am Stadtrand bogen wir schließlich in eine schmale Straße ein. Ein kräftiger Mann mit dunkelschwarzer Haut wartete dort bereits auf uns. Er trug einen auffälligen Turban und einen Sarong. Digsi stieg aus und gab ihm die Hand.

„Ein echter Verbrecher“, murmelte Gerlach. „Er gehört zu einem anderen Teil des Sa’ad-Klans. Wir sind hier zum Essen eingeladen.“ Der Sa’ad-Klan teilt sich in viele kleine Untergruppen auf. Digsi gehörte zu den Ali Nimaale, während in Hobyo überwiegend die Gruppe der Ahmed Nimaale zu Hause war – eine Gruppe mit engen Verbindungen ins Piratengeschäft.

Wir fanden uns in einem stickigen, mit goldbestickten Sofas vollgestellten Raum wieder. Das Zimmer war offenbar eigens für uns vorbereitet worden. Auf einem niedrigen Tisch standen etwas Wasser und billiger Mangosaft. Auf den Sofas hatte jemand gleichmäßig Papierflaggen in den somalischen Farben verteilt. Mir wurde mit einem Mal der Ernst meiner Lage bewusst: Ich war hier gefangen, sollte mir hier etwas zustoßen, nichts und niemand könnte mir zu Hilfe kommen. Wir nahmen die Flaggen von der Couch und setzten uns. Fliegen surrten durch die heiße, feuchte Luft.

Unser Gastgeber stellte sich uns als Abduelle vor. Auch er behauptete, Bürgermeister von Hobyo zu sein. Mohamud Awale, der sich uns zuvor in Galkayo als Hobyos Bürgermeister vorgestellt hatte, war nicht im Raum und konnte ihm also den Titel nicht streitig machen. Mit ausladenden Gesten und rauer Stimme setzte Abduelle nun zu einer Rede an. Gerlach übersetzte für uns ins Deutsche: Er begrüße seine Klanbrüder und die Gäste aus dem Ausland. Dringend sei er im Kampf gegen die Piraterie auf die Hilfe der ausländischen Mächte angewiesen, er brauche mehr Waffen und logistische Unterstützung. Außerdem brauche es eine bessere Abstimmung zwischen den Atalanta-Einsatzkräften der EU und seinen Leuten. Kaum jemand in Somalia glaubte, dass der EU-Einsatz sonst zu einem Erfolg führen könne.

Ganz offenbar spielte Hobyos Bürgermeister hier auf die Überzeugung vieler Somalis an, dass die EU mit ihrem Einsatz nur die aus somalischer Sicht illegalen Fischzüge der europäischen Fischereiflotten vor dem Horn von Afrika schützen wollte.

Ich kannte den Konflikt nur zu gut und hatte als Journalist schon häufiger darüber berichtet. Allerdings konnte mir bisher noch niemand eindeutige Beweise für die Anschuldigung der Somalis liefern. Auch meine Bitten an Präsident Alin um Fotos oder andere Dokumente, die das illegale Treiben europäischer Fischereiflotten stichhaltig beweisen konnten, waren gar nicht oder nur ausweichend beantwortet worden.

„Die wissen doch, dass wir nicht von Atalanta kommen?“, fragte ich Gerlach.

„Das hab ich ihm so gesagt!“

„Wir brauchen dringend Hilfe“, fuhr Abduelle fort, „militärisch und wirtschaftlich. Der Tsunami 2004 hat unsere Lebensgrundlagen zerstört.“

Das Beben im Indischen Ozean hatte tatsächlich weite Teile der somalischen Küste überflutet, hatte Häuser und Fischkutter weg- und stattdessen Fässer voller hochtoxischem Müll an die Strände gespült, die Müllschiffe der italienischen Mafia in den Jahren zuvor regelmäßig vor der somalischen Küste verklappt hatten.

„Wir werden Ihre Botschaft weitergeben“, versicherte ich dem Bürgermeister und versuchte über Gerlach herauszubekommen, warum sich in Hobyo zwei Männer um den Job des Bürgermeisters stritten.

„Abduelle ist kein offizieller Bürgermeister, die Regierung unterstützt ihn nicht“, erklärte mir Gerlach. „Allerdings wird er von den Klans hier in Hobyo unterstützt, vor allem von den Piraten.“

„Und wo ist unser Bürgermeister, Mohamud Awale?“, fragte ich noch.

„Er lässt sich mit dem Auto durch die Stadt fahren, damit ihn möglichst viele Leute sehen können. Zum Mittagessen will er wieder hier sein.“

Als Mohamud Awale schließlich auftauchte, wirkte er unbeholfen und unsicher, ganz im Gegensatz zu dem großspurig auftretenden Abduelle. Zu Mittag gab es Berge von Spaghetti mit Makrele und Kamelfleisch. Dazu wurde stark gesüßter Tee gereicht. Die Fliegen waren kaum von unserem Essen zu vertreiben, bei jedem Bissen schwirrten sie um unsere Lippen. Mit fettigen Händen versuchten wir sie zu verscheuchen – einige von uns nahmen selbst die Papierflaggen zu Hilfe. Eine Fliege schaffte es am Ende, auf meinem Augapfel zu landen. Es schien, als wären Hobyos Fliegen genauso ausgehungert wie die Bewohner der Stadt.

Gerlach und Digsi hatten mir versprochen, dass ich nachmittags mit einem Piraten sprechen könnte. Während wir nach dem Essen herumsaßen, die Fliegen vertrieben und warteten, nannte mir Mohamud Awale den Namen des Piratenbosses, an dessen Anwesen mit dem Land-Cruiser-Gipsmodell wir vormittags vorbeigefahren waren.

Er hieß Fatxi. Und Fatxi war es auch, der seinerzeit die Entführung der SHIUH FU 1 geplant hatte.

Den Namen des Piraten jedoch, den wir an diesem Nachmittag erwarteten, konnte mir Awale nicht sagen. Es sollte noch eine geschlagene Stunde dauern, bis er schließlich durch die Tür des Wohnzimmers trat. Seine schlaksigen Beine steckten in einer sandfarbenen Uniformhose, sein Hemd war bräunlich, um den Kopf hatte er ein rot kariertes Palästinensertuch gewickelt. Es bedeckte fast sein gesamtes Gesicht, sodass wir nur seine rot unterlaufenen Augen sehen konnten. Er stellte sich uns als Mustaf Mohammed Scheich vor. Ashwin richtete schnell seine Kamera ein und wir begannen unser Interview. Mustaf Mohammed gab ohne Umschweife zu, dass er sich im Krieg mit dem Westen sah. Die Weißen hätten mit ihren Fischzügen und dem Giftmüll die Korallenriffe zerstört. „Wenn ihr Weißen aufhört, unseren Fisch zu stehlen und euren Müll vor unserer Küste zu versenken, dann verschwindet das Problem mit den Piraten von ganz allein!“, verkündete er.

Viele seiner Anschuldigungen entsprachen den Tatsachen. Allerdings war derartiger politischer Aktivismus unter den Piraten meist nur ein Vorwand. Seit jeher rechtfertigten Freibeuter ihr Geschäft mit den sozialen und politischen Missständen ihrer Zeit. Der Pirat Klaus Störtebeker beispielsweise nannte am Ende des 14. Jahrhunderts seine Mannschaft „Likedeeler“. Ein Hinweis darauf, dass sie die Beute, die sie den Schiffen in der Nord- und Ostsee raubten, zu gleichen Teilen unter sich verteilten. An Bord seines Schiffes herrschten im Vergleich zum menschenverachtenden Regiment auf anderen europäischen Schiffen dieser Zeit flache Hierarchien und echter Mannschaftsgeist. Auch seine Zeit kannte zahlreiche soziale Missstände und jeder Widerstand dagegen scheint aus heutiger Sicht gerechtfertigt. Allerdings hielt ihr gerechter Anspruch die Piraten des 14. Jahrhunderts keineswegs von Mord und Vergewaltigung ab.

Über 700 Matrosen saßen zum Zeitpunkt unseres Interviews in Hobyo unter unmenschlichen Bedingungen in den Kerkern von Piraten. Menschen aus ärmsten Verhältnissen, aus Indien, Bangladesch, dem Iran, aus Sri Lanka, Thailand, dem Jemen und von den Philippinen. Auch die von den Entführungen betroffenen Reedereien hatten nur selten etwas mit dem Westen zu tun. Sie saßen überall auf der Welt; in Dänemark oder Griechenland genauso wie in Liberia, Malaysia oder China. Mustaf Mohammeds Kreuzzug gegen den Westen schien uns zumindest nicht sein einziges Motiv. Somalische Piraten nahmen einfach das, was ihnen vor die Nase kam.

„Können Sie schwimmen?“, fragte Ashwin den Piraten. „Ja“, übersetzte Gerlach die Antwort.

„Damit sind Sie doch wohl eher eine Ausnahme oder?“, fragte Ashwin weiter.

„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte der Pirat zurück. „Jeder bei uns muss schwimmen können, das ist lebenswichtig!“

Im Hamburger Piratenprozess hatte ich noch etwas anderes gehört und davon auch Ashwin erzählt. Ein holländischer Kapitän berichtete damals dem Richter von einer Verhaftung auf hoher See. Ein junger Pirat war in Panik über die Reling ins Wasser gesprungen.

„Und, konnte er schwimmen?“, hatte der Richter gefragt.

Die meisten Piraten könnten nicht schwimmen, hatte daraufhin der Kapitän geantwortet. Es war eine der wenigen Aussagen in dem zähen und langwierigen Prozess, die mir im Gedächtnis geblieben ist.

Mustaf Mohammed dagegen war von den Schwimmkünsten seiner Leute überzeugt: „Die meisten Leute wissen gar nicht, was einen echten Piraten ausmacht. Der Mut, die Geschicklichkeit, mit der er über die Leitern und Taue auf die Frachtschiffe klettert“, zählte er für uns auf, „ein starker Wille, das ist es, was einen Piraten ausmacht.“

Wir nickten nur und ich stellte die nächste Frage.

„Angenommen, man würde entlang der Küste Hafenanlagen einrichten, glauben Sie, dass man damit der Wirtschaft in Somalia auf die Beine helfen könnte? Angenommen, das brächte Jobs für Ihre Leute, gäbe es dann weniger Piraterie?“

„Nein, erst wenn ihr aufhört, unsere Gewässer leer zu fischen oder mit euren Giftfässern zu verpesten, dann können wir über weniger Piraten reden.“

„Wie sind Sie selbst Pirat geworden?“, fragte ich ihn.

„Jemand hat mein Fischerboot versenkt“, erzählte er. „Meinen Bruder haben sie umgebracht, unsere Ausrüstung, die Netze, alles zerstört. Damit hat alles angefangen.“

„Wann war das?“

„Vor zehn Jahren ungefähr.“

„Wer hat das gemacht?“

„Die Dänen. Ein dänisches Schiff, ein Fischkutter.“

Die Sonne draußen vor den Fenstern heizte unser Zimmer immer weiter auf. Die Fliegen schwirrten um die Reste unseres Mittagessens. Hinter seinem Palästinensertuch schaute der Pirat nervös um sich, bevor er mich mit seinem unsteten Blick fixierte.

„Eine letzte Frage“, sagte Ashwin. „Entführen Sie auch Leute an Land?“

„Nein“, antwortete Scheich Mohammed, „wir entführen keine Unschuldigen. Was würde uns sonst davon abhalten, euch zu entführen?“

Das Interview war zu Ende. Mustaf Mohammed Scheich stand auf und ging, so wie er gekommen war, umwölkt von unheilschwangerer Selbstgefälligkeit. Während des ganzen Interviews hatte einer der Ältesten neben ihm gesessen und ihm ins Ohr geflüstert. Ganz so, als hätte er ihm die richtigen Antworten vorgesagt. Sobald der Pirat aus dem Raum war, fragte Ashwin den alten Mann, was das zu bedeuten hatte. Doch der schüttelte nur den Kopf.

„Er sagt, er habe kein Wort zu dem Piraten gesagt“, übersetzte Gerlach.

Abduelle überreichte den Ältesten aus Galkayo die Rechnung für unser Mittagessen. Schnell und lautlos wie die Grinsekatze aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland machte er sich danach aus dem Staub. Digsi, der mit dem Rücken an die Couch gelehnt auf dem Boden kauerte, gab die Rechnung mit der ganzen Würde seines Alters an einen unserer Begleiter weiter. Nur die Miene verriet sein ungläubiges Staunen. Der Zettel machte schließlich die Runde im Zimmer. Offenbar versuchten die Sa’ads in Hobyo, Gerlach und seine Klanbrüder aus Galkayo bloßzustellen. 620 Dollar verlangten sie für unsere Bewirtung.

Ein stolzer Preis, selbst außerhalb von Somalia. Ashwin und ich hatten Gerlach bereits Tausende Dollar für die Organisation der zwei Wochen in Somalia bezahlt, doch wussten wir, dass jeder Streit über Geld unsere Entführung zur Folge haben könnte. Entsprechend wachsam verfolgten wir die Auseinandersetzung, die sich allmählich, wenn auch ohne erkennbares Ergebnis, zu beruhigen schien.

Aus Sicherheitsgründen hatte man uns geraten, mit unserer Abfahrt noch etwas zu warten. Und so saßen wir von Fliegen umschwirrt in dem heißen und stickigen Raum fest, bis wir schließlich am späten Nachmittag in unsere Autos einsteigen durften. Wir verließen Hobyo in nördliche Richtung über die Pirate Road. Wir wollten später in Idaan übernachten, einem anderen Küstenort, wo Digsi mit den Sa’ads einen weiteren Hafen plante.

Nach Sonnenuntergang rumpelten unsere Geländewagen über eine Piste aus getrocknetem Schlamm. Wir bremsten und unser Fahrer griff zum Handy. Zwischen den Büschen am Rande eines Felsgrats tauchten plötzlich die Lichtkegel von Taschenlampen auf. Drei Somalis lotsten uns über einen schmalen Weg zwischen den Felsen zu einem Lager am Strand.

Wir waren in Idaan angekommen. Wir stiegen aus, nahmen unsere Reisetaschen und versuchten es uns unter einem runden Strohdach, das von einem einzigen kräftigen Balken in der Mitte gestützt wurde, bequem zu machen. Gerlach ließ sich auf einen Plastikstuhl fallen und zündete sich eine Zigarette an. „Hier würde ich gern für immer bleiben“, sagte er voller Wehmut. „Oben auf der Klippe gibt es eine alte Dosenfabrik. Hamid und ich wollten sie eigentlich kaufen. Wenn hier mal wieder Ordnung herrscht, könnte man dort oben eine Wasseraufbereitungsanlage einrichten. Wasser in Flaschen wird in Somalia immer gebraucht.“ Gerlach seufzte: „Wenn ich mal in Rente gehe, möchte ich hier leben.“

Uns allen war selbst im Dunkeln bereits der Reiz dieser Gegend aufgefallen. Der Ort war ruhig und unberührt, wenn auch etwas wüst und unheimlich.

Eine junge Frau in einem weiten Kleid sperrte uns die Tür zu einem kleinen Laden auf, nicht größer als ein Wandschrank, vollgepackt mit Getränken und kleinen Snacks. Unsere Leibwächter stellten sich an, um Zigaretten zu kaufen. Sie kannten den Ort. Vor unserem Unterstand gab ihnen ihr Chef mit leiser Stimme Anweisungen für die Nacht. Er hieß Nuur, war um die 40 und trug ein Hemd mit offenem Kragen. Mitten im somalischen Busch war hier auf einmal etwas Heimatliches und Vertrautes. Mit seiner tiefen Stimme, seinem kritischen Blick, seinem struppigen Bart und der Zigarette, die ständig in seinem Mund mit der großen Zahnlücke hing, ähnelte er stark einem Freund meiner Eltern: Denis Lyon, dem Vater von Sonja, meiner großen Liebe aus Kindergartenzeiten. Und so verbrachte ich den ganzen Abend mit Erinnerungen an meine amerikanische Kindheit. Denis war ein hartgesottener, cleverer Ingenieur, ein geradliniger Typ, Mitarbeiter bei Lockheed wie mein Vater. Wir Kinder mochten und respektierten ihn gerade wegen seiner warmherzigen Strenge. Als mein Vater nicht mehr da war, wurde er für mich eine Art Ersatzvater. Er war einer der wenigen aus der Generation meines Vaters, der mich noch als Kind gekannt hatte.

Über Idaan ging die Morgensonne auf. Der Ort lag in einer weiten Bucht. In einem Bett aus Sandstein mündete ein Fluss ins Meer. Die Hirten der Nomadenstämme ringsum brachten ihre Ziegen- und Kamelherden hierher zur Tränke. Wir spazierten mit Gerlach den Strand entlang und stießen recht bald auf einen gelben Quader im Sand, einen Container für Industrieabfälle mit fast zweieinhalb Metern Seitenlänge.

„Den hat der Tsunami angespült“, sagte Gerlach. „Die Leute kriegen den hier nicht weg, er ist viel zu schwer.“

„Woher kommt der?“, fragte ich ihn.

„Wenn wir das wüssten!“

Mich erinnerte der Container an die Container für radioaktive Abfälle, die ich auf Fotos gesehen hatte. Italienische Journalisten hatten bereits die Müllgeschäfte der italienischen ’Ndrangheta-Klans mit den somalischen Warlords öffentlich gemacht. In den 90er-Jahren hatten die Somalis den Mafiafamilien erlaubt, Tonne um Tonne giftigen Industriemülls in Somalia zu vergraben oder vor der Küste zu verklappen. Der Container in Idaan konnte gut aus derartigen Geschäften stammen. Ob der Giftmüll am Strand wohl Gerlachs geplanten Trinkwasserbrunnen am Ort im Wege stand?

Später am Morgen brachen wir auf in Richtung Norden. Digsi fuhr mit seinem Land Rover ein gutes Stück voraus. Rings um uns gab es nichts als dürres, verbranntes Land. Erst nach einer Weile bemerkte ich, dass wir nicht mehr wie geplant Richtung Westen, Richtung Galkayo fuhren.

„Wohin fahren wir?“, fragte ich Gerlach.

„Nach Garacad.“

Garacad war eine weitere Piratenhochburg etwas weiter nördlich an der Küste.

„Kann Digsi uns dort unterstützen?“, wollte ich wissen.

„Kaum.“

Einer der Piraten aus dem Hamburger Prozess stammte aus Garacad, allerdings hatten wir uns gegen einen Besuch dort entschieden. Gerlach selbst war es, dem der Plan als zu gefährlich erschienen war.

„Was wollen wir da?“, protestierte ich.

„Digsi will euch den Horizont dort zeigen. Er sagt, Ashwin muss ihn filmen.“

Offenbar wollte der Sa’ad-Älteste, dass wir an derselben Stelle filmten wie zuvor unsere deutschen Kollegen. Anscheinend wollte er der Öffentlichkeit beweisen, dass sich vor der Küste in Garacad keineswegs gekaperte Boote drängten wie Schiffe im Hafen von Amsterdam. Digsi wollte der Welt zeigen, dass – anders, als das deutsche Fernsehteam behauptet hatte – sein Klan das Piratenproblem im Griff hatte.

„War das deine Idee?“, fragte ich Ashwin.

„Nein.“

Mir gefiel das alles nicht und wir baten unseren Fahrer, sofort umzukehren. Wir wendeten auf dem hart getrockneten Boden und fuhren westwärts in Richtung Galkayo. Gerlach versuchte Digsi im Auto einige 100 Meter vor uns per Telefon zu erreichen. Als auch er gewendet hatte und über die holprige Piste wieder zu uns gestoßen war, schien der sonst stets freundliche Mann höchst verärgert. Wir mussten anhalten. Mitten im Busch begannen er und Gerlach sich auf Somali zu streiten. Hamid übersetzte für uns, was er von dem Gespräch mitbekam. Digsi fühlte sich in seiner Ehre gekränkt: „Wir lassen uns nicht wie Kinder behandeln!“ Ashwin konnte den Streit durch den Seitenspiegel beobachten.

„Digsi gibt nicht nach“, berichtete er.

Am Ende stieg Gerlach wieder in unser Auto. Er murmelte etwas von „Digsi“, „Analphabet“ und „nachgeben“, hatte aber offenbar den Streit gewonnen. Unsere Karawane setzte sich wieder in Richtung Galkayo in Bewegung.

Die staubigen Straßen von Galkayo erschienen uns nach unseren Erfahrungen in der Wüste beinahe vertraut und liebenswert, jedenfalls weniger bedrohlich und unberechenbar als zuvor. Hamid behauptete, selbst das Gerede über die Entführungspläne des Piratenbosses Garfanji sei verstummt. Dennoch wollten Ashwin und ich so schnell wie möglich das Land verlassen. Nicht zuletzt wegen des Streits mit Digsi.

Die Familien der Piraten aus dem Hamburger Prozess lebten im Norden Galkayos. Ich hatte vor, sie vor meiner Abreise zu besuchen, um ihnen ein paar Fragen zu stellen. Doch wusste ich noch nicht, ob der Besuch für mich sicher war. Unnötige Risiken wollte ich in jedem Fall vermeiden. Und ich wollte um jeden Preis die nächste Maschine nach Nairobi erwischen, während Ashwin weiter nach Mogadischu musste. Sein Flug startete ein paar Tage vor meinem.

„Wie geht’s dir, Mike?“, fragte er mich in unserem Hotelzimmer.

„Besser“, sagte ich.

„Hast du genug Material für einen Artikel?“

Ich bezweifelte das und wollte noch meine Interviews in Nord-Galkayo abwarten.

„Viel ist es nicht“, gab Ashwin zu, „aber manchmal muss man einfach mit dem arbeiten, was da ist.“

„Ich weiß.“

„Wäre es dir lieber, wenn ich mit dir warte, bis dein Flug geht?“, bot er an. „Oder kann ich morgen nach Mogadischu?“

Auf der Straße zum Flughafen waren schon öfters Menschen entführt worden, so wie vor ein paar Monaten die beiden Entwicklungshelfer Jessica Buchanan und Poul Thisted. Sollte ich Ashwin zum Flughafen begleiten, so musste ich das Risiko, auf der Straße gekidnappt zu werden, zweimal eingehen. Ashwin jedoch wollte weiter, er hatte hier nichts mehr zu tun.

Zusammen mit Hamid planten wir die Sicherheitsvorkehrungen. Hamid kannte einen Angestellten der Vereinten Nationen namens Robert, der mit seinen Leuten in Nord-Galkayo für meine Sicherheit sorgen würde. Am Samstag – es war der 21. Januar – sollte ich mit Ashwin zum Flughafen kommen, um Robert zu treffen. Sobald Ashwin im Flieger saß, würde ich unter dem Schutz der Vereinten Nationen zu meinen Recherchen im Norden Galkayos aufbrechen können. Meine Leibwächter würden diesmal nicht aus dem Sa’ad-Klan stammen, sondern von den Darod aus Puntland. Ich war einverstanden. Meine Nervosität legte sich etwas und ich schickte sogar ein paar fröhliche Nachrichten nach Hause: über das Essen, die Wassermelonen und das Wildkamelfleisch.

Am Samstag standen wir sehr früh auf und warteten auf das Auto, das uns zum Flughafen bringen sollte. Unsere vertrauten Leibwächter aus Hobyo sollten uns auf dem Weg begleiten, allerdings tauchten weder Auto noch Leibwächter auf. „Ich mach mir langsam Sorgen“, gestand Gerlach nach einer halben Stunde und rief schließlich Präsident Alin an. Der schickte uns ein Auto mit einem einzigen bewaffneten Leibwächter. Niemand erklärte uns die plötzliche Änderung der Sicherheits- und Transportvorkehrungen. Im ersten Augenblick wollte ich im Hotel bleiben, doch schien mir auch das zu unsicher. Gerlach hatte uns stets eingeschärft, in seiner Nähe zu bleiben: „So werden wir alle gemeinsam gefangen genommen – und wer mich entführt, riskiert einen Bürgerkrieg!“, sprich ein Aufflammen der blutigen Klankämpfe in der Stadt.

Die Straße zum Flughafen Galkayo bestand aus drei steinigen Pisten durch die Wüste, gesäumt von aufgetürmten Felshaufen. Diese traditionellen Sufi-Gräber sollten an die Bewohner Galkayos erinnern, die im Bürgerkrieg ihr Leben lassen mussten.

An der Einfahrt zum Flughafengelände saß ein Somali vor einer rostigen Blechbarriere. Auch wenn man in Somalia recht sorglos mit Waffen umgeht, im Bereich des Flughafens waren sie offiziell verboten. Entsprechend forderte der Wärter unseren Leibwächter auf, ihm sein Gewehr auszuhändigen. Wir seien viel zu früh dran, behauptete er, der Flughafen sei noch gesperrt. Er steckte jedoch bereitwillig den Dollarschein ein, den wir ihm als Schmiergeld hinhielten, und schob das rostige Blech von der Straße. Wir parkten unmittelbar vor dem Terminal.

Inzwischen fielen die ersten Sonnenstrahlen auf die Landebahn. Die weiß gekalkte Flughafenhalle war nicht viel größer als ein Busbahnhof. Sie war tatsächlich versperrt. Nur eine kleine Flughafenbar mit ein paar Plastikstühlen davor machte gerade auf und wir kauften uns ein paar Gläser Tee.

Immer mehr Somalis trafen ein und warteten auf den Plastikstühlen vor der Bar. Hamids Handy klingelte. Robert, der Mann bei den Vereinten Nationen, hatte schlechte Nachrichten für uns.

„Er sagt, sein Sicherheitsdienst hätte heute keine Zeit für uns“, berichtete Hamid.

„Gib mir das Telefon!“

Am anderen Ende der Leitung hörte ich eine angenehme Stimme mit britischem Akzent. Robert klang besorgt und entschuldigte sich. Man hätte Hamid gern den Gefallen getan, aber das Sicherheitsteam der UN würde plötzlich andernorts dringend gebraucht. Unser Einsatz war für Robert offenbar nur eine Gefälligkeit, kein bezahlter Auftrag.

„Den Trip nach Nord-Galkayo kann ich vergessen“, sagte ich zu Hamid. „Mit nur einem Leibwächter mache ich das nicht.“

„Vielleicht sieht’s morgen ja anders aus“, antwortete er.

Ich war erleichtert, dass uns die gefährliche Tour in den Norden vorerst erspart blieb. Allerdings war mir auch nicht ganz wohl bei dem Gedanken, mit nur einem Jeep und einem bewaffneten Leibwächter die Fahrt zurück ins Hotel antreten zu müssen. Doch ich klammerte mich an mein Teeglas und versuchte, das ungute Gefühl in meinem Bauch zu verdrängen.

Hamid fragte mich nach meiner E-Mail-Adresse und ich gab ihm meine Visitenkarte der Spiegel Online-Redaktion. Er nahm sie und las beim Entziffern meinen Namen laut vor. Ein dicker Somali am Nachbartisch drehte sich daraufhin zu uns um.

„Sie sind Michael Scott Moore?“

„Ja.“

„Ich habe Ihr Foto im Internet gesehen“, meinte der Somali. „Sie sind hier berühmt.“

„Das hoffe ich nicht!“, gab ich stirnrunzelnd zurück.

Spätestens jetzt hätte ich Bescheid wissen müssen, die Gerüchteküche Somalias war offenbar selbst kein Gerücht. In diesem Moment jedoch fühlte ich nur ein leises Unbehagen über das merkwürdige Gespräch an der Flughafenbar. Den Augenblick, um noch angemessen reagieren zu können, hatte ich zu diesem Zeitpunkt ohnehin längst verpasst.

Endlich traf das verspätete Flugzeug ein, mit dem Ashwin nach Mogadischu weiterfliegen wollte. Auf einem quadratischen Teerflecken neben der Startbahn verabschiedeten wir uns mit einem Handschlag. Wir stiegen sofort in den Geländewagen des Präsidenten und machten uns auf den Weg zurück ins Hotel. Es war bereits Mittag und die Sonne brannte auf den Steingräbern entlang der Piste. Wir waren jedoch nicht allein unterwegs, denn uns folgten einige andere Wagen. Plötzlich bremste unser Fahrer ab und wandte sich an Gerlach.

„Ein Technical“, übersetzte der. „Wir wissen nur noch nicht, welcher.“

Ich hatte den Pick-up zunächst gar nicht wahrgenommen, jetzt allerdings sah ich das Kriegsgefährt links von uns am Straßenrand stehen. Auf der Ladefläche dösten ein paar Männer neben dem Maschinengewehr.

„Können wir nicht einfach vorbeifahren?“, fragte ich.

„Die gehören zu uns“, beruhigte mich Gerlach.

Und tatsächlich, zu meiner großen Erleichterung konnte ich die Worte „Kibir Jabiye“ auf dem Auto lesen. Doch plötzlich hupte jemand und der Technical fuhr los.

Ich war nicht wegen des Nervenkitzels nach Somalia gekommen, schon gar nicht wollte ich hier sterben. Vor allen Dingen hatte ich stets Angst, diese eine unsichtbare Grenze zu übertreten, vor der sich jeder fürchtet, der in den Kriegsgebieten dieser Welt unterwegs ist: Meine größte Sorge war, dass meine Angehörigen und Freunde mit in den Schlamassel hineingezogen werden könnten.

In diesem Augenblick jedoch hatte ich keine Zeit, mir darüber Sorgen zu machen. Der Technical versperrte uns den Weg und baute sich vor unserem Geländewagen auf. Einige Männer zielten mit dem Gewehr auf unsere Windschutzscheibe. Andere sprangen von der Ladefläche und richteten ihre Waffen auf uns. Und noch immer verstand ich noch nicht ganz, was vor sich ging, oder besser, ich verdrängte es. Es ist erstaunlich, wie unser Gehirn mit Extremsituationen umgeht, wie es mir jetzt trotz äußerster Gefahr eine Normalität vorgaukelte, die längst Vergangenheit war. Ich redete mir ein, wir wären in eine Verkehrskontrolle geraten, und kramte in meinem Rucksack bereits nach meinem deutschen Pass. Kein Problem, dachte ich noch. Erst als die Männer um unser Auto herumliefen und in die Luft schossen, wurde mir meine Lage klar. Panik ergriff mich. Ich beugte mich zu Gerlach hinüber und versuchte mein Gesicht mit meinen Armen zu schützen. Draußen donnerten die Gewehrschüsse. Noch hatten sie mich nicht und ich klammerte mich mit meiner rechten Hand verzweifelt am Griff der Autotür fest. Die Männer rissen sie auf und schlugen immer wieder mit dem Schaft ihrer Kalaschnikow auf mein Handgelenk. Nie zuvor in meinem Leben war ich derartig brutaler Gewalt ausgesetzt gewesen. Trotzdem zog und zerrte ich an meiner Tür. Vielleicht würde das unserem Leibwächter genug Zeit verschaffen, auf den Angriff zu reagieren. Immer mehr Männer droschen nun auf mein Handgelenk ein, ich spürte, wie ein Knochen brach, und ließ den Türgriff los. Man zerrte mich aus dem Auto, warf mich in den Straßenstaub und jemand schlug mir auf den Kopf.

Vielleicht kommt auch der Tod so: tückisch, unvermittelt, als plötzlicher Übergang. Mir fiel auf, dass unser Leibwächter noch keinen einzigen Schuss abgegeben hatte. Offenbar hatte ihn das Maschinengewehr auf dem Technical in Schockstarre versetzt. Ich rief um Hilfe, doch die Männer schlugen mir ungehindert ins Gesicht und zerbrachen dabei meine Brille. Jeder Hilferuf war vergebens. Die Somalis in den Autos hinter uns warteten geduldig ab, eingeschüchtert durch die Gewaltorgie vor ihnen. Die Piraten zerrten an meinen Armen, schleiften mich über den Boden, sodass mein T-Shirt in Fetzen gerissen wurde. Irgendwo hörte ich Gerlach rufen, konnte allerdings nicht sagen, ob ihn die Entführer im Auto festhielten oder ob sie ihn wie mich auf die Straße gezogen hatten. Dass seine Entführung wirklich zu einem Klankrieg führen konnte, schien mir plötzlich unwahrscheinlich. Ich sah nur noch bewaffnete Männer, hörte ihre Rufe in Somali und schluckte den weißen Staub. Ich wehrte mich immer noch. Die Entführer rissen mir den Rucksack aus den Händen und jetzt erst entdeckte ich das Blut auf meinen Kleidern. Vermutlich hatte ich durch den Schlag des Gewehrkolbens auf meinen Kopf eine Platzwunde davongetragen. In meinem Handgelenk pochte der Schmerz, während ich versuchte, die Gesichter der Piraten zu erkennen. Hatten am Ende unsere Leibwächter aus Hobyo die Seiten gewechselt? Doch bei all den Tritten und Schlägen konnte ich niemanden ausmachen, der mir bekannt vorkam.

Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich jene unsichtbare Linie überschritten hatte: Meine Familie wusste zwar noch nichts, aber schon bald würde ich eine schwere Last für sie sein. Diese Erkenntnis traf mich viel schlimmer als die Tritte meiner Entführer, der Schrecken überschwemmte mich wie ein Wolkenbruch, wie Blut und Schweiß. Wenn ich nur die Zeit zurückdrehen könnte.

Meine Entführer packten mich in einen wartenden Land Cruiser und fuhren zu einem Haus am Stadtrand. Jemand gab meinen Rucksack einem groß gewachsenen, furchterregenden Mann, der vor der Einfahrt unruhig auf uns wartete. Er nahm hastig den Rucksack entgegen und schon fuhren wir weiter in Richtung Osten. Mit blutüberströmtem Gesicht und zerrissenen Kleidern saß ich zwischen drei meiner Entführer und ihren Gewehren. Stundenlang holperten wir so durch den Busch.

„Okay, okay“, sagte einer der Männer vorne. „No problem.“

Gnadenlos bretterte der Land Cruiser über Steine und Schlaglöcher, sodass mein Kopf von innen an das Autodach schlug und dort Blutflecken an der Verkleidung hinterließ.

„Fuck!“, schrie ich und zeigte auf die Flecken. Mein gebrochenes Handgelenk versuchte ich auf meinem Schoß möglichst ruhig zu halten.

Außer obszönem Gefluche wollte ich in diesem Augenblick nichts von mir geben.

„Okay, okay“, sagten sie.

Wir werden dich töten

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