Читать книгу Floh und Biene - Michael Siemers - Страница 4

1.Kapitel

Оглавление

"Wie kann sich jemand in so einem Saustall wohlfühlen?", wetterte Frau Becker gegen ihren 15 jährigen Sohn Florian, als sie sich dessen Zimmer betrachtete. Sie, eine sonst ruhige und besonnene Frau, bebte vor Zorn. Seine blauen Augen folgten ihren Blick und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr Recht zu geben. Die Ermahnung, sein Zimmer aufzuräumen, kehrten in regelmäßigen Abständen wieder. Genauso regelmäßig regte sie sich über ihrem Schlendrian von Sohn auf. Wäsche, Hefte, Fahrradteile, Papier, Stifte und Werkzeuge lagen überall dort, wo sich eine Fläche bot. Selbst am Lampenschirm hingen Gürtel und ein Springseil. Die Schranktür stand stets offen, weil sie sich durch die herausquellenden Kartons, Schuhe und Wäschestücke nicht schließen ließ. Auf dem Schreibtisch türmten sich Schrauben, Kabel, Schallplatten und ein auseinandergenommenes Gerät, was ursprünglich mal ein Radio darstellte. Mitten in diesem Chaos stand er seiner Mutter gegenüber und musste sich ihre Standpauke anhören. Das nach hinten zusammengeknotete dunkle Haar ließ sie besonders streng wirken. Die sonst immer freundlichen Augen sprühten und die in die Hüfte gestemmten Fäuste kündigten den Ärger an, den Florian zu erwarten hatte.

"Tag ein Tag aus, immer dasselbe mit dir! Wo du gehst und stehst, hinterlässt du deine Unordnung. Legst Sachen hin und überlässt mir die Drecksarbeit. Aber jetzt ist Schluss. Ein für alle Mal! Wenn du dein Zimmer nicht tipptop in Ordnung bringst, kannst du dir Claudias Geburtstagsparty aus dem Kopf schlagen!"

Wahllos griff sie ein Stück Zeug und schleuderte es in die Ecke.

"Muddelchen ...", versuchte er seine Mutter umzustimmen. So nannte er sie immer, um sich aus heiklen Situationen zu winden. Dieses Mal aber schien es ihr ernst zu sein. Mit erhobenem Zeigefinger baute sie sich vor ihm auf.

"Es hat sich ausgemuddelt!", fuhr sie ihn an, "Räume hier auf oder du bleibst morgen zu Hause."

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Florian stand da und kratzte sich hilflos am Hinterkopf. Die Ansage seiner Mutter war deutlich genug und er musste handeln. Bei dieser Unordnung wusste er gar nicht, wo er anfangen sollte. Von was sollte er sich trennen? Alles wurde gebraucht, irgendwie und irgendwann. Diese Erkenntnis fand er immer dann, wenn er etwas kaufen musste, was er Tage zuvor entsorgte. Gleichgültig hob er ein Heft auf, um es irgendwo wieder abzulegen. Wütend über seine eigene Hilflosigkeit schoss er den schmutzigen Lederball, der mitten im Zimmer lag, gegen die Wand, wo er ein graues Muster hinterließ. Unglücklich prallte er vom Boden und landete daraufhin auf die Fensterbank. Genau auf eine, mit Erde gefüllte Blumenschale, die dumpf zu Boden fiel. Sie hinterließ einen weiteren Dreckhaufen. Nachdenklich setzte er sich auf sein Bett. Auf Claudias Fünfzehnten hatte er sich nicht nur gefreut, sondern auch seelisch darauf vorbereitet. Es sollte eine richtige Party werden, mit Musik und Tanz. Nicht wie die Früheren, wo sie um 18Uhr mit einer Tüte Bonbon nach Hause geschickt wurden, weil das Geburtstagskind ins Bett musste. Dieses Mal sollte es fetzen.

Von der Mutlosigkeit befallen fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar. Vor seinen Füßen lagen gut ein Dutzend Comichefte. Er kannte längst alle Geschichten auswendig und doch las er sie immer wieder. Ordnung, immer wieder Ordnung. Wie er das Wort hasste. Alles senkrecht und waagerecht platziert. Jedes Ding seiner Bestimmung und nichts Unbrauchbares herumliegen lassen. Auch wenn man es mehrmals am Tag brauchte. Es widerte ihn an, ein ordentlicher Junge zu sein zu müssen. Das veranlasste sogar sein Vater zur Vorfreude auf dem für Florian unweigerlich zukommenden Wehrdienst. Wenngleich dieser Wunsch noch ein paar Jahre entfernt war. Dort müsste er sich wohl um gut 180 Grad drehen. Dabei nahm sein Vater die Ordnung selbst nicht so genau. Sein Werkzeugschrank war der beste Beweis: Ein Griff und die Sucherei ging los. Oder der Nähkasten seiner Mutter, dessen Inhalt aussah, als hätte er den letzten Schleudertest hinter sich. Und ausgerechnet er sollte Ordnung halten. Was noch schlimmer war, er wusste nicht einmal für wen. Seine Freunde kannten ihn und der erwachsene Besuch seiner Eltern hatte doch überhaupt keine Veranlassung, sein Zimmer zu betreten. Herr Berger, der sich oft die Mühe machte es seinem Sohn plausibel zu erklären, hielt die Unordnung für ein Virus, der sich verbreitet. Seine These besagt: "Heute lässt man zwei Sachen liegen, morgen sind es dann vier und in einer Woche vierzehn. Am Monatsende würden dann so an die 60 Teile herumliegen, die nicht mal so beiseitegelegt werden konnten."

"Wenn ich wenigstens einen Bruder oder eine Schwester hätte", dachte Florian, "dann könnte ich mir, mit der Abtretung des Taschengeldes, das Problem vom Hals schaffen. Oder was noch besser wäre", fuhr er in Gedanken fort, "ich hätte die Schuld von mir geschoben. Vorausgesetzt, sie wären jünger und dumm genug."

Sein Blick fiel auf das kleine Bild, das auf dem Schreibtisch zwischen leeren Joghurtbecher und Colaflaschen stand. Es zeigte seine gleichaltrige Freundin Sabine, mit der er seit fast einem Jahr zusammen war. Sie hatte dunkelblondes Haar, das auf dem Foto beinahe schwarz war. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, lächelte sie ihn unentwegt an. Er dachte an sie und daran, was sie ihm in zärtlicher Zweisamkeit ins Ohr gehaucht hatte: dass sie alles für ihn tun würde. Ihm offenbarte sich die Lösung für sein Problem. Mit langen Schritten stieg er über das Gerümpel hinaus auf den Flur zum Telefon. Seine Mutter stand am Kücheneingang und hörte das Gespräch mit. Nach einer kurzen Einleitung, wie es Sabine ging und was sie gerade tat, kam Florian schnell auf den Punkt. Von Problembeseitigung, Freundschaftsdienst und indirekte Androhung, sie nicht zur Party begleiten zu können, war die Rede. So entlockte er nicht nur ihr Einverständnis, sondern das Kommen auf dem schnellsten Wege. Zufrieden legte er den Hörer auf und sah seine Mutter an.

"Was?", fragte Florian scheinheilig.

"Schämst du dich nicht, das arme Mädchen so auszunutzen?", fragte sie vorwurfsvoll.

"Wieso?", fragte er heuchlerisch, "Ich habe ihrer Mutter auch schon mal die Mülltüte rausgebracht und den Einkauf hochgetragen."

Sprachlos über diesen Vergleich schüttelte sie den Kopf und sagte: "Ich hätte dir was gehustet, wenn ich Sabine wäre."

Florian hob gleichgültig die Schulter und erwiderte: "Wo die Liebe eben hinfällt. Du hast für Papa ja auch alles getan.“

"Wer sagt das?"

"Oma, außerdem hat Biene den totalen Durchblick. Sie ist eine Fachfrau in Sachen Aufräumen", rechtfertigte sich Florian lächelnd. Es klingelte an der Haustür.

"Versaue mir jetzt bloß nicht die Tour", flüsterte er und drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich für die unflätige Mahnung aufregen konnte. Mit honigfreundlicher Miene öffnete er die Tür. Draußen stand Sabine, bekleidet mit Jeans, Turnschuhe und gelben Pulli. Das sonst sorgfältig gekämmte Haar war vom Wind zerzaust und sie hatte ein gerötetes Gesicht. Offensichtlich war sie gelaufen. Pustend strich sie ihr Haar hinter das Ohr und trat ein. Ein flüchtiges "Hallo" für Florian und ein freundliches "Guten Tag" für Frau Becker, und schon stand sie in seinem Zimmer. Er musste so schnell handeln, bevor seine Mutter Sabine mit nachteiligen Bemerkungen umstimmte. Alle Freundlichkeit verflog in Bruchteil einer Sekunde, als sie sich umsah.

"Also ehrlich Floh, du bist unmöglich!", erboste sie sich, "Ich habe das Gefühl, du hast mich nur deswegen angerufen."

"Wo denkst du hin!", wehrte Florian entrüstet ab. Auf ihr ungläubiges Gesicht hin gab er klein bei: "Naja, ein bisschen schon. Ich weiß nämlich nicht, wo ich anfangen soll."

"Ein richtiger Schweinestall ist das hier!", fluchte Sabine und zog die Stirn kraus, "Vor sechs Wochen hatten wir alles so schön sauber gemacht und jetzt sieht es hier aus, wie bei Hempels! Hier braucht man ja einen Bulldozer statt Schaufel und Besen!"

Wahllos hob sie eine Jeans auf und warf sie Florian an die Brust, die er hastig fing.

"So etwas gehört in den Schrank und nicht auf dem Fußboden!", schimpfte sie. Mit dem Fuß trat sie gegen ein völlig verwickeltes Kabel und fragte: "Ist das hier eine Werkstatt oder was?"

"Bloß nicht anecken", dachte Florian bei sich, "die bringt es fertig und kratzt die Kurve, bevor überhaupt ein Handschlag getan wird."

Natürlich gab er ihr Recht. Sie hätte tausend Kommentare abgeben können, und er hätte bereitwillig allem zugestimmt. Sabine schüttelte verständnislos den Kopf. Dabei kaute sie nachdenklich auf ihre Unterlippe. Das betrachtete Florian wiederum als sehr gutes Zeichen. Sie schien sich tatsächlich Gedanken darüber zu machen, diesem Chaos Herr zu werden. Noch waren ihre Lippen zusammengezogen. Erst als diese sich entspannten und sich ein wenig Freundlichkeit auftat, wagte Florian zu fragen.

"Wo fangen wir an?"

Sabine sah zu ihm auf, überlegte und ließ ein entkrampftes Lächeln über ihre Lippen gleiten. Sich entspannend trat näher an ihm heran.

"Am besten du gibst mir einen Kuss", sagte sie und schlang ihre Arme um seine Hüften. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Für Sekunden vergaßen sie die Welt um sich herum. Sie genoss es, wenn er seine Hände durch ihr Haar und am Rücken gleiten ließ. Als sie aber seine Hand unter ihren Pulli spürte, stieß sie ihn von sich und blickte besorgt zur Tür.

"Lass das, wenn deine Mutter hereinkommt! ", wies sie ihn zurecht und ordnete hastig ihren Pulli. Damit landeten sie wieder auf den Boden der Tatsachen beziehungsweise der Unordnung. Beide begannen, einen regelrechten Schlachtplan auszuarbeiten. Alles musste an diesem Freitagnachmittag über die Bühne gehen. Den Sonnabend brauchte Sabine, um sich für die Party vorzubereiten. Sie musste noch ein Geschenk kaufen und Claudia beim Schmücken des Zimmers helfen. Florian hatte ein wichtiges Fußballspiel und war für den morgigen Tag unabkömmlich.

Gemeinsam machten sie sich daran, dem Zimmerchaos ein Ende zu bereiten. Alles, was nicht gebraucht wurde, kam in einen Karton und Unbrauchbares verschwand in große blaue Mülltüten, die Frau Becker dafür besorgt hatte. Florian wurde von Sabine in einer regelrechten Nebenrolle gedrängt. Seine größte Aufmerksamkeit bestand darin, all seinen Kleinkram vor der Mülltüte zu bewahren. Ständig angelte er sich klammheimlich etwas heraus und legte es irgendwo wieder ab. So kam es, dass Sabine einige Dinge zwei, drei Mal wegwerfen musste, bis er nachgab. Seine Hosentaschen waren zum Platzen gefüllt und er wusste mit dem geretteten Zeug nicht mehr wohin. Die Mülltüten und der Karton reichten bei Weitem nicht aus und seine Mutter musste für Nachschub sorgen. Sie wollte den Tatendrang der beiden auf keinem Fall unterbrechen. Sabine war ein Wirbelwind in Sachen Aufräumen. Florian folgte ihren Anweisungen und führte die Handlangerarbeiten aus. Unermüdlich räumte, packte und wischte sie im Zimmer herum. Ihre abfälligen Bemerkungen über sich ergehen lassend, hielt er lammfromm die Mülltüte auf und schleppte sie hinter ihr her.

Gegen 17 Uhr kam Florians Vater von der Arbeit. Herr Becker war die Ruhe selbst und auch ein Sohn, wie Florian, konnte ihn nicht aus der Fassung bringen. Seine füllige Figur strahlte eine gewisse Gemütlichkeit aus. Das blonde gewellte Haar, was modisch die Ohren bedeckte, ließen ihn um einige Jahre jünger wirken. Nach einer flüchtigen Begrüßung seiner Frau bemerkte er die drei Mülltüten im Flur und fragte erstaunt: "Nanu, zieht er aus?"

"Er mistet mal wieder aus", erklärte Frau Becker tonlos, als wäre es das tausendste Mal. Anerkennend schob er die Unterlippe vor und fragte scherzhaft: "Von sich aus? Er wird doch wohl nicht krank sein?"

"Kein ordentliches Zimmer, keine Party. So einfach ist das", triumphierte seine Frau mit einem Siegeslächeln.

Neugierig öffnete Herr Becker die Kinderzimmertür. Florian stellte gerade ein paar Bücher ins Regal und Sabine wischte die Fensterbank. Wegen der nassen Hände reichte sie ihm nur das Handgelenk, wobei er sich verwundert umsah.

"Wusste gar nicht, dass du ein so großes Zimmer hast."

Florian reagierte darauf, als wäre es ein aufgewärmter Witz. Sabine schmunzelte amüsiert. Dabei nahm sie zwei Blumentöpfe von der Fensterbank, aus denen jeweils ein dünner brauner Stängel ragte und meinte: "Die haben wohl auch die letzte Regenperiode verschlafen."

"Sollten mal Weintrauben werden", sagte Florian mit verklärter Miene und warf die Töpfe in die Mülltüte.

"Sehen eher aus wie Rosinenbäumchen!", lachte Herr Becker und blinzelte Sabine zu. Dann ließ er sie wieder alleine.

"Dein Vater hat ja ein ruhiges Gemüt", sagte Sabine, "Ich hätte dir die Hammelbeine lang gezogen, wenn du mein Sohn wärst."

"Bin ich aber nicht. Außerdem übernimmt meine Mutter diesen Part, wie du bemerkt hast. Mein Vater ist da recht geschmeidig."

Beide setzten ihre Arbeit fort und die neue Ordnung in seinem Zimmer nahm immer mehr Form an. Zum Schluss saugte Sabine noch einmal alles durch und Florian wich dieser Höllenmaschine, wie er sie nannte, so gut es ging aus.

Nach gut einer Stunde waren sie fertig und setzten sich erleichtert auf sein Bett. Sie hielten sich an den Händen.

"Die bringe ich gleich raus", sagte Florian, als er Sabines Blick bemerkte, der auf die Mülltüten gerichtet war.

„Die bringen wir zusammen zum Müll“, sagte Sabine bestimmend.

„Das brauchst du nicht. Ich denke, du hast schon genug getan, “wehrte Florian ab. Sabine hob die Augenbrauen und lächelte mitleidig.

„Ich bringe die Tüten deshalb mit zum Müllcontainer, damit du nicht die Hälfte wieder herausangelst.“

Sie kannte ihn und hatte es mehr als einmal erlebt, dass Gegenstände auftauchten, die sie zuvor entsorgt hatte.

Erschöpft lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter und sagte: "Jetzt bemühe dich aber mal für etwas mehr Ordnung. Ich habe nämlich keine Lust, ständig deinen Dreck wegzuräumen.“

"Versprochen", entgegnete Florian, wobei er ihr einige Dankesküsschen gab, die sie mit geschlossenen Augen entgegen nahm.

“Ich muss auch los", stellte Sabine fest, als sie auf die Uhr sah.

"Bleibe doch noch ein bisschen. Kannst doch bei uns essen", schlug er ihr vor. Unschlüssig wiegte sie ihren Kopf und antwortete: "Ich möchte nicht, dass deine Mutter sich meinetwegen Umstände macht."

Seinen Eltern gegenüber, wie auch anderen Erwachsenen, war Sabine noch immer recht schüchtern und zurückhaltend. Gerade das schätzten sie an ihr.

Florian stand auf, öffnete seine Zimmertür und fragte lautstark: "Sabine fragt, wann es endlich was zu Essen gibt?"

Sabine wäre vor lauter Scham am liebsten in den Erdboden versunken. Sie lief knallrot an und schimpfte: "Höre auf damit Floh, was soll deine Mutter von mir denken?"

Frau Becker dachte sich natürlich nichts. Sie kannte ihren Sohn und Sabines Bescheidenheit. Florian machte sich gern einen Spaß daraus, seinen Mitmenschen etwas in den Mund zu legen, die gar nicht so gemeint waren.

"Ist schon gedeckt!“, rief seine Mutter zurück. Nach einem kurzen Telefongespräch setzte Sabine sich zu Florian und seinen Eltern an den Tisch. Obwohl sie schon oft bei ihnen aß, so kam sie nie richtig aus sich heraus. Sie war in den Augen der Eltern immer das brave und wohlerzogene Mädchen. Sie fragten sich mit Recht, wie sie mit ihrem Sohn auskam. Jedes Kind sollte sich eine Scheibe von ihr abschneiden, hieß es, wenn sie das Haus verließ. Alter und Umgang formten aber auch sie still und heimlich um. Besonders ihre Freundin Claudia brachte ihr bei, dass man mit dem Ellenbogen recht gute Erfolge erzielen konnte. Nur Erwachsenen gegenüber traute sich Sabine nicht. Still, mit geschlossenem Mund, zerkaute sie die kleinen Bissen ihres Brotes. Immer darauf bedacht, nicht zu krümeln oder gar versehentlich ein Schmatzgeräusch entweichen zu lassen. Ganz im Gegensatz zu Florian, der sich in gewohnter Manier den Mund so vollstopfte, als hätte er Angst, nicht genug abzubekommen. Als wenn das nicht reichte, präsentierte er seiner Freundin noch einen sogenannten "Tunnelunfall", in dem er kurzfristig den Mund öffnete und das Gekaute präsentierte. Er konnte sich immer wieder darüber amüsieren, wenn sie sich angewidert wegdrehte.

"Zügel deine Essmanieren wenigstens, solange wir einen Gast am Tisch haben!", ermahnte ihn seine Mutter und sah entschuldigend zu Sabine.

"Biene kennt mich doch", wehrte Florian gelassen ab, worauf Sabine schulterzuckend ihre Gleichgültigkeit darüber ausdrückte.

Gleich nach dem Essen nahmen sie sich die Müllsäcke und brachten sie hinaus zum Container. Danach begleitete er seine Freundin nach Hause. Vor der Haustür verweilten sie noch einige Minuten, um sich zu verabschieden. Sabine packte aber schon nach kurzer Zeit die Unruhe.

"Meine Mutter sieht es nicht gerne, wenn wir hier vor der Tür herumlungern. Du kennst sie doch", mahnte sie und sah zum zweiten Stock hinauf, wo im Küchenfenster das Licht brannte. Florian nahm sie zum Abschied noch einmal in die Arme, küsste sie und ließ zögernd los. Eilig schloss sie die Treppenhaustür auf, drehte sich noch einmal um und sagte: "Ich drücke dir für das morgige Spiel beide Daumen, machs gut."

Dann, ihm kurz einen Handkuss zuwerfend, eilte sie die Treppen hinauf.

Auf halben Weg traf Florian Claudias Freund Sven Hübner. Seine füllige Figur wurde durch die Windjacke besonders hervor gehoben. Mit watschelnden Schritten näherte er sich Florian. Er wuchs, wie Florian und Claudia, in Rahlstedt auf und besuchte auch den gleichen Kindergarten und die gleiche Grundschule. Auf der Beobachtungsstufe des Gymnasiums schieden sich dann die Geister. Während Sven und Claudia dort blieben, musste Florian auf die Realschule, wo er auch Sabine kennenlernte.

Svens volles Haar, was lockig den Kragen berührte, umrundeten sein Gesicht. Seiner Bequemlichkeit wegen drückte er sich vor Sport und anderen Dingen, die Transpiration hervorrufen könnten. lm Fußballverein war er, weil es seine Eltern wollten. Als der Trainer damals nach einem Torwart fragte, schnellte sein Finger als Erstes nach oben. Er glaubte, es als Torwart bequemer zu haben.

"Na Sven", grüßte Florian, "noch draußen? Ich meine, die Laternen sind schon an."

Dabei blickte er kontrollierend nach oben. Die Frage kam lästernd. Denn Svens Eltern achteten peinlichst darauf, dass er zum Dunkelwerden Zuhause ist. Immerhin war er ja erst vierzehn und sollte sich nicht nach der Freizügigkeit Fünfzehnjähriger orientieren. Da waren seine Eltern nach Meinung von Florian und Claudia spießig und altmodisch.

“Wo kommst du denn her?", fragte er, ohne auf Florians Anspielung zu reagieren.

"Biene nach Hause gebracht", antwortete dieser und schüttelte sich kurz der Kälte wegen. Dabei zog er leicht seinen Kopf ein und gab die gleiche Frage zurück.

"War bis eben in der Stadt", stöhnte Sven, "hab' da was für Claudia gekauft. Mir tun vielleicht die Füße weh."

Florian fühlte mit ihm. Denn er wusste ja, wie schwer er sich bei Fußmärschen tat. Dann erkundigte er sich danach, was er gekauft habe. Sven zögerte mit der Antwort, sah ausweichend auf seine Schuhe und dann zur Seite.

"Na was?", fragte Florian ungeduldig. Sven zog die Mundwinkel schräg.

"Büstenhalter ...", murmelte Sven. Florians Lippen gingen in die Breite und zeigten seine weißen Zähne. Er konnte sich wahrlich vorstellen, wie Sven sich durch die BHs wühlte und von den Verkäuferinnen misstrauisch beäugt wurde. Aber für Claudia tat Sven einfach alles und sie fand es sogar niedlich.

"Hat sie sich gewünscht", warf Sven ein und es klang wie eine Entschuldigung. Dabei wanderten seine Hände in die Taschen seiner Jacke. Florian grinste unentwegt weiter und dachte sich seinen Teil.

"Welche Größe?", fragte er überraschend und Sven antwortete spontan: "Größe eins. Weißt du, Größe Null, ist zu klein und Claudia - sage mal, was geht das dich überhaupt an?"

Sven ärgerte sich, dass er sich diese Antwort hat, aus der Nase ziehen lassen. Ihm war klar, dass Florian nur wissen wollte, wie groß Claudias Busen war und das ginge schließlich niemanden etwas an.

"Man kann doch mal fragen ...", entschuldigte Florian und zog dabei die Augenbrauen hoch. Sein Gesichtsausdruck aber verriet, dass er sich darüber belustigte.

"Gegen wen spielen wir morgen?", fragte Sven, um eilig das Thema zu wechseln. Denn er hatte keine Lust, noch mehr Intimes über seine Freundin preiszugeben.

"Concordia, Punktspiel", antwortete Florian mit einer Abfälligkeit, als hätten sie den Sieg schon in der Tasche. Der kurze Blick zur Uhr ließ Sven zur Eile drängen. Sich verabschiedend wandte er sich ab und ging in die Richtung weiter, aus der Florian gekommen war. Ein paar Mal aber drehte er sich um und sah Florian nach, der sich schnellen Schrittes entfernte.

"Fragt einfach nach der Größe", fluchte Sven leise vor sich hin, "als wenn er nur Busen im Kopf hat. Hoffentlich hält er morgen seine Klappe."

Auf dem Heimweg dachte Florian tatsächlich über die Busen der beiden Mädchen nach. Claudias waren größer als Sabines, soviel wusste er. "Ist ja auch keine Schande", dachte er sich, "andere haben überhaupt keinen." Trotzdem stellte sich für ihn die Frage, welche Größe Null war. Mathematisch ist Null nichts, also ohne eigenen Wert. Florian geriet ins Grübeln. Er versuchte herauszufinden, was die Mädchen machen, deren Busengröße unter Null war. Sie konnten doch unmöglich Außenseiter der Gesellschaft sein. Erst als er seinen Wohnblock erreicht hatte und die Treppenhaustür aufschloss, kam er auf des Rätsels Lösung: Der Büstenhalter soll den Busen halten, damit er nicht hängt. So ähnlich hatte Sabine es ihm erklärt. War der besagte Busen aber kleiner als Null, schlussfolgerte er, so war er zu klein, um zu hängen. Stolz über seine, für ihn plausible Antwort, stieg er die Treppen zur Wohnung hinauf.

"Was für ein neues Wohngefühl", dachte Florian, als er sein aufgeräumtes Zimmer betrat. Er ließ sich auf das Bett plumpsen, griff zum Fußboden, um sich ein altes Comicheft zu angeln. Fehlanzeige. Es lag ja nichts mehr herum und er musste sich noch einmal hoch bequemen, um sich ein Heft aus dem Schrank zu holen. Völlig ungewohnt für einen Schlendrian wie er. Dabei kam auch ein altes Schreibheft zutage, was Sabine vergessen hatte. Statt es wieder zurückzulegen, platzierte er es erst einmal auf ein Regal mit der eigenen Ausrede, es ihr bei nächster Gelegenheit zurückzugeben. Und so lag wieder das erste Stück herum. Das Zweite war dann das Comicheft. Der Unordnungsvirus begann, sich langsam einzuschleichen.

Floh und Biene

Подняться наверх