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2. Kapitel

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Am frühen Abend saßen Sabine und ihre Mutter im Wohnzimmer. Sie blätterte gerade in einer Programmzeitschrift, während die Mutter es sich auf der Couch gemütlich gemacht hatte und strickte. Der Fernseher lief, aber niemand sah hin. Frau Hansel war eine attraktive und hübsche Frau, die nach ihrer Scheidung nach Rahlstedt gezogen war. Sie war anfangs männlichen Personen recht reserviert und zurückhaltend. Bis an jenem Tag vor einem Jahr, als sie Claudias Vater kennengelernt hatte. Obwohl beide sich duzten und gemeinsame Unternehmungen starteten, benutzten sie ihren Kindern gegenüber immer noch ihre förmliche Anrede. Es schien, als wollten sie ihre Beziehung geheim halten. Sabine und Claudia hatten längst mitbekommen, dass sie mehr füreinander empfanden als reine Freundschaft. Sabine empfand es sogar als reine Heuchelei. Als wenn ihre Mutter immer noch versuchte, ihr ein Vorbild zu sein.

Claudia war Sabines beste Freundin. Sie war es auch, die Sabine in die Clique einbrachte. Wenn die drei Kinder auch nie offen darüber sprachen, so hatten doch alle den gleichen Wunsch: Sabine sollte endlich einen Vater haben. Damit würde nicht nur der albern klingende Nachname Hansel verschwinden, der immer wieder Grund zur Belustigung gab, sondern Claudia hätte dann auch eine Mutter. Ihre war vor knapp fünf Jahren gestorben und seither lebte Herr Latros mit seiner Tochter allein.

Sabine und ihre Mutter sahen sich sehr ähnlich. Die dunklen Haare, die rehbraunen Augen und der schmale Mund zeigten zwei Prototypen weiblichen Geschlechts mit unterschiedlichem Alter. Die paar Fältchen und der mitunter strenge Blick der Mutter tat diesem keinen Abbruch. Es spiegelte die Sorgen wider, die Frau Hansel nach ihrer Scheidung aufgebürdet bekam. Besonders finanziell musste sie sich sehr einschränken. Wenn Sabine von ihrem Wesen her auch bescheiden war, so hatte auch sie ihre persönlichen Ansprüche.

"Du Mama, was ich dich fragen wollte", begann Sabine und schob die Zeitschrift beiseite, “kann ich morgen Abend deine Bluse anziehen?"

“Welche Bluse?", fragte die Mutter, ohne aufzusehen.

"Die Rote, habe sie heute schon mal anprobiert. Passt haargenau", schwärmte sie. Frau Hansel schüttelte den Kopf und antwortete: "Du hast selbst genug Blusen."

"Aber Mama", bettelte Sabine, "Nur das eine Mal."

"Kommt nicht infrage", wehrte sie hartnäckig ab, "Ich habe fast 300 Mark dafür bezahlt und lange daran gespart. Wie oft habe ich erlebt, dass du Sachen von mir getragen hast, die ich später als besseren Putzlappen wiederbekommen habe. Wenn ich nur an meine Schuhe denke. Am ersten Tag war der Absatz abgebrochen."

"Aber die Bluse hängt doch nur im Schrank herum.“

"Und es ist die erste größere Anschaffung, die ich mir nach zwei Jahren mal gegönnt habe", ergänzte ihre Mutter, "außerdem fahre ich nächstes Wochenende mit Herrn Latros nach Münster. Da ist es ja wohl gestattet, dass ich meine Sachen zusammenhalte."

"Claudias Vater fährt auch ohne Bluse auf dich ab."

"Sabine!", fuhr ihre Mutter sie an, "Unterlasse gefälligst deine zweideutigen Bemerkungen!"

Es war nicht das erste Mal, dass Sabine sich im Wortschatz vergriff. Von je her hatte sie ihrer Tochter Benehmen und Zurückhaltung anerzogen. Doch mit zunehmendem Alter wurde Sabine aufsässiger. Ihre Ausdrucksweise recht oberflächlich, wie es ihre Mutter formulierte. Sie selbst genoss eine strenge Erziehung und glaubte nun, es auf ihre Tochter übertragen zu müssen. Sie hatte eben eine andere Auffassung von einem gut erzogenen Mädchen. Welche Mutter erfüllt es nicht mit Stolz, wenn man das Betragen ihrer Tochter lobend erwähnt. Mit sehr vielen Umgehungs - und Überredungskünsten, wobei Claudia und ihr Vater nicht ganz untätig waren, machte Sabine ihrer Mutter klar, dass sie lieber zerschlissene Jeans und flatterige Hemden trug, als Kleid und Ringelsöckchen. Aus der Schale, mit Knicks und Schleifen im Haar, war sie längst ausgebrochen. Ebenso klar war es Frau Hansel auch, dass ihre Tochter die Jungen, allen voran Florian, mit anderen Augen betrachtete. Das war ihrer Meinung noch viel zu früh. Doch dank Claudias Vater lenkte sie ein und duldete Sabines Zuneigung Florian gegenüber. Jedoch stets mit dem Hinweis, nicht zu weit zu gehen. Dementsprechend beobachtete sie die beiden so gut und unauffällig es ging. Sabine hasste diese Bevormundung und es war ihr peinlich.

"Hast du schon ein Geschenk für Claudia?", fragte Frau Hansel nach einigen Minuten des Schweigens.

"Mache ich morgen", antwortete Sabine, "Floh und ich schmeißen zusammen. Kaufen muss ich es aber. Er sagt, das wäre ihm peinlich in der Damenabteilung zwischen Slips und Büstenhalter herumzuwühlen."

Ihre Mutter schmunzelte darüber und dachte dabei an Herrn Latros, der sich bei solchen Einkäufen auch lieber draußen aufhielt oder sich die Auslagen eines Baumarktes ansah. Was das anging, meinte Frau Hansel, sind wohl alle Männer gleich.

“Was machst du denn morgen?", fragte Sabine wie nebenbei. In Wahrheit interessierte sie sich nicht dafür, was ihre Mutter macht, sondern, dass sie nicht auf die Idee kommt, sie um 22 Uhr abzuholen. Eine solche Peinlichkeit konnte nur durch Claudias Vater verhindert werden, in dem er sie irgendwohin ausführte. Frau Hansel sah von ihrer Strickarbeit auf und antwortete: "Nichts, wieso?"

"Du kannst doch nicht den ganzen Abend hier herumhängen. Gehe doch mit Herrn Latros ins Kino oder so."

Ihre Mutter hob die Schultern und sagte: "Erstens bist du ja um 22 Uhr wieder hier und außerdem müsste Claudias Vater wohl auch ins Kino wollen."

Da kündigte sich das zweite Hindernis an, was Sabine überwältigen musste. Punkt 22 Uhr Zuhause sein zu müssen. Am Wochenende, wenn sie ausschlafen konnte. Immer diese kleinkarierten Grenzen. Die magische Standarduhrzeit von 22 Uhr. Sie fragte sich, wer diese blöde Uhrzeit erfunden hatte. Vermutlich stammte diese noch aus dem Mittelalter, als der Nachtwächter durch die Straßen zog.

"Kann ich nicht ein bisschen länger bleiben?", bettelte Sabine. Sie hatte nämlich keine Lust, als Erste die Fete zu verlassen und sich möglicherweise lächerlich zu machen. Sie hatte ohnehin das Gefühl, dass sie das einzige Mädchen war, was in ihrer Freizeit so eingeengt war. Das ständige Gebettel um einige Minuten wiederholte sich regelmäßig und hing ihr zum Halse raus.

"Du bist gerade erst fünfzehn und keine sechszehn. Was sollen die Nachbarn von mir denken, wenn meine Tochter nachts durch die Straßen läuft."

Das, so vermutete Sabine, muss ja wohl das Standardargument aller Eltern sein. Was andere denken und sie möglicherweise mit dem Finger auf sie zeigen würden.

"Du immer mit deinen Nachbarn. Das ist mir doch scheißegal, was …"

"Sabine!", fuhr ihre Mutter sie an und ließ sie augenblicklich verstummen. Auf einen Streit wollte es Sabine nicht ankommen lassen. Sie fühlte sich ohnehin immer zurückgestellt gegenüber anderen Mädchen ihres Alters. Was die alles durften, davon konnte sie nur träumen. Sie erinnerte sich daran als Florian das erste Mal mit ihr allein im Kinderzimmer war und ihre Mutter nichts Besseres zu tun hatte, ihn darauf hinzuweisen, dass sie erst vierzehn ist. Sabine empfand es als Blamage, worauf ihre Mutter ihr damit drohte, den Umgang mit ihm zu verbieten.

Dieser Missstand war stets der Grund zur Reiberei. Frei sein, tun und lassen können, was man will, das war ihr sehnlichster Wunsch. Nach Herzenslust Fluchen, ohne ständig auf unangenehme Fäkalworte zu achten. Ständig führte sie andere als Beispiel auf. Obwohl sie wusste, dass die meisten Mädchen übertrieben. Dennoch stand sie mit allem weit zurück und das war eben das Ätzende an ihrer Mutter, wie sie immer sagte.

"Ich kann doch auch bei Claudia schlafen", machte Sabine den Vorschlag und fügte eilig hinzu: "Herr Latros hat nichts dagegen. Habe ihn schon gefragt."

Sie wusste ja, dass er ihr diese Bitte nicht abschlagen würde und Claudia die Frage notfalls hätte nachreichen können.

"Bevor du dich bei anderen Leuten einquartierst, hast du erst einmal mich zu fragen", tadelte Frau Hansel ihre Tochter streng.

"Jaaa ...", kam es lang und genervt aus ihr heraus, "darf ıch nun?"

"Und dann die ganze Nacht feiern, was?“

"Ich bin genauso alt wie Claudia, und wenn sie bis um 23 Uhr feiert, kann ich wohl nicht länger machen", hielt Sabine dagegen. Dieses Argument klang überzeugend. Dabei hatten die beiden Mädchen gar nicht über das Ende der Fete gesprochen. Die Uhrzeit fiel ihr gerade so ein. Ohne eine voreilige Zustimmung zu geben, bat sich ihre Mutter Bedenkzeit aus. Mit dieser Unwissenheit musste Sabine sich zufriedengeben. Die letzten Ängste und Zweifel, so hoffte sie, würde Claudias Vater schon ausschalten. Es war ja nicht das erste Mal, dass auf sein Zureden, die Zügel gelockert wurden. Die Mädchen hatten ihre eigene Taktik beide Elternteile zu umgarnen, wenn es darum ging, wieder etwas durchzusetzen. Größte Nutznießerin war natürlich Sabine. Frau Hansel zeigte sich Claudia zwar gegenüber von der Schokoladenseite und diente oft als Friedensrichterin, wenn es mal Zoff zwischen Vater und Tochter gab. Ihrer Tochter gegenüber aber blieb sie zuweilen streng und unnachgiebig.

Floh und Biene

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