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Winfried
ОглавлениеHat man die 40 überschritten, liegen vor einem noch zwei nennenswerte Ereignisse: das Erreichen des Rentenalters und der Tod. Es war ein Tag nach Winfrieds vierzigstem Geburtstag, ein Büroalltag wie jeder andere, an dem er in Gedanken zum Berserker wurde, eine Streitaxt schwang und seinen Bildschirm zertrümmerte, danach die gesamte Büroeinrichtung in Stücke schlug und sich daran ergötzte, wie seine Kollegen die Flucht ergriffen und schreiend davonrannten. Doch er behielt seine Contenance. Wie jeden Tag. Seit mittlerweile 20 Jahren.
Wenigstens hat er dieses Alter erreicht – anders als sein früherer Chef, den zwei Jahre zuvor ein Herzinfarkt niedergestreckt hatte. Mitten in einer hitzigen Abteilungsbesprechung. Danach wurde mir diese Pappnase von Chef vorgesetzt, dieser Nichtskönner, diese aufgeblasene Luftnummer, diese komplette Fehlbesetzung … grübelte Winfried. Egal, ich muss mich konzentrieren.
Die Zahlen und Statistiken flogen über seinen Bildschirm. Als Profi musste er schnell analysieren, sofort reagieren. War dies ein Schnäppchen oder kämpfte der Bulle noch mit dem Bären? Ließen sich daraus Finanzprodukte zaubern oder war das Risiko zu hoch?
Er ließ die im Stakkato wechselnden Zahlen nicht aus den Augen. Den entscheidenden Moment durfte er nicht verpassen. Zu oft gezwinkert, einen Augenblick zu lange gezögert – er hätte die größte Chance seines Lebens unwiderruflich verpassen können.
Konzentriert beobachtete er die Zahlen auf seinem Bildschirm. Mit seinen analytischen Fähigkeiten besaß er einen siebten Sinn für das Geschäft und erkannte sofort, wenn sich etwas Vielversprechendes anbahnte. Hier sollten wir schnell zuschlagen. Diese bankrotte Firma könnten wir für'n Appel und n' Ei erwerben und - Simsalabim - Derivate entwickeln, schon sieht diese Luftnummer wie eine attraktive Alterssicherung aus. Das wird das Geschäft des Jahrhunderts!
Eine Sirene heulte auf.
Entnervtes Stöhnen aus allen Ecken folgte. »Bald drehe ich durch!«, rief ein Kollege gereizt, »schon das dritte Mal in dieser Woche, dass hier irgendein Witzbold den Feueralarm auslöst. So kann doch kein Mensch arbeiten!«
Der Abteilungsleiter erschien im Büro und verkündete mit einem Ausdruck tiefster Frustration: »Ich weiß, es stört euch genauso, aber ihr müsst jetzt alles stehen und liegen lassen.«
Das Büro leerte sich. Kurz vor dem Ausgang rief der Pförtner ihnen vorwurfsvoll zu: »Das war wieder jemand von eurer Abteilung!«
Ein Kollege platzte sofort vor Wut: »Bestimmt weißt du auch genau, WER! Und dieser WER wird dir gleich ein schönes blaues Veilchen verpassen!«
Aus Reflex hielt Winfried seinen Kollegen fest und versuchte ihn zu beruhigen. »Lass das, Waldemar! Reg dich nicht immer so auf!«
Alle sammelten sich vor dem Gebäude. Es war mit zehn Stockwerken eines der kleineren Hochhäuser des Bankenviertels, dessen verspiegelte Glasfassade so undurchsichtig war wie die Geschäfte, die dahinter abgewickelt wurden.
Die Feuerwehr erschien mit allen Einsatzwagen, ein Team in Schutzanzügen begutachtete das Gebäude. Es wurde die übliche Diagnose gestellt: Fehlalarm. Nach der offiziellen Entwarnung wurden alle zurück in ihre Büros geschickt.
Winfried saß mit einem frisch gebrühten Kaffee vor seinem Bildschirm und zerbrach sich den Kopf. Wo war ich vorhin stehengeblieben? Ich hatte irgendwelche Zahlen analysieren wollen. Das Geschäft des Jahrhunderts! Was war es? Ich hab's vergessen. Mist!
Sein treuester Begleiter, im unbeobachteten Moment entnahm er ihn seiner Aktentasche und goss etwas Schnaps in den Kaffee. Medizin, die ihm half, den Büroalltag zu überstehen. In Maßen kann es nicht schaden, dachte er. Jetzt war er einfach zu nervös, die Zahlen schienen ihn aufzufressen. Ein Schluck wirkt beruhigend. Besser, als durch den Stress einen Herzinfarkt zu bekommen.
Vom Korridor war wildes Gekreische zu hören. Frau Schmitt rannte durch den Gang, verfolgt von Dr. Weingarten, der hysterisch lachte. »Gleich habe ich dich!«, brüllte er laut, »du entkommst mir nicht, du kleine Hexe!«
Die täglichen Fangspiele mit der Teamassistentin waren seine einzige Beschäftigung, denn den promovierten Mathematiker hatte man aufgrund seiner hervorragenden Studienergebnisse eingestellt, jedoch konnte für ihn bisher keine sinnvolle Verwendung im Unternehmen gefunden werden.
»Was erzählst du eigentlich deinen Verwandten, was für eine Arbeit wir hier machen?«, fragte sein Kollege, der gerade eine Giraffe aus Papier faltete. Er stellte sie auf seinen Schreibtisch und betrachtete sie nachdenklich. »Die Wahrheit? Dass es Betrug ist, was wir hier machen?«
»Nicht so laut, Waldemar!«, entgegnete Winfried mit gedämpfter Stimme. »Wir entwickeln Derivate und bringen sie in den Handel. Das erzähle ich.«
»Derivate, die auf bankrotten Unternehmen basieren. Wir denken uns tolle Namen aus, verkaufen jedoch wertlose Schrottpapiere!«
»Kann ja sein. Damit verdienen wir eben unser Geld. Niemand beißt den Hund, der ihn füttert.«
Sein Kollege faltete erneut an seiner Papiergiraffe. Nun ähnelte sie einem Hund. Er betrachtete sein Werk und nickte.
Nachmittags wurde Winfried ins Büro seines Chefs bestellt. Herr Silowski eröffnete ihm: »Vom Vorstand wurde ich beauftragt, Mitarbeitergespräche zu führen. Ich habe mich in meinem Studium der Betriebswirtschaftslehre auf Mitarbeiterführung spezialisiert. Kommen wir gleich zur Sache, Herr Kunze!« Er klappte sein Laptop auf und öffnete eine Text-Datei. »Dies ist ein vorgefertigter Text. Darin befinden sich freie Stellen, die wir gemeinsam ausfüllen müssen. Ich werde Sätze beginnen, Sie werden sie beenden. Ganz einfach! Legen wir los«, begann er die Sitzung. »Mit meiner Arbeit bin ich … Ihre Antwort?«
»Naja, ich bin durchaus zufrieden«, antwortete Winfried, »und meine Arbeit füllt mich vollkommen aus, aber …«
»Ok«, schnitt der Chef ihm das Wort ab, »habe ich notiert. Nächster Punkt: Verbessern könnte man …«
An irgendwas erinnert er mich doch. Mit seinen vorstehenden Augen und seinem spitzen Mund, dachte Winfried, nur an was? Und antwortete:
»An der Planung könnte man etwas verbessern. Zum Beispiel …«
»Sehr gut!«, unterbrach sein Chef, tippte sofort und klickte auf die nächste Textmarke. »Der nächste Punkt, den wir gemeinsam erarbeiten und ausfüllen müssen: Folgendes habe ich an Kritik oder Verbesserungsmöglichkeiten vorzubringen …« Er nahm seine Brille ab, um sie zu reinigen und blickte Winfried an, der dachte: Sein Gesicht hat Ähnlichkeit mit einem Insekt!
»Ich hätte ein paar Ideen«, setzte er zu einer Antwort an, »man könnte …«
»Sehr gut«, fiel ihm sein Chef erneut ins Wort, »ein paar Ideen. Super, das bringt uns sicherlich weiter«. Schnell setzte er seine Brille auf, tippte die Antwort ein und fuhr fort: »Die vorletzte Frage. Wenn sie einen Wunsch frei hätten: bei meiner weiteren Mitarbeit im Unternehmen würde ich gerne …«
»Nun, man könnte so weitermachen wie bisher, aber man könnte auch …«
»Also: ›weiter so‹. Super, ihre Antworten! Es folgt die letzte Frage, danach sind wir durch.« Herr Silowski las ab: »Das Verhältnis zum Chef würde ich beschreiben als … Hahaha! Das ist eine Fangfrage, nicht?«
Vor Winfrieds geistigem Auge begann ein Film zu laufen: wie er den Kopf seines Chefs packte, mit Wucht auf die Tischkante schlug, dies wiederholte, immer und immer wieder, bis der letzte Zahn aus dessen Oberkiefer herausgeschlagen war. Geistig abwesend und in brutalste Visionen vertieft starrte er an die Wand.
»Keine Antwort? Ich trage einfach mal ein: ›ausbaufähig‹. So drückt man es politisch korrekt aus. Erledigt. Perfekt! Alles ist ausgefüllt und wir sind fertig. Wir sehen uns beim nächsten Mitarbeitergespräch. Sie finden den Ausgang durch die Bürotür sicher ohne meine Hilfe.«
Winfrieds Füße führten ihn in den Aufenthaltsraum. Eine Pause und einen Schluck Kaffee hatte er sich jetzt redlich verdient. Dort verweilte auch sein Chef und dessen korpulente Zimmernachbarin, Frau Maier, die wie üblich einen ihrer Monologe hielt: »Der gesamte Vorstand war letztes Wochenende beim Führungskräfte-Coaching. Eine ausgezeichnete Erfahrung, wir haben viel über uns gelernt. Man denkt erst: das ist doch ziemlich albern, alle in Badeanzügen und malen sich gegenseitig mit Fingerfarben an. Aber was man an Menschenkenntnis gewinnen kann, ist wirklich beeindruckend!«
»Das ist sicherlich …«, setzte Winfried zu einem Kommentar an und dachte: das hat meinem Chef sicherlich gefallen. Frau Maier führte den angefangenen Satz zu Ende: »eine wunderbare Stärkung der Sozialkompetenz!« Sein Chef warf ihm einen Blick zu, als wollte er ihn töten.
Um sich der Situation zu entziehen, schlich sich Winfried zum Automaten und drückte die Tasten für Kaffee mit Milch und Zucker. Die automatische Pumpe spülte heißen Kaffee in das Ausgabefach. Danach - Plopp - erschien der Becher.
*
Am nächsten Tag saß Winfried konzentriert vor seinem Bildschirm. In komplizierte Berechnungen vertieft, richtete sich sein starrer Blick auf die im Stakkato wechselnden Zahlen. Unsanft wurde er aus den Gedanken gerissen. »Herr Kunze!«, bellte jemand.
Er zuckte zusammen und wandte seinen Drehstuhl zur störenden Lärmquelle. Dort stand sein Chef mit zwei schlaksigen jungen Männern. Einem Südländer, gekleidet in einen frisch gebügelten Nadelstreifenanzug, mit einer schmalen Bartlinie um seine Lippen – so, als würde dort Schokolade vom letzten Osterfest kleben. Der Andere war betont lässig gekleidet. Sein Haupt krönte eine umgekehrt aufgesetzte Baseballkappe und sein beschränkt wirkender Gesichtsausdruck wurde untermalt durch starken Überbiss und reichlich Akne.
»Ja, Herr Silowski?«
»Herr Kunze! Ich habe Sie ja gestern darauf vorbereitet, dass wir Besuch bekommen werden. Von diesen vielversprechenden jungen Männern, die sich als Werkstudenten bei uns beworben haben. Bitte führen Sie die beiden Herren wie besprochen durch unseren Betrieb und erklären ihnen, wie das Ganze hier läuft, was wir für einen Job machen.«
Winfried fiel aus allen Wolken. Nichts war abgesprochen, Chef! Du hast mal wieder deinem Vorgesetzten versprochen: Klar, mach ich. Und weil anstelle junger, hübscher Studentinnen diese Typen aufgetaucht sind, drehst du den Job mir an. Er zögerte einen Moment und überlegte, wie er angemessen reagieren sollte und sagte schließlich: »Ich kann mich nicht an eine Absprache erinnern …«
»Kein Wort mehr!«, schnitt der Chef ihm das Wort ab. An die zwei Studenten gewandt, sagte er: »Herr Kunze erklärt Ihnen alles ganz ausführlich. Er nimmt Sie später zum Mittagessen in die Kantine mit. Ich habe einen wichtigen Termin und muss fort. Adieu, viel Spaß!«, verabschiedete er sich und eilte davon.
Eine Weile blickten sich die zwei Besucher und Winfried ratlos an, bis er sich einen Ruck gab. »Gut, fangen wir an. Dies ist mein Bildschirm und damit analysiere ich Zahlen und Charts.«
Die Gäste warfen einen kurzen Blick darauf und murmelten gelangweilt: »Schön!« »Das ist ja interessant!«
»Mir gegenüber, auf diesem Stuhl, würde Waldemar sitzen. Er ist unser Statistiker«, sagte Winfried mit einem Blick zum benachbarten Arbeitsplatz. »Wenn sich irgendwo eine Wirtschaftskrise anbahnt, weiß er es zuerst.«
Ein Schild über dessen Schreibtisch verkündete einen Spruch aus der Bibel: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, so sprecht: »Wir sind unnütze Sklaven, wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.« Lukas Kapitel 17, Vers 10. Es lagen unzählige Zettel herum, wild verstreut.
»Der ist wohl sehr fleißig!«, kommentierte der südländische Besucher mit einem Blick auf das Chaos. Winfried stimmte kurz zu und verkniff sich, zu erläutern, dass dessen Fleiß primär künstlerischer Natur war und das Papier ausschließlich für Origami-Basteleien verwendet wurde.
Sie wanderten ein paar Schritte weiter. Am nächsten Arbeitsplatz saß ein vollschlanker Herr mit Brille und dicken Gläsern, den Winfried begrüßte: »Hallo Burkhart!«, und den Besuchern erklärte: »Dies ist Herr König. Er vermarktet unsere Wertpapiere.«
Einen Moment später blieben sie bei einem Herrn mit hoher Stirn und noch größerem Körperumfang stehen. »Mahlzeit, Rainer!«, sprach er ihn an und sagte zu den Studenten: »Das ist Herr Dietrich. Er verfolgt Nachrichten und bewertet sie. Jederzeit ist er über das gesamte Weltgeschehen informiert und immer auf dem aktuellsten Stand.«
Beim Weitergehen konnte Winfried einen Kommentar nicht verkneifen: »Jetzt habt ihr gesehen, wie ihr vielleicht aussehen werdet, wenn ihr mehr als zwanzig Jahre diesen Job macht.«
Erneut stoppten sie. »Hallo Richard!«, sprach er den nächsten Kollegen an und stellte dessen Tätigkeit vor: »Das ist Herr Mühlstein. Er gestaltet das Design für unsere Zertifikate.«
Der schlaksige Junge mit der Baseballkappe schaute forsch zu Winfried: »Dürfte ich eine Frage stellen, Herr Kunze?«
»Nur zu!«
»Wieviel verdienen sie?«
»Zwanzigtausend im Jahr Festgehalt. Dazu kommt ein Erfolgshonorar. Der Hauptanteil unseres Gehaltes sind Prämien.«
»Könnten Sie mir eine Aufstellung Ihres Vermögens zusenden?«
»Wieso das denn?«
»Ich mache eine Ausbildung zum Vermögensberater, Herr Kunze. Detailliert kann ich analysieren, ob Ihr Vermögen gut angelegt ist. Ich würde Sie gerne bei Ihrer Zukunftssicherung beraten und kann Ihnen helfen, eine Menge Steuern zu sparen!«
»Bei Vermögensanlagen kenne ich mich selbst bestens aus«, entgegnete Winfried alarmiert, »außerdem gebe ich private Informationen ungern in fremde Hände. Speziell, was meine Finanzen angeht.«
Der junge Mann reichte ihm eine Visitenkarte: »Wir beide arbeiten für ›Boppermann Financial Consulting‹, einem führenden Finanzdienstleister. Sie haben sicher von uns gehört. Und Sie haben nun die einmalige Chance, eine Top-Beratung von einem Top-Spezialisten zu bekommen! Unser Motto: Wir beraten …« »…auch Kastraten«, beendete sein gestylter Begleiter den Satz, woraufhin beide in schallendes Gelächter ausbrachen.
»Moment!« Richard drehte sich mit seinem Bürostuhl um. »Was für Typen hast du reingeschleust, Winfried?« Er wurde laut und brüllte: »Du kannst doch nicht einfach Leute von der Konkurrenz mitbringen und zeigen, wie wir hier arbeiten!«
Später saß Winfried nach vielen erfolglosen Versuchen, die beiden Besucher abzuwimmeln, in der Kantine und musste für sie mitbezahlen. Denn sie sahen sich nun als seine Gäste. Wenig später erschienen auch seine Kollegen. Richard zeigte zu ihrem Tisch und murmelte etwas, worauf die Anderen ein entsetztes Gesicht zogen, die Köpfe schüttelten und stumm am Tisch vorbeiliefen.
Die kommenden Tage wurde Winfried gemieden und saß in der Kantine alleine, bis Waldemar - der lange auf einem Einzelplatz bestanden hatte und sich immer weigerte, den Tisch mit Kollegen zu teilen - sich mit den Worten: »Wir Randgruppen müssen zusammenhalten« zu ihm setzte.
*
Ein Wochenende war überstanden und am Montagmorgen wurde er von seinem Chef ins Büro gebeten. »Herr Kunze, mir wurde zugetragen, Sie würden Firmengeheimnisse verraten?«
»Ich? Auf keinen Fall! Es waren Ihre Werkstudenten!«
»Es ist ihre Angelegenheit, wenn Sie Gäste herumführen. Es gelten bei uns strenge Vorschriften. Zuallererst müssen sie die Besucher genau prüfen und ein polizeiliches Führungszeugnis verlangen.«
»Aber … es waren doch ihre Gäste!«
»Werden Sie nicht frech. Das war Ihr Job, also hätten Sie vorab Informationen einholen müssen, wer die Besucher sind!«
Winfried begann zu zittern. Vor Aggression. Sein Chef bildete sich ein, es wäre die Angst vor der Macht des Vorgesetzten. Er atmete ein paarmal tief ein und aus, dabei spielte er in Gedanken durch, wie tief ein angespitzter Bleistift sich durch die Nase ins Hirn des Vorgesetzten rammen ließe. Er überwand seinen Zorn und antwortete langsam: »Ok. Nächstes Mal …«
»Herr Kunze, das führt zu einer Abmahnung! Außerdem habe ich von jemandem erfahren, Sie würden sich über Kollegen lustig machen!« Er stand auf und führte eine Art Bauchtanz mit Singsang auf: »Mann, ist der Dick!«, setzte sich wieder und endete: »Sie müssen sich ernsthaft Gedanken über Ihre Zukunft machen! Nur eine Chance haben Sie jetzt noch, verspielen Sie die nicht! Und jetzt verschwinden Sie aus meinem Büro. Ich habe zu arbeiten und sicher haben Sie auch noch irgendwas zu tun.«
Winfried stand eine Weile wie gelähmt da. Sein Vorgesetzter starrte ihn hasserfüllt an. Als er aus seiner Erstarrung erwachte, hatte sein Chef den Blick längst abgewandt und auf seinem PC das Kartenspiel Solitär gestartet. Er verließ das Büro mit dem Gedanken: Ich bringe ihn um. Nächstes Mal bringe ich ihn um!
*
Winfried stand auf der Mainbrücke in der Finanzhauptstadt des dreißigsten Jahrhunderts. Vor ihm erhoben sich gigantische Türme, die sich endlos in den Himmel zu recken schienen. Ein summendes Geräusch drang an seine Ohren und wurde immer lauter. Als er nach oben blickte, sah er riesige Insekten um einen Turm herumschwirren. Eines der Geschöpfe löste sich aus dem Schwarm und flatterte auf ihn zu.
Er war paralysiert, konnte sich nicht von der Stelle lösen und schien mit dem Boden verwurzelt zu sein. Sein Kollege Waldemar stand in einer glänzenden Ritterrüstung am Brückenrand, setzte eine Taucherbrille auf und rief: »Winfried, wir müssen weg! Es sind fliegende Geistzersetzer! Im Wasser können sie uns mit ihren Strahlen nichts anhaben«, worauf er in den Fluss sprang. Winfried versuchte, ihm zu folgen und tat einen Schritt vorwärts. Es klirrte und ein plötzlicher Schmerz fuhr ihm in den Fuß.
Er schreckte hoch, die Vision verblasste, das summende Geräusch blieb. Es war sein Wecker. Auf dem Boden lagen Scherben eines Bierglases, das er im Halbschlaf von seinem Nachttisch getreten hatte. Halb benommen räkelte er sich. Welch ein Alptraum!
Eine Stunde später betrat er sein Büro.
»Hallo Winfried! Vorhin war dein Chef hier und hat nach dir gefragt.«
»Was wollte er denn, Burkhart?«
»Er hat sich erkundigt, wann du üblicherweise bei der Arbeit erscheinst. Ich habe ihm erzählt, du würdest immer um 9 Uhr im Büro auftauchen.«
»Was hat er gesagt? Soll ich zu ihm kommen?«
»Nein. Er hat nur nach dir gefragt und sich dann eine Weile vor deinen PC gesetzt. Vor 5 Minuten ist er gegangen.«
»Merkwürdig.« Er schaltete seinen PC ein, startete einen Virenscanner und rief seine Emails ab. Mein Postfach repräsentiert unsere Gesellschaft im Kleinen. Viel Werbung für unnützes Zeug, das keiner haben will, dachte er, als plötzlich eine Warnung erschien. Ein Überwachungsprogramm sei auf dem Rechner installiert, meldete das Antiviren-System. Flugs startete Winfried ein System zum Entfernen des Übels und dachte erleichtert: Wieder sauber. Hoffentlich. Dankeschön, Chef! Das schreit nach Rache! Er brauste innerlich auf und begann eine Recherche im Internet. Irgendwie muss man öffentlich machen, was hier für ein Spiel läuft! Diese Seite wäre etwas: ›die-dümmsten-Chefs-der-Welt.de‹. Von versteckten Webcams aus den Büros der Chefs gesendet. Live! Mal schauen … witzig, was dieser Idiot hier für ein Gesicht macht, während er sich unbeobachtet fühlt. Köstlich! Genau das Richtige für meinen Chef. Ich muss nur eine versteckte Webcam in seinem Büro installieren. Gehässig lachte Winfried in sich hinein. Im nächsten Moment schreckte er zusammen, als er einen Stich am Hinterkopf verspürte und jemand rief: »Nazi!«
»Schau dir mal den Index von heute an!« Sein Nachbar, der treffsicher einen Papierflieger an seinen Hinterkopf geworfen hatte, zeigte auf seinen Bildschirm. Der Kollege, mit dem sich Winfried mittlerweile am besten verstand. Ein Widerspruchsgeist und Querdenker. Wie er selbst auch.
»Was gibt’s, Waldemar?«
Eigentlich hieß Waldemar mit Vornamen Jorge, war nach eigenen Angaben ausgebildeter Banker und stammte aus Madrid. Die letzte Person, die ihn mit seinem eigentlichen Namen ansprechen wollte, war Teamassistentin Schmitt beim Mittagessen, die beim spanischen Namen so scheiterte, dass sie sich verschluckte, einen Hustenanfall bekam und dem Erstickungstod so nahe war, dass ein Krankenwagen gerufen werden musste, um sie mit Blaulicht in die Notaufnahme zu bringen. Seitdem wagte keiner mehr, seinen Namen auszusprechen.
Eines Tages erzählte Jorge seinen Kollegen von der Zeit vor Frankfurt, als er infolge der Immobilienkrise und auf der Suche nach einem Job nach Paris gekommen wäre und im Stadtteil Val-de-Marne gelebt hätte. Rainer, der am gleichen Tisch saß, hatte den Namen des Ortes nur halb verstanden und gefragt: »Wie hieß der Ort – Waldemar?« Von selbst hatte sich durchgesetzt, dass Jorge nun Waldemar genannt wurde.
Womit alle einverstanden waren, nur er selbst ganz und gar nicht. Eines Tages ärgerte er sich derart darüber, dass er seine Kollegen in der Kantine anfuhr: »Ihr seid alle Nazis! Ich spreche euch nur noch mit ›Nazi‹ an!« Von nun an wollte er seinen Tisch mit keinem Kollegen mehr teilen.
»Ist dir nichts aufgefallen? Der Index fällt und fällt!« Waldemar hielt mehrere Tasten gedrückt und auf dem Monitor wurden zwei Kurven übereinandergelegt. »Schau mal, die grüne Kurve ist der Verlauf dieses Monats, die rote stammt vom Oktober 1929. Fällt dir was auf, Nazi?«
Winfried, der sich schon daran gewöhnt hatte, so von dem Spanier tituliert zu werden, entgegnete: »Die sind vielleicht ähnlich, aber nicht gleich. Ich weiß schon, worauf du hinaus willst: es wird sich aus dem kleinen Tief eine Weltwirtschaftskrise entwickeln.«
»Diesmal sieht es wirklich so aus«, setzte Waldemar nach. Seit er im Büro begonnen hatte, sprach er täglich über die drohende Weltwirtschaftskrise.
*
Als er am letzten Arbeitstag der Woche verspätet sein Büro betrat, fiel Winfried die gedrückte Stimmung sofort auf. Niemand wechselte ein Wort, alle Kollegen saßen stumm vor ihren Bildschirmen. Er warf einen Gruß in die Runde: »Guten Morgen!«, in der Hoffnung auf irgendeine Reaktion. Die gab es auch, jedoch anders als erwartet, von Dr. Weingarten, der in einer Ecke gekauert hatte und nun heulend aus dem Büro rannte.
»Was ist denn los, was hat er?«, fragte er verdutzt. Burkhart antwortete mit gedämpfter Stimme: »Es ist wegen Frau Schmitt, der Teamassistentin.«
»Hat sie gekündigt?«
Burkhart schaute ihn traurig an. Er räusperte sich, rang um Worte und begann zu erzählen: »Rainer hat etwas mitgehört, als er gerade ins Büro vom Chef wollte. Hinter der Tür hörte er Frau Schmitt reden. Die letzten Monate hätte sie eine Liste mit Verbesserungsvorschlägen erarbeitet …«
»Oje!«, stöhnte Winfried und ahnte Böses.
»… und der Chef hätte nur laut gelacht und gesagt, sie solle froh darüber sein, wenn ihr wenigstens solche Aufgaben zugetraut würden, wie Kaffee zu kochen oder am Empfang zu sitzen. Das wäre doch besser, als auf den Strich zu gehen. Sie hätte etwas Vernünftiges wie er studieren sollen: Betriebswirtschaftslehre.«
Drecksau! - dachte Winfried und rief seine Erinnerungen ab: »Philosophie und Literatur hat sie studiert, oder?«
»Ja. Zehn Jahre lang. Rainer meinte, sie wäre vollkommen ausgerastet … und hätte laut geschrien. ›BWL studieren nur die größten Vollpfosten‹, wäre das harmloseste gewesen. Danach wäre sie aus dem Büro gerannt.«
»So hätte ich auch mit dem Chef gesprochen, Burkhart! Und dann?«
»Hast du's noch nicht gehört, Winfried?« Er blickte zu Boden und senkte die Stimme. »Sie ist aus dem Fenster gesprungen. Im zehnten Stock. Zwei Stunden, bevor du gekommen bist, wurde sie vor dem Gebäude gefunden.«
Den Rest des Tages starrte Winfried wie seine Kollegen durch seinen Bildschirm hindurch, unfähig, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Ihn trieb der Gedanke, seinen Chef nach oben zu schleifen und hinterher zu werfen. Nach intensiver Überlegung kam er jedoch zum Schluss: So ein Typ ist es nicht wert, dass man sich seine Finger schmutzig macht. Vielleicht gerät er in einen Verkehrsunfall, wird in seinem Auto eingeklemmt und geht darin elend zu Grunde, ganz langsam. Stundenlang sitzt er dort in seinem Wrack und heult. Dabei fängt es an zu brennen. In Zeitlupe krepiert er vor sich hin. Die Feuerwehr kommt, schaut in sein Auto, sagt: »Nee, du nicht!« und fährt wieder weg. Seine Miene hellte sich auf. Genau! Das ist ein guter Plan. Viel besser, als ihn hier und jetzt zu töten.
*
Regelmäßig ließ Winfried sich von Gernot zu einem Wochenend-Treffen in dessen Lieblingscafé überreden, um über Gott und die Welt zu palavern oder Neuigkeiten auszutauschen. Gernot erinnerte ihn wegen seiner dicken Lippen und den Glupschaugen immer an einen Frosch.
»Hi Winfried! Wie läuft's bei der Arbeit?«
»Nun ja … wie immer, Gernot. Und bei dir?«
»Grandios!«
Immer dasselbe Thema: Job, Job, Job! - ärgerte sich Winfried - gerade jetzt wäre mir jedes andere Thema recht.
Eine attraktive Kellnerin eilte an den Tisch, zückte ihren Notizblock und fragte: »Was bekommen die Herren?«
»Einen Milchkaffee«, sagte Winfried.
»Und Sie?«
Gernot grinste. »Ich bekomme eine große Latte.«
Die Kellnerin lief rot an. »Wie bitte, der Herr?«
»Eine Latte Macchiato, groß«, erklärte er auf die Nachfrage.
Mit verstörtem Gesichtsausdruck kritzelte die Kellnerin etwas auf ihren Notizblock und eilte davon.
Irgendwann muss er endlich seine postpubertäre Phase abschließen, ärgerte sich Winfried, als Gernot wieder zu seinem Lieblingsthema kam: »Du weißt ja, Marketing! Eine absolute Zukunftsbranche und kreativ. Vielleicht solltest du darüber nachdenken, zu wechseln.«
»Besonders einfallsreich finde ich es nicht, was ihr macht. Alles wiederholt sich, selten erfindet ihr Neues. Die Kreativität bleibt auf der Strecke.«
»Du verstehst das Ganze nicht. Wir entwickeln nachhaltige Strategien. Die Tendenz geht immer mehr dahin, Menschen möglichst früh mit Werbung zu bombardieren und die Nachfrage nach bestimmten Marken, wenn möglich, schon im Säuglingsalter zu wecken. Spielzeug, Babyklamotten oder Nuckelflaschen, auf denen eingängige Logos schlagkräftiger Konzerne prangen. Deswegen werden die Logos immer trivialer, damit die ganz Kleinen sich die auch einprägen können. Was früher die Hitlerjugend oder die FDJ war, sind heute die Markenkids. Selbst die Kreuzritter kannten dieses Prinzip. Alle hatten ein Logo auf ihrem Mantel.«
»Ähem«, räusperte sich Winfried. »Tabus kennt ihr wohl keine!«
Die Kellnerin kehrte zurück und stellte zwei Kaffeetassen auf den Tisch. »Einmal für den mit der großen Latte, einen Milchkaffee für den anderen. Könnten Sie bitte gleich zahlen? Ich würde nicht gerne nochmal an Ihren Tisch kommen.« Mit verschämten Blick sprach Winfried: »Ich zahle Beides.« Die Kellnerin kassierte und eilte im Laufschritt davon.
Gernot grinste. »Du verstehst das Ganze wirklich nicht. Heute geht es um alles oder nichts, sein oder nicht sein. Die Hälfte aller Konzerne könnte über Nacht ihre Produktion einstellen, ohne dass es den Konsumenten an etwas fehlen würde. Wir leben in einer Zeit der Überproduktion, die exponentiell zunimmt. Zudem wird die Herstellung in den Arbeitslagern der dritten Welt immer billiger. Was heute fehlt, ist Nachfrage. Genau da setzt Marketing an. Um Bedarf zu generieren. Es wird mittlerweile mehr Kapital aufgewendet, Produkte an den Mann oder die Frau zu bringen, als für die Herstellung.«
»Das befürchte ich auch. Freie Marktwirtschaft hat ja seine guten Seiten, alle werden satt, man sollte jedoch an die Zukunft denken und das Problem der Überproduktion lösen.«
»Die EU könnte beschließen, einfach die Überschüsse - beispielsweise die Hälfte aller hergestellten Waren - aufzukaufen, alles auf einen gigantischen Haufen zu werfen und zu verbrennen, um die Preisspirale nach unten zu bremsen. Es würde den Verdrängungswettbewerb einen Moment aufhalten, wäre aber keine Lösung von Dauer. Die Produktion würde sich verdoppeln, vervierfachen, irgendwann hätten wir den Salat. Immer mehr produzierte Ware müsste vernichtet werden, Milliarden Tonnen Erzeugnisse, fabrikneu, auf den Scheiterhaufen. Oder ins Meer kippen. Alle überflüssigen Erzeugnisse, die niemand haben will.«
Winfried fühlte kalten Schweiß seinen Nacken hinunterlaufen. »Das wäre sehr schade«, sprach er nachdenklich, »letztendlich haben wir ja begrenzte Ressourcen.«
»Heute sind die Hersteller teilweise sehr einfallsreich. Sie bieten einfach weniger. Sollbruchstellen. Die Produkte gehen nach Ablauf der Garantiezeit sofort kaputt. Kreativität bei Verpackung von Lebensmitteln – sie füllen einfach immer weniger hinein.« Gernot zog eine Rolle Chips aus seiner Tasche und öffnete sie mit einem ›Plopp‹. »Wie bei diesem Hersteller, der Unsummen für Werbung ausgibt und beim Produkt spart: diese Packung wird mittlerweile nur noch halb gefüllt, während der Preis gleich geblieben ist. Man kauft statt einer Packung eben zwei.«
»Das ist doch Betrug!«
»Oder kreativ. Selbst schuld, wer das kauft. Es hat sich ein hemmungsloser Verdrängungswettbewerb entwickelt, deswegen versucht man mittlerweile, dass sich Logos fest ins Gehirn einbrennen. Um Menschen auf Marken zu fokussieren. Es vermittelt ein Gefühl von Sicherheit und dass man irgendwo dazugehört. Logos, Sound, Produkte, trivial müssen sie sein. Überlege mal: vier Töne hintereinander. Drei sind gleich, die kennt jeder.«
Winfried flötete vier dramatische Töne. »Beethovens fünfte, natürlich!«
»Mensch! Du bist heute gar nicht bei der Sache. Ich meinte den Telekommunikationskonzern.«
»Ach so. Deren Komposition ist wirklich beschränkt. Übrigens, es sind sogar fünf Töne. Fast schon zu kompliziert für deine Zielgruppe.«
»Nun ja, Geschmackssache. Und egal, ob vier oder fünf Töne. Hauptsache trivial. Vom Marketingaspekt, genial!« Gernot rückte ein Stück näher und senkte seine Stimme: »Es gibt natürlich auch geheime Strategien, um den Gegner auszuschalten. Verdorbene Sachen einzuschmuggeln, Lebensmittel zu vergiften, Kassierer mit Rechenschwäche in Läden einzuschleusen oder sogar Schläger anzuheuern. Daher stellen die immer mehr Security-Leute ein. Manche Konzerne beauftragen sogar Geheimlogen. Erinnerst du dich an Dagobert?«
Winfrieds Augen leuchteten. Endlich ein Thema, mit dem er glänzen konnte: wenn sich das Gespräch um Geschichte, Kultur oder Verschwörungstheorien drehte. »Der legendäre König der Merowinger? Kürzlich habe ich ein Buch gelesen: ›Der Heilige Gral und seine Erben‹. Darin geht es um eine Geheimloge, die sich auf das Erbe König Dagoberts beruft, den Gral besitzen soll und die Herrschaft über Europa anstrebt. Ein geheimnisumwitterter Orden - die Bruderschaft von Zion - soll im Hintergrund operieren. Es soll Verbindungen mit den Ordensmeistern der Tempelritter gegeben haben, heutzutage mit den Illuminaten. Es wird vermutet …«
»Stopp! Heute bist du wirklich neben der Spur! Den Kaufhauserpresser Dagobert meine ich. Die Kunden bekamen es mit der Angst zu tun, später ging die betroffene Kaufhauskette in Insolvenz. So läuft das heutzutage, Winfried. Nicht immer mit den fairsten Methoden.«
»Und niemand schöpft Verdacht, was im Hintergrund laufen könnte?«
»Man muss jedes Misstrauen und alle Verschwörungstheorien schon im Ansatz ausschließen. Echte Profis vermeiden Risiko. Die setzen alles daran, Leute an Symbole zu binden. Bewusst werden nichtssagende Logos entwickelt, die immun sind gegen jede Interpretation. Keine Ähnlichkeit zu Symbolen im Zusammenhang mit irgendeiner Ideologie oder Religion, wie dem Kreuz, dem Halbmond, dem Gral, oder mit was auch immer. Die Sportbekleidungshersteller sind dabei am weitesten – einfach vier Striche oder ein Haken. Punkt! Das ist alles. Oder eine Imbisskette: jeder kennt das gelbe M. Markensymbole zu entwickeln, die so sinnfrei wie möglich sind, ist eine Kunst für sich.« Gernot legte eine Atempause ein. »Oder fällt dir ein Markenlogo ein, das irgendeine Interpretation zulässt?«
»Die mir in den Sinn kommen, sagen wirklich nichts aus«, gab Winfried zu, widerrief aber sofort: »Moment: ein Hamburger-Konzern. Der mit der Krone. Das Symbol steht für Monarchie!«
»Daran habe ich nicht gedacht, aber du hast Recht. In diesem Fall haben die Marketingprofis versagt. Mit dem Logo hat der Laden wohl keine Zukunft.«
»Solchem Kommerz werde ich keine Träne nachweinen.«
»Ich sage dir, wie die Zukunft aussehen wird.« Gernot wechselte in eine tiefere Stimmlage und verdrehte die Augen so, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Seine Glupschaugen traten noch weiter hervor und Winfried wurde schlecht bei dem Gedanken, sie könnten augenblicklich herausfallen. »Meine Vision: Langsam rücken Kampfroboter im Zeichen des gelben M gegen die letzte Filiale des Bürgerkönigs vor und gehen in Stellung. Donald gibt den Angriffsbefehl, endlose Salven werden auf den Gegner abgefeuert – ratata, ratatata! In einem anderen Vorstadtviertel stellen derweil die Krieger der vier Streifen den Sportschuh-tragenden Legionären des weißen Hakens eine Falle …« Gernot setzte seine Rede nun mit normaler Stimme fort und rieb sich die Augen. »Und so weiter. Es wird einen Krieg um die Marken geben. Diese Zeiten werden wir wahrscheinlich nicht mehr erleben, am Ende wird es jedoch nur noch einen einzigen Franchise-Konzern geben.«
»Da muss man wohl hoffen, dass dieses Glück die Firma trifft, bei der du angestellt bist.«
»Das hast du nett gesagt, Winfried!« Gernot bedankte sich und stand auf. »Es war schön, wieder mit dir zu diskutieren. Jetzt muss ich mich sputen. Meine Ex-Freundin hat sich heute überraschend gemeldet und mir meinen unehelichen Sohn aufgedrängt. Den muss ich gleich abholen und in die Abenteuer-City fahren. Übrigens, da hätte ich etwas: ein Erfolgs-Seminar heute Abend. Ich hatte mir eine Karte besorgt, bei mir klappt es ja leider nicht. Aber du hast doch Zeit. Du erfährst, wie du mehr aus dir oder aus deiner Karriere herausholen kannst. Einen Flyer habe ich auch dabei, den lasse ich dir mit der Eintrittskarte hier. Adieu und bis zum nächsten Mal.«
»Adieu, Danke. Erfolgs-Seminar hört sich gut an.«
Eine Weile saß Winfried noch im Café und beobachtete eine Gruppe von vier Jugendlichen, die einen kleinen Jungen in den Schwitzkasten nahmen und brüllten: »Du ziehst sofort deine Schuhe aus, du Hurensohn! Mit den Dingern in unserem Viertel herumlaufen, das geht gar nicht!«
Auf einen Blick erkannte er, worum es bei dem Streit ging: die vier Großen hatten Turnschuhe mit einem weißen Haken, der Kleine trug Schuhe mit vier Streifen. Und er dachte: Der Krieg um die Marken hat begonnen.
60 Euro kostete die Show regulär, ein Plakat am Eingang verkündete in großen Buchstaben wortwörtlich: »Rick Money's Erfolg's-Seminar«, darunter prangte ein roter Schriftzug: »Mit Rick's Geheimtipps, dem Erfolgreichsten aller Erfolgreichen, werden sie Glück Ihres eigenen Schmied's!«
Hmm, dachte Winfried, Rechtschreibung wie ein Hauptschüler. Erfolgreich ist er dennoch. Vielleicht kann ich tatsächlich etwas lernen.
Längst hatten alle in der Stadthalle ihren Platz eingenommen. Der Vortrag hätte schon vor einer halben Stunde beginnen sollen, dennoch warteten die Zuschauer auf ihren teuren Sitzplätzen geduldig und starrten auf die Bühne. Das Licht flackerte. Auf einmal herrschte Totenstille, unterbrochen nur durch vereinzeltes Hüsteln. Die Beleuchtung wurde gedimmt, bis der Saal in vollkommene Dunkelheit gehüllt war. Trommelwirbel setzte ein. Anfangs als leises Geräusch im Hintergrund, wurde es lauter. Ein Schatten huschte über die Bühne, vereinzelte Funken sprühten, verwandelten sich in gleißendes Feuerwerk, es folgte ein greller Blitz und die Zuschauer wurden einen Sekundenbruchteil geblendet. Martialische Fanfaren erschollen, die Bühne wurde mit Licht geflutet und es erschien …
Ein Gnom! – dachte Winfried.
Rick Money, bekannter Erfolgsprediger, Arnulf Seidler mit bürgerlichem Namen, stand auf der erleuchteten Bühne. Stolz und mit hoch erhobenem Haupt ließ er seinen Blick über das Publikum schweifen. Die Ähnlichkeit mit einem Gnom fiel jedem sofort ins Auge. Oder seine Erscheinung wäre - da nicht eindeutig definiert ist, wie ein Gnom aussieht - eine gute Vorlage für einen Gnom.
Zurück zur Show: seine von Natur aus unvorteilhafte Erscheinung machte der leicht untersetzte, mit kahl rasiertem Haupt und abstehenden Ohren gesegnete Mann mehr als wett durch seinen perfekt sitzenden Anzug und dem wie in Stein gemeißelten glückseligen Gesichtsausdruck.
Rick hüpfte auf der Bühne hin und her, legte ein Headset an und begrüßte seine Zuschauer. »Ich kann es mit Worten kaum ausdrücken, wie ich mich über euch freue! Es ist einfach wundervoll, dass ihr alle gekommen seid. Mit meiner Show bin ich durch die große weite Welt gereist, war in New York, Paris, London. Und letzte Woche in Stuttgart. Wisst ihr, in welcher Stadt ich am liebsten bin? Wo es das beste Publikum der Welt gibt?« Nach einer effektvollen Kunstpause, in der sein Blick über die Zuschauer schweifte, beantwortete er die Frage selbst:
»In Frankfurt!«
Die Zuschauer applaudierten, einige riefen stolz: »Unsere Stadt!«
Ein perfekt gestylter Mann mit weißem Hemd und Sakko neben Winfried flüsterte: »Das ist witzig! Ich war bei der Show in Stuttgart. Rate mal, wo dort das beste Publikum der Welt sitzt? Natürlich in …«
»Pssst!«, zischte eine Dame in der Reihe hinter ihnen.
Rick weihte nun das Publikum in eines seiner Erfolgsgeheimnisse ein: »Ihr müsst euch einfach gut verkaufen! Ihr seid besser als all die anderen! Denkt immer an euren Erfolg und kämpft nur für euch. Schaut mich an: ich habe es geschafft! Sagt zu euch selbst: ich bin der Beste! Aber warum erzähle ich euch das und behalte dieses Wissen nicht einfach für mich?« Fragend richtete er seinen Blick unscharf in die hinterste Reihe: »Ja! Genau dich meine ich! Warum musst du der Beste sein?«
»Das werde ich erklären«, rief er laut: »Denn: was ist das Wichtigste im Leben? Familie, Freunde, Gesundheit?« Enthusiastisch hüpfte er auf und ab, warf dem Publikum eine Frage nach der anderen zu: »Eine Familie, auf die man sich in der Not verlassen kann? – Freunde, die zu einem stehen? – Gesundheit, auf die man sich nicht immer verlassen kann? Eine Familie kann ohne Geld nicht existieren. Geld kann aber ohne Familie existieren. Freunde? – die wollen wohl kaum befreundet sein mit jemandem, der pleite ist! Denn wer Geld hat, ist auf Freunde nicht angewiesen, kann sich aber seine Freunde aussuchen. Trifft man sich mit vielen nicht nur aus Höflichkeit, aus Mitleid? Scheut man sich nicht davor, zu selektieren und die Unbrauchbaren auszusortieren? Warum muss man sich ständig das ewige Gejammer, bei dem es meistens ums Geld geht, anhören?«
Im Publikum war aufgeregtes Gemurmel zu hören. Ein empfindlicher Nerv war getroffen.
»Ist nicht das Wichtigste im Leben: gesund zu bleiben? Was ist, wenn man krank wird und Geld braucht, um sich ein neues Organ zu kaufen?« Rick ließ sich in einer theatralischen Geste mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Boden fallen, hysterisches Geschrei aus dem Publikum folgte. Er sprang wieder auf, wandte sich mit eindringlichem Blick ans Publikum und flüsterte: »Also, was ist das Wichtigste im Leben?«
Einige Zuhörer standen begeistert auf und riefen: »Geld, Geld, Geld!«
»Wegen der Show bin ich gar nicht hier«, flüsterte der gestylte Mann neben Winfried, »ich suche nur nach einer Affäre. Alle Frauen, die in so ein Seminar gehen, sind leicht zu haben. Die kann ich leicht um den Finger wickeln, wenn ich von meinem Porsche erzähle, der Villa, meinem Pool und der Finca auf Mallorca. Sofort hängen sie an mir dran. Wollen alles sehen: dann Sorry, mein Porsche ist gerade in der Werkstatt, die Villa wird gerade umgebaut – deswegen muss ich momentan leider im Hotel übernachten. Nach einer Nacht, Ciao! Pech gehabt, aus der Traum und zerplatzt wie eine Seifenblase. Ein Riesenspaß, sage ich dir! Die Frauen sind alle willig, wenn man auf supererfolgreich macht. Schade, dass solche Erfolgsseminare so selten stattfinden. Das kostet mich als Hartz-4-Empfänger keinen Cent. Den Eintritt übernimmt die Arbeitsagentur als Qualifizierungsmaßnahme.«
So ein Schwätzer! - murmelte Winfried lautlos. Gleichzeitig meldete sich sein Magen mit heftigem Sodbrennen. Meine Nerven …
»Wem könnt ihr trauen?« Rick tanzte auf der Bühne und warf weitere Fragen in die Runde: »Freunden vielleicht? Die könnten schon am nächsten Tag ihre Masken ablegen und mit eurem Geld abhauen. Oder Geschwistern? Wenn's ums Erbe geht, zählt Verwandtschaft nichts. Ganz sicher doch: den Eltern? Im Alter haben die doch ihre eigenen Sorgen. Der Ehepartnerin?« Er stutzte. »Ich wollte niemanden diskriminieren, deswegen gilt das auch für den Ehepartner.« Nach kurzem Gelächter in den Zuschauerrängen fuhr er fort: »Auch der kann sich unerwartet mit eurem Geld aus dem Staub machen« Er grinste breit über das ganze Gesicht.
Eine Weile behielt er diesen Gesichtsausdruck bei. Einen Moment später verkehrte sich seine Miene in eine teuflische Fratze, rotes Scheinwerferlicht tauchte die Bühne in dämonisches Licht und begann bedrohlich zu flackern, als wäre ein Höllenfeuer entbrannt. Er sprach jedes Wort langsam und mit tiefer Stimme aus. »Ihr denkt, ihr könntet irgendjemandem auf dieser Welt vertrauen?«
Das Licht änderte sich in weiß und Rick setzte wieder einen glückseligen Gesichtsausdruck auf, zog ein Bündel Geldscheine hervor, schritt bedächtig bis ans vordere Ende der Bühne, sodass ihn die vordersten Zuschauer mit ihren Händen berühren konnten - was auch einige begeistert taten - und sortierte die Geldscheine so, dass sie zwei Fächer bildeten. Mit erhobenen Armen und vollkommen zufriedenem Lächeln, einer Buddha-Statue gleich, hielt er die Geldscheine in die Höhe und rief: »Diesen könnt ihr vertrauen!«
Eine Zuhörerin konnte sich nicht mehr halten, zerriss ihre Bluse, entblößte eine beachtliche Oberweite und schrie: »Rick, ich will ein Kind von dir!«
»Dazu kommen wir später«, erwiderte er mit leichtem Grinsen. Winfried stellte sich die Kombination vor, ein Gnom mit solch riesigen … das, was er sich gerade vorgestellt hatte, schockierte ihn derart, dass er versuchte, das Bild für alle Zeiten aus seinem Gedächtnis zu tilgen.
»Bevor wir zum Schluss kommen«, sprach der Vortragende, »will ich euch nicht vorenthalten, dass ich viele Tipps auch schriftlich festgehalten habe. Ich will Sie kurz auf mein neues Werk hinweisen: Wie werde ich reich ohne zu stinken. Kauft, ihr werdet es nicht bereuen!«, und zwinkerte dem Publikum zu: »Ich gebe euch noch einen Leitspruch auf den Weg. Denkt immer daran: jeder ist seines Schmiedes Glück.«
Belustigt ergänzte Winfrieds Sitznachbar: »doch nicht jeder hat ein schönes Stück!« Winfried murmelte für ihn unhörbar: Mir reicht's gleich, halte endlich deinen Mund!
Zum Schluss erhob Rick seinen Arm zum Publikum. Die rechte Hand zur Faust geballt, rief er den Zuschauern zu: »Jetzt der Schlachtruf: Hossa! Und alle: HOSSA!«
Mit gestreckter Hand wäre das jetzt strafbar, dachte Winfried.
Nach und nach stimmten immer mehr Leute in das Kommando ein, bis die aufgeheizte Menge wie aus einer Kehle brüllte: »HOSSA! HOSSA! HOSSA!«, was sich eine Viertelstunde hinzog, während Winfried darüber nachdachte, was der Erfolgsprediger vorgetragen hatte. Was hat er eigentlich gesagt? Etwas Wichtiges müsste doch dabei gewesen sein. Nur an die ständigen Kommentare des aufgetakelten Gigolos neben ihm konnte er sich erinnern.
Das Publikum strömte dem Ausgang zu, dem Saal folgte eine Lounge. Begleitet von einer stark aufgebrezelten Blondine mit hochhackigen Schuhen drängte sich Winfrieds Sitznachbar herbei und stellte ihn seiner neuen Eroberung vor: »Das ist Ronald, mein bester Freund und Geschäftspartner« und blinzelte ihm schelmisch zu. Die Blondine schüttelte lächelnd Winfrieds Hand und das Pärchen entschwand händchenhaltend durch den Ausgang.
*
Das Jahr ging dem Ende zu. Es war Dezember und die Erstürmung der Burg begann. Verzweifelte Hilfssoldaten warfen Steine die Außenmauer hinab, konnten die zahllosen feindlichen Ritter jedoch kaum abwehren. Erneut lehnte eine Leiter an der Außenmauer, ein Soldat eilte zur Verteidigung herbei. Zu spät: sein abgetrennter Kopf schwebte kurz in der Luft, nahm im nächsten Augenblick Bodenkontakt auf.
An seiner Stelle stand ein Ritter in schwarzer Rüstung und erledigte den nächsten Soldaten mit einem Handstreich. Sein Langschwert in die Höhe reckend, eilte er auf Winfried und seinen Kumpanen zu, die ihre Kurzschwerter zogen und in Stellung gingen.
Der schwarze Krieger schlug aggressiv auf sie ein. Winfrieds Kumpan wehrte ab und vollzog einen Hieb, der jedoch ins Leere ging, eilte zu einem Pult und notierte etwas, während Winfried in Bedrängnis geriet. Er kehrte zurück, parierte einen Schlag des schwarzen Ritters, lief erneut zu seinem Pult und nahm eine Notiz vor. »Was schreibst du dort ständig?«, rief Winfried ihm zu. »Hilf mir lieber und kämpfe!« Aus dem Augenwinkel sah er die Notiz: Schlag pariert, mittlere Schwierigkeit: Multiplikator 2.5 auf einem Blatt mit der folgenden Überschrift: Gebührenordnung für Ritter.
Plötzlich erkannte Winfried, wer sein Waffengefährte war. Sein Zahnarzt Dr. Ritter. Kurz war er abgelenkt, mit einem harten Schlag fegte ihm der schwarze Kämpfer das Schwert aus der Hand, warf ihn zu Boden, führte ihm die Klinge zum Hals und begann schallend zu lachen. »Haha! Jetzt bist du erledigt, kleiner Wicht!«, rief er mit bösartigem Grollen. Er zog das Visier seines schwarzen Helms hoch und Winfried blickte in das Gesicht einer Fliege, einer gemeinen Stubenfliege … Moment, das ist doch das Gesicht meines Chefs! Schwitzend schreckte Winfried hoch und war einen Moment verwirrt. Er richtete sich auf. Was war das denn für ein fürchterlicher Traum?
Im Festsaal der Firma fand eine Weihnachtsfeier statt. Die Führungskräfte saßen nahe der Bühne an zwei Tischen. Winfried und seine Bürokollegen wurden gesondert platziert, auf Klappstühlen in der hintersten Ecke.
»Ich will vorab bekannt geben, dass ich heute einige Ankündigungen zu vermelden habe«, eröffnete der Geschäftsführer die Feier. »Wegen des Strukturwandels müssen wir im Bereich des Personals mit sozialverträglichen Maßnahmen reagieren. Aber, bevor ich mit der Tür ins Haus falle, begrüße ich herzlich alle Mitarbeiter zu unserer Weihnachtsfeier. Und da mir vor wenigen Tagen mitgeteilt wurde, dass die finanzielle Förderung unseres Integrationsprogramms staatliche Zustimmung erfahren hat, begrüße ich besonders: unsere Menschen mit Migrationshintergrund!«
»Sag doch gleich, dass ich gemeint bin!« Jorge alias Waldemar stand auf und brüllte: »Ich bin Ausländer! Ein Mensch zweiter Klasse!«
Alle Köpfe drehten sich um, viele Augenpaare richteten sich in die hintere Ecke. »Pssst!«, zischte Winfried, »sei doch ruhig! Muss das immer sein?«
»Die derzeit schwierige konjunkturelle Lage«, fuhr der Geschäftsführer fort, »zwingt uns, über die Effizienz bestimmter Abteilungen nachzudenken. Einiges ist zu optimieren. Und, wenn es nicht anders geht, müssen wir …« Er zögerte kurz und sprach leiser: »zum Wohl unseres gesamten Unternehmens den einen oder anderen Bereich verschlanken.«
»Werden Leute rausgeschmissen?«, rief Jorge alias Waldemar. »Zuerst sind es bestimmt Ausländer wie ich, bevor ein Nazi gehen muss!«
Der Geschäftsführer atmete tief durch und starrte, um Fassung ringend, in die vorlaute Ecke. »Ich wollte das eigentlich anders formulieren.« Er wurde laut: »Aber eure Abteilung verursacht ausschließlich Verluste! Ihr baut nur Mist, alle leiden darunter! Und das seit Jahren. Ich frage mich, was ihr den ganzen Tag anstellt! Kürzlich war ich dort und habe mitbekommen, was ihr so treibt: es wurde Fang-mich-doch auf dem Gang gespielt!«
Verstohlene Seitenblicke zum promovierten Mathematiker Dr. Weingarten folgten. Für ihn hatte immer noch niemand eine Idee, wie man ihn sinnvoll hätte beschäftigen können. Leises Schluchzen war zu hören.
»Genaugenommen heißt sozialverträglich«, endete der Geschäftsführer seine feierliche Rede: »ich werde eure Abteilung dicht machen, das ist für den Rest des Unternehmens sozial verträglich!«
Dr. Weingarten war der Einzige, der von der Nachricht überrascht wurde. Er reagierte mit schockiertem Gesichtsausdruck: »Was? Verlieren wir Jobs?«
»War es das, was du wolltest?«, wandte sich Rainer an den vorlauten Spanier. »Ihn derart zu provozieren?«
»Ja!«, antwortete der Angesprochene lächelnd. »Ich wollte ehrlich und direkt hören, wie es läuft und was auf uns zukommt. Mich hat dieses nichtssagende, ausweichende Gerede genervt. Jetzt ist es raus.«
Wie lange hatte Winfried überlegt, die Flucht zu ergreifen und aus dem Betrieb abzuhauen. Dies hatte sich nun erledigt.
Das erste Mal seit vielen Jahren lächelte sein Chef. »Ah, der Herr Kunze. Sie kommen gerade recht, um Ihre Kündigung abzuholen«, sprach er gutgelaunt, als Winfried sein Büro betrat und reichte ihm einen Zettel: »Hier. Am besten, Sie packen Ihre Sachen sofort und verlassen den Betrieb. Ihren Resturlaub habe ich berechnet, der genügt für den Zeitraum der Kündigungsfrist. In Ihrem Sinne habe ich schon einen Antrag gestellt und genehmigt. Den Urlaub nehmen Sie ab sofort!«
»Danke«, sagte Winfried, fragte sich aber im nächsten Moment, wofür. Er murmelte kurz: »In Ordnung.«
Nachdem er sich von seinen Kollegen verabschiedet hatte, ließ er zum letzten Mal die Tür seiner Firma hinter sich zufallen. Nie wieder dieser Saftladen! Niemals wieder!
Tief bewegt und nachdenklich wandte er seinen Blick in die Ferne, atmete die wohltuende Luft der Freiheit, ließ sie tief in seine Lungen strömen. Die Sonne durchdrang seinen Körper, die Wolken bildeten sphärische Wesen. Sein Geist wanderte umher, stieg in die Höhe, wurde zu einem Vogel, der hoch durch die Lüfte schwebte, über das Firmament hinaus. Von dort sah er, wie unten seine körperliche Gestalt in der nachmittäglichen Sonne die ersten Schritte in die Freiheit unternahm. Er war ein Tier, das lange in Gefangenschaft gehalten wurde und ins Leben zurückgekehrt ist.
Ich bin frei!