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Die Bewerbung
Оглавление»Du musst doch etwas machen. Irgendwas!«
In letzter Zeit gingen ihm die vorwurfsvollen Bemerkungen aus seinem Bekanntenkreis immer mehr auf die Nerven, daher durchstöberte er in einer Wochenendausgabe der Regionalzeitung die Stellenangebote und bewarb sich bei zwei Unternehmen. Mit Erfolg. Zwei Vorstellungsgespräche wurden vereinbart, geschickterweise ließen sich beide Termine auf zwei aufeinanderfolgende Tage legen.
Schon den Tag zuvor hatte Winfried sich nach Stuttgart begeben und in einem Hotelzimmer einquartiert. Als er vormittags durch das Summen seines Weckers langsam wach wurde, kamen ihm zunehmend Zweifel, ob er das Vorstellungsgespräch derart aufgeregt überstehen würde. Es ist zu früh, mein Schädel brummt, ich fühle mich gar nicht wohl. In der Minibar entdeckte er einen hochprozentigen Drink mit Namen ›Seelenerfrischer‹, leerte ihn in einem Zug und sprach sich Mut zu. Ein kräftiger Schluck am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen. Und den Kater. Und beruhigt die Nerven.
Als er im Bad seinen Kulturbeutel öffnete, fiel eine Dose mit kleinen bunten Pillen heraus. Seit Jahren befand sich diese schon ungeöffnet in der Tasche, ein Überbleibsel aus seiner Party-Zeit, das ihm damals ein Freund besorgt hatte. Es würde ihm gut tun - hatte dieser versprochen - und eine euphorische Stimmung hervorrufen. Die hätte er jetzt dringend nötig. Die passende Gelegenheit, die Wirkung einmal zu testen. Nachdem er eine der Pillen geschluckt hatte, bemerkte er noch keine Veränderung, jedoch machte es ihn optimistischer. Ich bin bereit für das Gefecht. Es kann losgehen.
Der Termin fand bei ›Quickdeal Ltd.‹ statt, einem IT-Unternehmen in Stuttgart, das sich auf Finanzsoftware spezialisiert hatte. Verabredet war er mit zwei Interviewpartnern: mit Herrn Schadmeier, dem Human-Resources-Beauftragten sowie einem russischen IT-Experten.
Am Empfang wurde er nach fünf Minuten abgeholt von einem Herrn, der sich mit einem markanten Akzent vorstellte: »Ich bin Oleg Popowitsch, russischer IT-Professional«, und Winfried die Hand schüttelte. »Ich bin erfeut, Sie kennenzulernen.«
Der Mann führte ihn in einen Konferenzraum. In einem unbeobachteten Moment zückte Winfried ein Taschentuch und reinigte sich die Hände.
Ein korpulenter zweiter Herr betrat das Zimmer, zog seinen Bauch ein und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin der Human-Resources-Beauftragte Fabian Schadmeier. Wie war nochmal ihr Name?«
»Winfried. Winfried Kunze«, stellt er sich mit festem Händedruck vor.
Alle nahmen Platz, der Human-Resources-Beauftragte benötigte dafür etwas länger, da die Stühle im Raum für seine Statur deutlich zu eng waren.
»Zuerst will ich Ihnen unser Unternehmen kurz vorstellen: in unserer Nische sind wir breit aufgestellt«, erklärte er, während Winfried den im Sitz eingezwängten Körper betrachtete. »Wir sind auf High-Speed-Handel spezialisiert«, fuhr er fort, »das bedeutet, wir entwickeln Software, die alle Börsengeschäfte analysiert und im Bruchteil einer Millisekunde reagiert.« Er wandte sich an seinen Nachbarn. »Mein Kollege von der IT kennt sich damit besser aus, er wird Ihnen das genauer erklären.«
»Beim Börsenhandel ist es so: ständig liegen Kauf- und Verkaufsaufträge von Wertpapieren vor, die darauf warten, bedient zu werden«, holte der Russe aus. »Kommt ein neuer Auftrag hinzu, dann kann ein Kontrakt zustande kommen. Genau in dem Moment kommen wir ins Spiel. Wenn eine Differenz vorhanden ist, reagiert die Software. Sie blockiert das neue Gebot und nutzt den Augenblick, um die Wertpapiere billiger zu erwerben und sofort wieder zu verkaufen. Einen oder zwei Cent teurer. Das passiert in Bruchteilen einer Sekunde.«
»Und in der Summe verdienen wir damit Millionen!«, riss der andere das Wort wieder an sich.
»Ich bin begeistert«, meldete sich Winfried zu Wort, der durch die gerade einsetzende Wirkung der Droge farbenfrohe kleine Feen durch den Raum schwirren sah.
»Ich merke, Sie haben die passende Einstellung zum diesem Beruf. Nun zu Ihnen, Herr Kunze: Sie waren in der langen Zeit ihrer Festanstellung auf Derivate spezialisiert. Sie haben somit einschlägige Erfahrung in der Finanzbranche.« Bei den folgenden Worten zwinkerte er ihm schelmisch zu, »mit solchen phantastischen Produkten – kann man das so sagen?«
»Ja, einschlägige Erfahrung«, antwortete Winfried und erinnerte sich an die nächtliche Aktion mit Waldemar, nachdem sie ihren Job verloren hatten und die Scheiben ihres Bürogebäudes zertrümmerten.
Sein Gesprächspartner blickte ihn erwartungsvoll an. Er stellte die nächste Frage: »Wie würden Sie ihre Arbeit im Büro beschreiben? Wie beurteilen Sie das Verhältnis mit ihren Kollegen?«
Die Fang-mich-Spiele im Bürogebäude kamen ihm in Erinnerung, ebenso wie die Situation, als sich die Teamassistentin aus dem Fenster im zehnten Stock gestürzt hatte. Er formulierte vorsichtig und fasste zusammen: »Die Arbeit war sehr abwechslungsreich. Mal stand der Spaß im Vordergrund, mal der Ernst.« Er erinnerte sich daran, wie die Feuerwehr mindestens einmal pro Woche angerückt war und danach eine saftige Rechnung wegen Fehlalarms gestellt wurde. Und erklärte dies so: »Manche Kollegen hatten besonderen Spaß beim Einsatz während der Arbeitszeit. Dieser Einsatz wurde auch zusätzlich vergütet.« Seine Gedanken schweiften zu den letzten Monaten, die er in der Spielothek verbracht hatte und setzte mit ernstem Blick fort: »Wir waren ein eingespieltes Team« und fügte in Erinnerung an Dr. Weingarten hinzu: »… bis dass der Tod uns scheidet.«
Die Gesprächspartner schauten ihn verdutzt an. Und nickten sich gegenseitig zu, was bedeutete, dass sie zwar nichts verstanden hatten, aber das Gespräch weiterführen wollten.
Sein Gegenüber stellte ihm mit durchdringendem Blick die nächste Frage: »Wie kamen Sie mit ihrem Vorgesetzten zurecht?«
Als Winfried an seinen Chef dachte, meldeten sich seine Gewaltphantasien: bei lebendigem Leib schlitzte er ihm die Brust mit einem Dolch auf und riss ihm das Herz heraus. Er antwortete: »Herzlich!« Nun drängte sich Satan in seine Phantasie, dem er das Herz und die Seele seines Chefs verkaufte. Er nickte mit dem Kopf, um die brutalen Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben und sprach: »Ein Herz und eine Seele!«
Der Personalbeauftragte musterte ihn eine Weile. Seine Miene hellte sich auf. »Das hört sich ja alles wunderbar an!« Gutgelaunt versank er in die Notizen, die er vor sich ausgebreitet hatte und begann, vor sich hinzusummen. Er hob seinen Kopf wieder und fuhr fort: »Ich beginne jetzt mit ein paar persönlichen Fragen. Was sind Ihre Schwächen?«
Winfried repetierte, was er gelesen hatte in ›Bewerben wie die Profi's‹ von Wilma Röhren und Wolf Reiss. Bei der Frage nach Schwächen empfahlen die Autoren, auszuweichen und so zu antworten, dass man Stärken vorgaukelt. Die natürlich nicht vorhanden sind.
»Meine größte Schwäche ist, dass ich sehr fleißig bin, früh bei der Arbeit erscheine und spät Feierabend mache. Häufig bin ich derart engagiert und zeige so intensiven und produktiven Arbeitseinsatz, dass es meinen Arbeitskollegen Schwierigkeiten bereiten könnte, mitzuhalten und sie neidisch auf mich und meinen Arbeitseifer werden könnten. Natürlich kommt der Fall selten vor, meistens sind alle dankbar für die Leistung und beeindruckt von mir.«
Als sein Blick umherwanderte und auf dem Bücherregal hinter dem Rücken seines Gesprächspartners hängen blieb, fiel ihm etwas auf: Das Buch kommt mir doch bekannt vor. ›Anstellen wie die Profi's‹ von Wilma Röhren und Wolf Reiss. Perfekt! Die Autoren sind wohl Doppelagenten und arbeiten für beide Seiten. Einmal schreiben, zweimal verkaufen. Schlau!
Der Gesprächspartner nickte und stellte die nächste Frage: »Haben Sie noch andere Schwächen?«
»Häufig nehme ich zu viel Rücksicht auf weniger leistungsfähige und schwächere Kollegen«, antwortete Winfried aus dem Effeff, »und versuche sie voran zu führen, sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Dadurch komme ich nicht immer so schnell wie gewohnt mit meinen eigenen Aufgaben voran, werde manchmal nicht so früh vorzeitig fertig, wie man es von mir gewohnt ist. Dennoch immer rechtzeitig und termingerecht. Dank meines überragenden Fleißes und Arbeitseinsatzes.«
Fast sprang sein Gesprächspartner nach der perfekten Wiedergabe dieser auswendig gelernten Antwort freudig auf, wurde jedoch daran gehindert, als der Stuhl am seinem Hintern hängen blieb. Er hielt daher seinen Vortrag sitzend: »Leute wie Sie, zielorientiert arbeitende Teamplayer, suchen wir händeringend. Ich kann mir eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen vorstellen. Soweit Danke für das nette Gespräch und die hervorragenden Antworten auf meine Fragen. Bleiben Sie erreichbar. Sie werden in den nächsten Tagen von uns hören.«
Winfried nickte, bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln und dachte: Danke dafür, dass diese entsetzliche Tragödie von Gespräch jetzt endlich zu Ende ist. Ich habe es überstanden. Diese Wortverdreherei war nervenaufreibend.
Winfried schlenderte eine Weile durch die Fußgängerzone Stuttgarts mit dem Ziel, sich mit dieser neuen Stadt anzufreunden. Ab und zu blieb er stehen und warf einen Blick in die Schaufensterläden. Vielleicht wird das hier meine Heimat. Als es Abend wurde, besorgte er sich in einem Supermarkt einen Sechserpack Bier, schleppte ihn in sein Hotelzimmer und setzte sich vor den Fernseher. Mit der Fernsteuerung ließ sich nur ein einziger Sender auswählen: ›Verbotener Kanal‹, in dem gerade ein Film begann.
Ein schwarz gekleideter Mann klingelte an einer Haustür. Als ihm eine Frau im Bademantel die Tür öffnete, sprach er: »Ich bin der Priester.«
»Gut, dass Sie kommen«, hauchte die Frau leise, »mein verstorbener Partner liegt im Schlafzimmer. Geben Sie ihm den letzten Segen.«
Die Beiden standen nun in einem Zimmer. Dort lag ein Mann reglos auf dem Bett, der Priester zog ein Kreuz auf dessen Stirn und murmelte: »Fahre auf in den Himmel, Amen!«
»Dankeschön, Herr Priester«, flötete die Frau und fragte: »Wer tröstet mich jetzt?«, ließ ihren Bademantel zu Boden fallen und stand nun nackt vor ihm.
Der Priester antwortete: »Ich«. Er zog seine schwarze Robe aus, sie gingen zum Bett und neben dem reglosen Mann kamen sie stöhnend zur Sache.
Was für ein Schmutz! Winfried schaltete verärgert den Fernseher aus. Als ob das Leben so einfach wäre! Eigentlich wollte er seinen im Bewerbungsgespräch angestauten Stress bei einem niveauvollem Film abbauen und sich jetzt entspannen. Er starrte auf den schwarzen Bildschirm und stellte sich in seiner Phantasie den Film vor, der dort laufen würde. Und nickte ein.
Als er am späten Nachmittag des folgenden Tages aufwachte und wie üblich ein starkes Brummen im Schädel verspürte, fiel ihm ein: Vormittags hätte ich zum Vorstellungstermin beim zweiten Unternehmen erscheinen müssen. Verschlafen. Mist. Egal. Bei dem ersten Saftladen sah es ja sehr gut aus. Winfried brauchte nun Medizin. Er griff nach dem letzten mit Hochprozentigem gefüllten Fläschchen in der Minibar und leerte es in einem Zug.
Es wird Zeit, mich auf den Weg zur Arbeit zu machen, kam ihm in diesem Moment der Gedanke an seinen täglichen Besuch der Spielothek in den Sinn. Er stutzte, da ihm auffiel, dass irgendetwas anders war. Ihm wurde klar: Ich bin ja woanders. Erst muss ich wieder heim, zurück nach Frankfurt.
Er packte seinen Rucksack, machte sich auf zum Bahnhof und war kurz darauf wieder in der Finanzhauptstadt Europas.
Aus seinem Bewerbungsratgeber erfuhr Winfried, man solle regelmäßig an den Folgetagen die Gesprächspartner mit telefonischen Nachfragen traktieren, um sich vehement in Erinnerung zu rufen. Möglichst früh, um 8 Uhr morgens. Wenn man keinen erreicht, eine Stunde später. Frühaufsteher haben die besten Chancen.
Er stellte nun für jeden Morgen seinen Wecker auf 7:45 – das reichte, um sich mit einem geistreichen Schluck auf das wichtige Telefonat einzustimmen. Nach dem Gespräch gönnte er sich ein Bier und legte sich wieder ins Bett, um weiterzuschlafen.