Читать книгу Winfried von Franken - Michael Sohmen - Страница 3
Der Abstieg
ОглавлениеWinfried wurde durch den Lärm heimfahrender Berufspendler geweckt. Es war später Nachmittag.
Auweia! - war der erste Gedanke in seinem brummenden Schädel - ich brauche erst mal einen Schluck Magenbitter gegen den Kater. Er leerte eines der Fläschchen in einem Zug, setzte sich auf die Bettkante und grübelte. Er geriet in Zorn, ärgerte sich über die Vergangenheit, über die Zukunft, die Dummheit der Menschen. Über alles, was ihm in den Sinn kam.
Ich muss mich entspannen und mir etwas Schönes vorstellen! Er versuchte, seinen Gedanken eine positive Richtung zu geben. Ein weißer Sandstrand in der Südsee, leises Rauschen des Meeres, wolkenloser Himmel und die helle Sonne, die mir auf den Bauch scheint. Mich wärmt. Hoch über mir schweben Möwen, die mit gleichmäßigen Flugbewegungen rhythmische Tänze aufführen. Er atmete tief durch und ließ seine Gedanken fortdriften. Sonne, Meer, Wellen. Glasklares Wasser, das sanft über feinkörnigen Sand rauscht, innehält, sich wieder zurückzieht. Sein Blick wanderte zu den Sanddünen, über die der leichte Wind einzelne Sandkörner fegte. Zum Meer. Von der Wonne dieses Augenblicks angenehm beseelt, spazierte er durch den sonnengewärmten Sand zum azurblauen Wasser und fühlte, wie leichte Wellen seine Füße umschmeichelten. Sein Blick in die Ferne gerichtet, wanderten seine Gedanken über das Wasser, zum Horizont, darüber hinaus.
Winzige Fische flitzten vorbei. Er schluckte Wasser, konnte nicht atmen. Ein Arm legte sich um seinen Hals, jemand nahm ihn in den Schwitzkasten und drückte ihn unter Wasser! Verzweifelt suchten seine Hände nach Halt und griffen ins Leere. Hilfe! Sein Schrei blieb stumm, Wasser drang in seine Lungen. Hilfe! – hörte er sich blubbern, verzweifelt schlug er um sich und trat mit den Füßen. Wo ist mein Gegner? – er versuchte, ein Ziel zu finden, ließ seinen Ellbogen nach hinten schnellen. Und traf. Ein dumpfes Platsch! Etwas fiel ins Wasser. Seine Füße fanden Halt, hastig durchbrach er mit dem Kopf die Wasseroberfläche, schnappte nach Luft, hustete. Auf dem Wasser trieb ein regloser Körper, bewusstlos, mit dem Kopf nach unten. Er griff danach, drehte ihn um und erkannte ein Gesicht. Ist es eine Fliege?! Nein! Es war sein Ex-Chef, der sich wieder in seine Gedanken gedrängt hatte.
Den ohnmächtigen Gegner grub er im Sand so tief ein, dass nur dessen Kopf herausschaute, den Blick zum Meer gewandt. Dessen Bewusstsein kehrte zurück und von seiner unvorteilhaften Position beobachtete dieser nun, wie die Flut einsetzte, das Wasser anstieg und - so stellte Winfried sich das vor - nun verzweifelt winselte: »Befrei' mich doch!«, während sein Kopf langsam in den Fluten versank.
Einen Moment verschaffte ihm diese Phantasie Befriedigung. Doch fiel er zurück in seine depressive Stimmung.
In wachem Zustand hielt er es nie lange zu Hause aus. Ständig spielten sich Gewaltphantasien in seinem Kopf ab, von denen er sich ablenken musste. Er sehnte sich nach dem Märchenland, das immer eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Zeit, mich auf den Weg zu machen. Vielleicht, dachte er, habe ich heute Glück.
Als er bei der Spielothek ankam, hellte sich seine Stimmung auf. Der Platz vor seinem Lieblingsautomaten war noch frei. ›Märchenland‹ flimmerten fröhliche Buchstaben und lockten zum Spiel. Gut gelaunt fütterte er den Automaten mit Münzen und beobachtete die bunten, rotierenden Zylinder des Spielautomaten: Zocken … ich habe meinen Beruf zum Hobby gemacht, dachte er und drückte auf ›Stopp‹. Die Bilder bewegten sich langsamer und blieben stehen: 1x Oma, 2x Wolf, 2x Jäger. Nichts gewonnen, nächstes Spiel, nochmal Rotkäppchen und der böse Wolf. Eine Stunde verging, ohne dass er einen Gewinn einstrich. Es folgte Niete auf Niete, bis die Bilder abermals in ihrer Bewegung innehielten: 2x Rotkäppchen, 3x Wolf. Der erste Gewinn, sein Einsatz wurde gutgeschrieben. Schön! So sollte es bei jedem Spiel laufen. Aber darum kümmere ich mich noch. Erstmal eine Belohnung. Zeit für ein Bier.
Er ging zum Tresen, an dem schon ein Bekannter von ihm saß, den er freundlich begrüßte. »Hallo Doktor!« Es war der promovierte Mathematiker Dr. Weingarten.
»Hallo Winfried! Schön, dich wiederzusehen. Übrigens, könntest du mir heute etwas Geld borgen? Nur wenig, vielleicht 50 Euro?«, bettelte er. »Ich habe eine neue Strategie entwickelt. Diesmal bin ich sicher. Heute kann ich den Automaten knacken!«
»Nein!«, seufzte Winfried und schüttelte den Kopf, »das ist mein letztes Wort. Ich habe dir schon über 500 Euro geliehen. Jedes Mal musste ich mir anhören: diesmal, endlich, klappt es mit dem großen Gewinn. Mit einer neuen Strategie. Immer warst du am Ende pleite.«
»Nur noch ein einziges Mal! Diesmal bin ich ganz sicher!«, sprach er hektisch, »es ist die Chance meines Lebens. So sicher wie der Tod!« Er fiel in einen herzzerreißenden Heulkrampf.
»Beruhige dich doch, Doktor«, redete Winfried beruhigend auf ihn ein, tätschelte ihm den Rücken und ließ sich erweichen. »Ok, weil du es bist. Aber nur zehn Euro. Ausnahmsweise. Und teile dir das Geld gut ein!« Er zückte einen Geldschein.
Freudestrahlend riss Dr. Weingarten ihm den Schein aus der Hand, eilte zum Wechselautomaten und saß kurz darauf vor seinem Automaten. Buchstaben leuchteten darauf: ›Die lustigen Schlümpfe‹.
Winfried beobachtete seinen ehemaligen Kollegen, der wie besessen eine Runde nach der anderen spielte. Von den 10 Euro war mittlerweile nur noch die Hälfte verblieben, schnell schrumpfte es auf 4, 3 und schließlich 2 Euro. Den Blick starr auf den Automaten gerichtet, drückte der promovierte Mathematiker ›Neues Spiel‹ und die Zylinder begannen zu rotieren. Die Bilder rauschten vorbei, wurden langsamer und blieben stehen: 2x Erfinderschlumpf, 3x Überraschungsschlumpf. Das Feld ›Risiko‹ blinkte. Der Doktor wählte den Knopf ›Einsatz erhöhen‹ und das nächste Spiel begann. Bilder rotierten und das Guthaben schrumpfte auf wenige Cent.
Winfried versuchte den besessenen Spieler von seinem Wahn abzubringen. »Doktor, du musst einen Zeitpunkt finden, an dem du aufhören kannst!« Der Angesprochene zeigte jedoch keine Reaktion, sein starrer Blick war auf die vorbeifliegenden Bilder fixiert. Abermals drückte er ›Stopp‹ und die Zylinder rotierten langsamer. Als sie zum Stillstand kamen, zeigten sie fünf blau-rote Figuren. Eine Sirene heulte, das Display fing wild an zu blinken und große Buchstaben verkündeten: ›Jackpot! 17855 Euro gewonnen!‹
Wie paralysiert saß der promovierte Mathematiker vor dem Automaten. Seine Augen weiteten sich. Langsam löste er sich aus der Erstarrung, raufte die Haare und schrie: »Jackpot! Ich fasse es nicht! Fünfmal Papa Schlumpf!« Er kippte seitlich, fiel vom Sitz und blieb reglos am Boden liegen.
Eine Viertelstunde später waren zwei Sanitäter bei ihm sowie ein Notarzt, der Wiederbelebungsmaßnahmen durchführte.
Der Arzt räusperte sich. Traurig verkündete er den Anwesenden: »Es tut mir leid. Der ist endgültig hinüber. Das war wohl zu viel für ihn« und fragte, zur Angestellten an der Kasse gewandt: »Passiert so etwas öfter?«
»Nein«, entgegnete sie, »es ist auch das erste Mal, dass jemand den Jackpot geknackt hat.«
»Das muss Ihnen nicht leid tun«, mischte Winfried sich ein, »das war das erste Mal in seinem Leben, dass er Glück hatte.«
Der Arzt blickte ihn entrüstet an. Sein Ärger verflog jedoch, als er den am Boden liegenden Dr. Weingarten und seinen glücklichen Gesichtsausdruck betrachtete. »Vielleicht«, sagte er nickend, »ist er tatsächlich im richtigen Moment gegangen.«
Ein Flyer, der in der Spielothek auslag, weckte Winfrieds Neugier. »Was kommt nach dem Tod?«, prangte darauf in großen Buchstaben. Eine Frage, die er sich mittlerweile häufiger stellte. Er griff nach einem der Faltzettel, die für ein viertägiges Rückführungsseminar warben und las Kurzberichte von Kursteilnehmern, die über ihre früheren Leben berichten.
Interessant! - dachte er.
Samstag am späten Nachmittag begann die erste Sitzung im Wohnzimmer eines geschmackvoll eingerichteten Privatappartements, die Wände waren tapeziert mit Zeichnungen, die Sternzeichen interpretierten oder Engel in weißen Roben darstellten. Die Wohnung war zugestellt mit Skulpturen aus exotischen Ländern wie Indien, Persien und China. Die Bewohnerin schien vernarrt in das Sammeln von fernöstlichen Kunstwerken zu sein.
Vier Gäste waren eingetroffen und saßen im Halbkreis vor der Seminarleiterin. Nun, da die Runde vollzählig war, trat sie vor die Teilnehmer und eröffnete die erste Sitzung.
»Willkommen bei meinem Rückführungsseminar. Zuerst zu meiner Person: ich bin ein Medium und stehe in regelmäßigem Kontakt zu einem Todesengel. Habt keine Angst: vor den Todesengeln muss sich niemand fürchten, denn es sind gutmütige Geister. Sie leben in beiden Welten, in unserer und in der Astralwelt. Sie begleiten uns, wenn wir diese Welt verlassen und helfen uns bei der Suche nach einem neuen irdischen Körper, in dem unsere Seele ein neues Zuhause finden kann. Sie geleiten uns bei jedem Tod genauso wie beim Schritt in unser neues Leben.«
Sie blickte nacheinander jedem Einzelnen tief in die Augen und fuhr fort: »Eine Astralreise bedarf guter Vorbereitung. Zuerst müssen wir lernen, loszulassen und uns zu entspannen. Wenn wir uns diese Technik angeeignet haben, Helga, Winfried, Dietrich und Irmtraud, können wir unseren Engel anrufen und ihn bitten, uns auf der spirituellen Reise zu begleiten. Wir treffen uns in meiner Wohnung insgesamt viermal. Heute Abend und die nächsten beiden Male werden wir Yoga und Entspannungstechniken trainieren, solange müsst ihr euch in Geduld üben. Beim vierten und letzten Treffen wird jeder die Möglichkeit einer Rückführung bekommen. Ob sie gelingt, liegt bei euch und in den Sternen.«
Die ersten drei Treffen verbrachte die Gruppe mit leichten Übungen für den Körper, während gregorianischer Gesang, der helle Klang von Kristallen und das ruhige Plätschern von Wasser sie entspannte.
Am vierten Tag verkündete die Leiterin freudig: die Vorbereitungen hätten alle erfolgreich gemeistert, nun wären sie bereit, sich der Rückführung zu widmen. Ihr Gesicht wurde ernst und sie mahnte: »Es kann sein, dass ihr schreckliche Erlebnisse bei eurer Reise haben werdet und ihr euren letzten Tod nochmal erlebt. Was ihr sehen werdet, kann ich nicht beeinflussen. Dies hängt alleine davon ab, was der Engel euch zeigen will. Manchmal lässt er uns sogar einen Blick in die Zukunft werfen.«
Die erste Teilnehmerin wurde nach vorne gebeten und sie platzierte sich im Schneidersitz vor der Kursleiterin, die nun begann, vor ihren Augen ein Pendel zu schwingen. Im Hintergrund erklangen leiser Mönchsgesang und die dumpfen Töne einer Marimba. Nachdem die Teilnehmerin eine Weile ruhig dagesessen hatte, sank ihr Kopf langsam auf ihre Brust, sie atmete entspannt, ihre Miene wirkte losgelöst und viele Minuten vergingen, während sie mit einem zufriedenen Lächeln reglos verharrte. Nach einer Weile atmete sie tief durch, blickte die Seminarleiterin glücklich an und berichtete: »Es war wunderschön. Ich war Prinzessin, die schöne Charlotte von Böhmen, lebte in der Burg meines Vaters in der goldenen Stadt und am königlichen Hof. Ich wünschte, ich wäre noch dort.«
Die Teilnehmer murmelten erfreut und applaudierten, behutsam und leise mit den Fingerspitzen, um die meditative Stimmung nicht zu stören.
»Es freut mich jedesmal, wenn die Teilnehmer bei Rückführungen solche schönen Erinnerungen haben wie Helga«, sprach die Kursleiterin fröhlich. »Dietrich, willst du es als Nächster versuchen?«
»Gerne!« Gut gelaunt setzte sich der Angesprochene wie seine Vorgängerin im Schneidersitz vor das Medium. Eine Weile saß er wortlos da, bis sich sein Haupt senkte und er ruhig schlummerte. Nach einiger Zeit hob er seinen Kopf und gab seine Erlebnisse wieder: »Ich war ein Edelmann, hatte in einem Turnier einen Ritter nach dem anderen besiegt, viele Lanzen gebrochen und am Ende den Sieg für meinen großartigen König davongetragen.«
Nun war Winfried an der Reihe. Er begab sich nach vorne, setzte sich, und die Leiterin stimmte einen Singsang an. »Mein Engel, nimm Winfried in die Vergangenheit mit und zeige ihm sein früheres Leben. Löse diese Seele von seinem Körper, führe ihn in den Astralraum und weise ihm den Weg in die vierte Dimension. Ich rufe dich an, Azrael.«
Azrael? So hieß doch der Kater des Hexenmeisters bei den Schlümpfen, dachte Winfried. Er fühlte sich jedoch positiv entspannt und sein Geist ging auf eine Wanderung.
Er fand sich in einer Höhle wieder, zusammen mit anderen Wesen, die schmutzig und am ganzen Körper behaart waren, starken Körpergeruch ausströmten und im Halbdunkel in einem Kreis saßen – um die Reste eines Körpers. Die Wesen nagten an Knochen. Winfried führte seine Hand zu dem Schmaus in der Mitte, griff nach einem der Gliedmaße und riss es mit einem kräftigen Ruck heraus, führte es zum Mund und nagte daran. Er betrachtete das, was ihre gemeinsame Mahlzeit darstellte und erkannte: es war ein Mensch. Oder das, was von ihm übrig war. Dessen Kopf war noch nicht abgenagt und vollständig. Winfried meinte, dieses Gesicht von irgendwoher zu kennen. Es hatte Ähnlichkeit mit Dr. Weingarten! Während sie wortlos und kauend verbrachten, stellte eines der Wesen ihm offensichtlich eine Frage: »Ugh?« - woraufhin er im Kauen innehielt und antwortete: »Ugh!« Die anderen Wesen begannen nun ebenso, sich aufgeregt zu unterhalten: »Ugh, Ugh!« Es schien, als stimmten sie über etwas ab. Jemand von kleinerer Statur fragte verhalten: »Ugh?« Das größte der Wesen und das behaarteste sprang auf, trommelte auf seine Brust und brüllte laut: »Ugh!« Ein lautes Geräusch folgte, jemand entledigte sich lautstark einiger Körpergase.
Langsam verschwand die Umgebung der Höhle und Winfried befand sich wieder im Seminarraum. Die Leiterin vor ihm wurde erneut sichtbar. Als sie bemerkt hatte, dass er geistig wieder zurückgekehrt war, flüsterte sie: »Danke, Azrael, dass du diese Seele auf eine Astralreise geführt hast.«
Winfried stand auf, alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Ihm fiel ein Geruch auf. Es stank gewaltig, widerwärtig, nach Fäkalien. Alle grinsten.
»Du warst wohl gerade … sehr entspannt!«, kommentierte Dietrich lachend. »Egal. So was passiert halt.« Und fragte neugierig: »Wie war's bei dir? Hat es funktioniert? Hast du herausgefunden, was du in deinem früheren Leben warst?«
Helga drängte: »Komm, erzähl schon! Warst du ein Ritter, ein Edelmann? Oder ein einfacher Bauer?«
Winfried stand stumm inmitten der Gruppe. Bis ihn ein Gefühl des Entsetzens vollkommen zerriss. In Panik flüchtete er aus dem Seminarraum.
*
Als er am nächsten Tag seinen Briefkasten geleert und Werbung aussortiert hatte, fiel ihm ein schwarz umrandeter Briefumschlag auf. Wir trauern um Dr. Manfred Weingarten, begann das Schreiben. Eine Einladung zu dessen Beerdigung. Schnell überflog Winfried einige Zeilen mit frommen Worten. Im Anschluss an die Trauerfeier, lautete die letzte Zeile, sind alle Gäste in das Restaurant ›Zum Wilden Mann‹ hinter dem Friedhof eingeladen zum gemeinsamen Leichenschmaus. Sein Blick blieb auf dem letzten Wort hängen. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Mit Entsetzen erinnerte er sich an seine Vision.
Gernot hatte ihn angerufen, er wollte ihn unbedingt treffen und von seiner neuen Geschäftsidee erzählen.
Sie saßen in seinem Lieblingscafé und Gernot begann, von seinem neuen Projekt zu erzählen. »Winfried, geschäftlich werde ich richtig durchstarten. Ich habe meinen Job gekündigt und mache mich jetzt selbstständig.«
Als die Bedienung erschien und fragte: »Was bekommen die Herren?«, zischte Winfried Gernot zu: »Keine dummen Sprüche diesmal!« und wandte sich der Kellnerin zu: »Zwei Bier bitte!« Sie notierte kurz die Bestellung und blickte auf: »Oh … ihr seid es wieder!« und eilte davon.
»Das hört sich ja grandios an«, reagierte Winfried auf den Bericht seines Freundes. »Ich denke ja auch, dass es viel spannender ist, selbst etwas auf die Beine zu stellen, statt im Büro zu sitzen und jeden Tag sein Sitzfleisch zu quälen, bis Feierabend ist.«
»Ein bisschen abwechslungsreicher war mein Job schon. Damit werde ich auf die Dauer aber nicht reich. Jetzt werde ich richtig Vollgas geben, mit meinem Energy-Drink! Monatelang habe ich recherchiert und Marktchancen analysiert. Es fehlt im Prinzip nichts, bis auf …« Er hielt inne. Und freute sich im nächsten Moment: »Ah, da kommt unser Bier!« Die Kellnerin stellte zwei Gläser auf den Tisch und verschwand wieder.
»Was fehlt denn noch?«, hakte Winfried nach.
»Ein durchschlagender Name. Und ein Rezept für das Getränk.«
Winfried überlegte einen Moment und äußerte sich skeptisch: »Also. Wenn du noch keinen Namen hast und noch kein Rezept für das Getränk, was hast du denn bisher schon?«
»Das Rezept ist eigentlich erstmal egal. Die Zutaten von Energy-Drinks sind simpel: Wasser, Zucker, Zitronensäure und fertig. Und natürlich die entscheidende Zutat: Taurin. Das hört sich nach einem wilden Stier an, darauf stehen die Kids. Ich habe schon feste Verträge mit Produzenten abgeschlossen, die meinen Energy-Drink herstellen werden. Nun das Problem: Alle guten englischen Namen, die mir einfallen, sind schon reserviert. Meine Idee war nun, einen deutschen Begriff aus den dunklen Zeiten der Diktatur zu verwenden, den jeder im Ausland kennt. Und der Clou, den ich mir ausgedacht habe: Für eine ganze ›Stalinorgel‹ mit 20 Dosen - das ist viel cooler für die Kids, anstelle von ›Palette‹ - erhält man eine Führerbibel gratis.«
»Das ist absolut illegal! Der Druck des Buches ist doch verboten! Was du vorhast, ist strafbar!«
»Bald nicht mehr. Das Copyright liegt beim bayrischen Staat. Und der lässt es nicht drucken, seit das Recht zur Vervielfältigung mangels Erbberechtigten an ihn übergegangen ist.« Er fuhr grinsend fort: »Zumindest hat sich bisher niemand gemeldet, der so ein Erbe antreten wollte.« Er zog eine verschwörerische Miene: »Ende 2015 verfällt das Autorenrecht und dann darf jeder dieses Machwerk drucken. Die Beigabe zur Energy-Brause ist als zusätzlicher Marketinggag gedacht. Erst muss ich einen durchschlagenden Namen finden, damit die unzähligen Werbemillionen nicht wirkungslos verpuffen.«
»Wahrscheinlich führt so ein Angebot zu einem öffentlichen Skandal«, spekulierte Winfried, »der durch alle Medien geistert. Schlagartig kennt jeder diesen Namen.«
Gernot nickte bestätigend: »Und so kann ich die teure Werbung sparen.«
»Der Skandal klappt bestimmt, aber mit dem Erfolg …«, äußerte Winfried sich skeptisch und lachte: »Wie wäre es mit noch etwas älterem, vielleicht von den Gebrüdern Grimm: ›Rumpelstilzchen‹?«
Sein Gegenüber stierte ihn begeistert an und jubelte: »Winfried, du bist genial! So jemand könnten wir im Marketingmilieu brauchen. Wo alle erst über eine Idee gelacht haben und meinten, die ist ja komplett hirnrissig, da entstanden die wirklich bahnbrechenden Erfolge. Super! Jetzt fehlt nur noch das Rezept für den Drink.«
Winfried nahm einen Schluck aus seinem Bierglas und setzte es sofort wieder ab, als ihm eine Zutat in den Sinn kam. Ihm fiel auf, dass sein Bier heute anders schmeckte als sonst. Ein Gefühl von Übelkeit machte sich in seinem Magen breit.
Die Kellnerin erschien wieder und fragte: »Alles in Ordnung, die Herren? Haben sie noch einen Wunsch?« Als sie bemerkte, dass Winfried angewidert auf sein Bierglas starrte, stotterte sie: »Entschuldigung, ich habe die Gläser vertauscht …« und eilte von dannen.
Gernot wunderte sich: »Die ist komisch. Wir hatten doch beide das gleiche Bier bestellt.«
»Und mein Bier schmeckt seltsam«, merkte Winfried an. »Außerdem ist es viel zu warm.«
*
Winfried hatte sich von seinen Kumpels überreden lassen: da er nun dem Kreis der fast 50-jährigen angehören wird, müsse sein 41. Geburtstag doch angemessen gefeiert werden. Er traf sich mit Gernot, Ralf sowie Dieter und stellte ihnen seinen Ex-Kollegen Waldemar vor, mit dem er immer noch Kontakt pflegte und den er ebenso zum Feiern eingeladen hatte.
Der milde und sonnige Tag fand seinen Ausklang in einer Fußballkneipe. Den frühen Abend verbrachte die Gruppe bei meterweise Bier, dabei wurde hitzig diskutiert, Job war das zentrale Thema.
»Es läuft« Desinteressiert reagierte Winfried auf die Frage, wie sich seine Karriere entwickelt habe. Nickend wiederholte er: »Es läuft, ja, es läuft«, griff zu seinem Bierglas und trank es in einem Zug leer.
Später fuhr Waldemar alle mit seinem Auto - eher einem Wrack, das die Anderen erst mit skeptischem Blick betrachteten, aber dennoch einstiegen - in das Amüsierviertel und parkte es in einer Tiefgarage. Sie liefen zu einer Großdisko, diskutierten über den überhöhten Eintrittspreis: 16 Euro pro Person, entschieden sich - schließlich waren sie nun mal da - zu zahlen und waren bereit, sich in das Gefecht zu stürzen.
Als sie durch das Tor in die Halle eintreten wollten, wurden sie von einem Security-Mann aufgehalten. »Stopp! Ihr könnt nicht rein. Jetzt noch nicht«
»Wieso?«, fragte Ralf entgeistert und bekam zur Antwort: »Man-Strip-Show. Ihr müsst noch eine halbe Stunde warten.«
Aus der Halle war lautes Wummern zu hören, in regelmäßigen Zeitabständen wiederholte sich weibliches Gekreische.
»Hättet ihr uns nicht einfach vor dem Bezahlen informieren können?«, brummte Ralf, »wir wären sofort am Eingang abgebogen und hätten uns auf den Weg in eine andere Disko gemacht.«
Der Security-Mann zuckte mit den Schultern und grinste breit. »Ihr hättet vorher fragen können, ob es heute eine besondere Veranstaltung gibt.«
Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür zur Halle. Drei kleinere Männer schlichen sich vorbei, alle besaßen einen sehr unförmigem Körperbau, der vermutlich das Resultat jahrelanger Einnahme von Steroiden war. Ihre Haut war so intensiv solariumgebräunt, dass sich der Vergleich mit Brathähnchen aufdrängte, die sich tagtäglich bei Karls Imbiss gegenüber des Bürogebäudes drehen.
Der Türsteher gab den Weg frei. »Die Show ist vorbei. Ihr könnt jetzt rein.«
»Los!«, rief Ralf, »stürzen wir uns ins Gefecht und auf die Frauen.«
Auf den ersten Blick schien es, als wäre heute eine Tanztee-Veranstaltung. Ausschließlich weibliches Publikum war in der Halle, fast nur Seniorinnen.
Während Waldemar schon benommen war, sich am Tresen festhielt und gelangweilt trank, diskutierten Winfrieds Begleiter den Großteil des Abends über ihre Jobs und lästerten über Kollegen und Vorgesetzte – kein Thema, über das Winfried heute reden oder bei dem er zuhören wollte. Daher trat er mit dem Bierglas auf die Tanzfläche, um Abstand zu gewinnen.
Eine der älteren Damen sprach ihn an: »Schöner junger Mann, magst du es heiß und feucht?«
»Mein Bier?« Er stutzte und sprach verunsichert: »Das mag ich lieber kalt.«
»Mann bist du schüchtern, Kleiner. Wie wäre es jetzt in einem Bett? Darin hätten wir es jetzt schön warm.«
»Ich will jetzt noch nicht ins Bett. Dafür ist es noch zu früh und ich bin heute mit meinen Kumpels unterwegs. Ich bin erwachsen und du bist nicht meine Mutter. Ich verstehe wirklich nicht, was du von mir willst.«
»Na, dann wünsche ich dir noch viel Spaß mit deinen Kumpels!« Sie zog einen Schmollmund und entfernte sich.
Die Damenwelt war für Winfried schon immer ein Rätsel. Ständig redeten sie Unsinn und waren bei den Antworten, die er gab, beleidigt.
Er kehrte zurück zu seinen Kumpels, Ralf fragte: »Winfried, was wollte denn die Oma von dir?«
»Sie meinte, für mich wäre es Zeit, ins Bett zu gehen.«
»Echt? Unglaublich! Heute sind nur Bekloppte unterwegs. Auf, holen wir uns noch ein Bier.«
Zwei Stunden nach Mitternacht verkündete der DJ einen Schlager-Special. Was er nun auflegte, war Faschingsmusik und das Publikum auf der Tanzfläche begeisterte sich bei Polonese und Hühnertanz. Gelangweilt stand Winfrieds Gruppe an der Bar und bestellte ein Bier nach dem anderen, zwischendurch spendierte regelmäßig jemand aus der Runde Tequila.
Der DJ machte eine Durchsage: »Sonst mache ich das nicht, dreimal hintereinander das gleiche Lied auflegen. Aber ihr habt es euch gewünscht. Action! Was liebt der Chinese? Polonese!« Schallend lachte er ins Mikrofon.
Durch die Disco zog sich ein Menschenschlange, laut grölten alle mit. »Fiesta, Fiesta Mexikana!«
»Mensch, lasst uns heimgehen!«, schlug Ralf frustriert vor. »Mir langt's. Ende Gelände, echt. Heute läuft hier für uns nichts mehr.« Die Zustimmung der Anderen folgte sofort.
Sie begaben sich zum Ausgang. In der Tiefgarage schwankte Waldemar wie im schwerem Seegang und hangelte sich zwischen den geparkten Fahrzeugen hindurch. Bei einem weißlackierten Cabrio blieb er stehen, hielt sich an der Fahrertür fest und entleerte laut gurgelnd seinen Mageninhalt in das Innere des Wagens.
»Was ist los, Waldemar?«, fragte Winfried besorgt, »geht's dir nicht gut?«
Waldemar würgte und entleerte sich abermals in den Wagen. Er hob seinen Kopf, löste sich von der Karosserie, fand sein Gleichgewicht wieder und grinste. »Mir geht es bestens. Wisst ihr, wessen Auto das ist? Das ist das Cabrio unseres Geschäftsführers. Ex-Geschäftsführers«, sprach er lallend.
Schwankend ging Waldemar ein paar Schritte vorwärts, sie folgten ihm zu seinem Auto, einem rostigen Gefährt, das aufgrund zahlloser Unfälle schon vollkommen verbeult war.
»Meinst du, dass du in deinem Zustand noch in der Lage bist, zu fahren?«, fragte Ralf skeptisch.
»Fahren kann ich ganz sicher noch«, erhielt er zur Antwort, »und auf vier Reifen kann ich nicht umkippen. Laufen kann ich nicht mehr. Kommt, steigt ein. Ich habe eine Idee, wo wir jetzt noch richtig Spaß haben können!«
Nach kurzem Zögern nahmen alle in seinem Wagen Platz. Waldemar startete mit quietschenden Reifen, brauste die Kurven der Parkebene in die Höhe, zerschmetterte die Schranke und gab nach Verlassen des Parkhauses durchgehend Vollgas. In Schlangenlinien und mit maximalem Tempo raste er durch die Straßenschluchten der Frankfurter Skyline.
Er legte eine Vollbremsung hin, das Fahrzeug blieb vor einem Bürogebäude stehen und er verkündete freudig: »Wir sind da!«
»Moment! Was sollen wir hier?«, fragte Winfried überrascht, »das ist unser Bürogebäude!«
Waldemar stieg aus und lachte. »Ex-Bürogebäude! Ich habe doch versprochen, dass wir noch Riesenspaß haben werden.« Er lockerte einen Pflasterstein vom Gehweg und warf ihn gegen eine Scheibe, die laut zerplatzte.
»Das ist ja cool, was du für Arbeitskollegen hast!«, lachte Gernot, nahm als zweiter einen Stein und warf ihn in ein anderes Fenster, das sich ebenso in Scherben auflöste.
Ralf schloss sich nun auch an. Mit ohrenbetäubendem Scheppern zerlegten sie ein Fenster des Gebäudes nach dem anderen, bis unzählige Scheiben zerschmettert waren. »Das macht echt Spaß!«, rief Waldemar gutgelaunt, »es ist mittlerweile meine Hauptbeschäftigung!«
Sie hielten inne, als sich Blaulicht näherte, ein Polizeiauto bei ihnen hielt und zwei Polizisten ausstiegen. »Anwohner hatten Randale gemeldet. Wisst ihr etwas? Und das Wrack im absoluten Halteverbot, ist das euer Auto?«
»Nein«, antwortete Waldemar, »hier waren eben noch ein paar Halbstarke, wahrscheinlich ist es deren Auto. Die sind weggelaufen, als sie das Blaulicht gesehen haben. Gerade sind sie dort um die Hausecke gerannt.«
»Danke!«, entgegneten die Polizisten kurz und rannten in die Richtung, die Waldemar ihnen gezeigt hatte. Als sie um die Hausecke verschwunden waren, rief Waldemar seine Begleiter zur Eile: »Sofort einsteigen, machen wir uns vom Acker!« Hektisch nahmen sie Platz im Auto und er gab Vollgas, bis sie das Bankenviertel verlassen hatten.