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Fahrt durch die Nacht

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24. November, Anreise

»Diesen Weg sollte man auf keinen Fall im Winter unternehmen.«

Als ich die Warnung im Pilgerbericht lese, ist meine Entscheidung getroffen: Ich werde den Camino Primitivo gehen.

Es ist Ende November, goldener Herbst und kein Winter in Sicht. Bis jetzt noch nicht. Also der richtige Moment, die ultimative Chance, vor Einbruch der kalten Jahreszeit das Jahr mit einer letzten Wanderung zu segnen.

Am Spannendsten finde ich, Wege selbst zu entdecken. Nicht nach einem Plan oder mit einem Reiseführer vor der Nase zu wandern. Ganz unvorbereitet wollte ich die Tour aber nicht beginnen: sind die Pilgerherbergen überhaupt zu dieser Jahreszeit geöffnet? Wo kann ich übernachten?

Eine Liste aller Herbergen des Weges - in welchem Ort sie sich befinden und welche Entfernungen dazwischen liegen - habe ich mir ausgedruckt. Laut den Informationen einer spanischen Internetseite sind alle Pilgerherbergen 365 Tage im Jahr, also durchgehend geöffnet. Das entscheidende Kriterium ist erfüllt. Perfekt!

Jetzt sitze ich im Fernbus, bin auf dem Weg zurück nach Spanien, fahre durch Frankreich und nähere mich den Pyrenäen.

Eigentlich war ich niemals ganz fort von hier – mein Geist war im vergangenen Sommer auf dem Jakobsweg, dem Camino Francés nach Santiago de Compostela hängengeblieben. Dort, in der weitläufigen Hochebene, in einem Dorf der tiefsten spanischen Provinz, hatte ich von einem portugiesischen Pilger in einer Herberge erfahren, es solle noch eine andere Variante des Jakobsweges geben. Einen noch viel älteren. Den ursprünglichen Weg. Den Camino Primitivo.

Für mich ist es ein Versuch, mental zurück in die Wirklichkeit zu finden. Möglicherweise wird es schauderhaftes Wetter geben, vielleicht wird die Tour unangenehm. So werde ich zur Erkenntnis kommen: der Camino ist etwas ganz Normales. Und vielleicht ist es die passende Medizin, wenn man sich auf dem Jakobsweg davor unglücklich verliebt hat.

Es sitzen viele Pendler im Bus, Glücksritter auf der Suche nach einem Job. Aushilfsarbeiter, die sich in Deutschland für wenige Münzen verdingt haben und in ihre Heimat zurückkehren. Ein Spanier, der ebenso mit dem Fernbus reist, erzählt mir während einer Pause: er wäre dem Ruf nach Frankfurt gefolgt, denn man hätte ihm einen Job auf einer Baustelle angeboten. Dort angekommen - fährt er fort - sagte man ihm: nein, es wäre ein Irrtum, momentan hätte man keinen Bedarf. Pech gehabt! Der Spanier hat noch einen weiten Weg vor sich. Er kehrt zurück nach Malaga, eine weitere Tagesreise mit dem Bus.

Alle drei Stunden verlassen wir die Autobahn und halten an einer Raststätte. Neun Uhr abends erneut Pause und Gelegenheit, mir die Beine zu vertreten. Als ich an unserem Reisebus vorbeilaufe, öffnen sich die Klappen des Gepäckfachs und in dem Moment fällt etwas heraus. Bin ich der Einzige, der dies bemerkt? Überrascht erkenne ich: es ist mein Rucksack! Genaugenommen ist es nicht mein eigener, denn diesen habe ich nur geliehen. Unter keinen Umständen darf er verloren gehen, denn darin befindet sich alles, was ich für die Pilgerreise mitgenommen habe. Flugs greife ich nach ihm, verstaue ihn tiefer im Gepäckraum und äußere stumm den Wunsch, er möge bis zum Ende der Reise nicht verloren gehen. Ich bin nicht abergläubisch, daher interpretiere ich dieses Malheur auch nicht als ein böses Omen. Wenn ich erst in Oviedo angekommen sein werde, von dort aufbreche und die letzten Tage des Jahres bei einer wunderschönen Herbstwanderung auf dem Jakobsweg verbringen kann, wird das Jahr vollkommen sein.

Die Nacht bricht herein, Schatten senken sich über die Landschaft. Unsere Busbegleiter dimmen das Licht, schalten den Bordfernseher ein und starten DVDs zur Unterhaltung der Reisenden. Action ist angesagt:

Es beginnt mit dem Film ›Der Legionär‹ mit Jean-Claude van Damme. Zu deutsch vermutlich: Hans-Klaus vom Deich. Es folgt ein Thriller mit Bruce Willis: ›Stirb langsam‹. Wenn möglich, sollte dies nicht der Slogan für meine Tour werden. Die Dialoge des Films sind in Spanisch, dazu werden Untertitel eingeblendet: »Bem, Bem! Bom …« Was ich zuerst für eine Comic-Sprache halte. Später komme ich zu der Vermutung: es ist Portugiesisch. Es folgt ein weiterer Actionfilm mit Bruce Willis, dessen Titel mir entgangen ist – hauptsächlich besteht er aus monotoner Handlung: 90 Minuten durchgehend Maschinengewehrsalven, unterstützt von Granaten, permanentem Geschützfeuer.

Zum Glück ruft auf meinem Mobiltelefon in diesem Moment keiner meiner besorgten Verwandten an. Wegen der Geräuschkulisse im Hintergrund mit lauten Explosionen und Dauerfeuer aus schweren Geschützen könnten sie befürchten, ich hätte mich nicht auf den Pilgerweg nach Santiago begeben, sondern für die gefährlichere Variante nach Jerusalem entschieden und würde mich jetzt in Syrien mitten im Bürgerkrieg befinden.

Eine Stunde nach Mitternacht endet der Film und wir werden in die Nacht entlassen. Ein letzter Stopp, Buswechsel, ich werde zum Umsteigen aufgefordert. Sicherheitshalber nehme ich den Rucksack diesmal in den Bus mit und stelle ihn zwischen meine Füße. Bald haben wir die spanische Grenze erreicht und fahren über das Grenzgebirge.

Ich liebe diese Fahrt in den Pyrenäen, wenn der Bus auf dem kurvenreichen Highway durch die Nacht rauscht, wenn eine endlose Lichterkette aus Straßenlaternen wie eine riesige Python vorbeizieht, während Lichtermeere spanischer Siedlungen in der Ferne funkeln wie ein Meer von Sternen.

Auf dem Jakobsweg durch die weiße Hölle

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