Читать книгу Auf dem Jakobsweg durch die weiße Hölle - Michael Sohmen - Страница 6
Flut
Оглавление27. November, San Juan de Villapanada → Bodenaya
Fröstelnd schlage ich meine Augen auf, schaue durch das Fenster auf die wolkenverhangene Landschaft, da höre von dem Bett nebenan ein gutgelauntes »¡Buenos Dias!«, wende meinen Kopf und sehe drei Pilger in einem Bett liegen. Den Spanier beneide ich, er durfte zwischen den zwei Spanierinnen schlafen und hatte es warm und kuschelig, während ich frieren musste.
Schläfrig blicke ich wieder hinaus. Meine Motivation zum Pilgern lässt sogleich nach, als dicke Tropfen die Scheiben von außen benetzen, Wasser herunterrinnt und die Landschaft stark verzerrt aussehen lassen. Ich gehe zum Eingang, öffne die Tür und sehe, was sich draußen abspielt: ein sintflutartiger Wolkenbruch. Nach einer warmen Dusche aktiviere ich den Getränkeautomaten in der Küche, lasse mir einen Becher Kaffee zubereiten und beginne nebenbei mit dem Packen.
Eine Stunde später öffne ich die Tür erneut: es regnet nicht mehr, strahlender Sonnenschein ergießt sich über eine nass glänzende Landschaft. Augenblicklich dränge ich die Franzosen: wir sollten uns schnell fertig machen, denn wer weiß, wie lange uns dieses Glück hold bleibt. Wir ziehen unsere Wanderkleidung an, schultern die Rucksäcke und öffnen die Tür – ein erneuter Regenguss schüttet Wassermassen gnadenlos aus dunkelgrauen Wolken. Es scheint, als ob ich beim Öffnen der Tür jedes Mal in eine andere Welt blicke.
Danach ändert sich das Wetter kaum noch. Wir wollen jedoch nicht noch länger warten und starten in den Regen. Eine nagelneue Autobahn zerschneidet die einst idyllische Landschaft: wir wandern über Schotterberge, Baumaterial, das für die Straße aufgehäuft wurde. Nicht wirklich schön. Leider. Bei der Streckenführung des Camino ist es häufig so, dass im Zuge des Fortschritts der Weg verlegt werden musste und es keine historisch exakte Pilgerroute gibt. Genau genommen gibt es keinen eindeutigen Camino, da die Menschen dort wanderten, wo es am Geeignetsten für sie war. Eine Konstante des Weges sind die historischen Pilgerherbergen, aber auch das änderte sich im Laufe der Zeit. Manche Unterkünfte wurden aufgegeben, anderorts neue errichtet.
Steil bergab marschieren wir drei hintereinander durch ein Rinnsal von Schlamm und Wasser. Ich befinde mich an zweiter Position und schlittere mehr, als dass man meine Fortbewegungsart als Marsch bezeichnen könnte. Plötzlich merke ich, wie meine Schuhe den Halt verlieren und schwebe kurze Zeit in der Luft, rudere mit den Armen und … kann mich gerade noch fangen. Kurz, bevor ich den Franzosen vor mir mitgerissen hätte. »Wow!«, reagiert mein Hintermann und applaudiert begeistert. Ich kann nicht abschätzen, wie viele Meter ich geschlittert bin ohne hinzufallen. Es muss ein grandioses Kunststück gewesen sein.
Zusammen wandern wir an der Straße entlang, in der Ferne erheben sich gigantische Türme. Diese werden gerade neu errichtet, was man an Stahlgerüsten erkennen kann, auf denen Menschen wie Artisten umher klettern. Wahrscheinlich ist es eine der EU-Strukturförderungsmaßnahmen, die auch diese entlegene Region Spaniens enger mit dem EU-Binnenmarkt verbinden soll, um Arbeitsplätze zu schaffen. Bald wird sich auf diesen Türmen ein Viadukt über die Ebene spannen und LKW-Kolonnen über eine neue Autobahn brausen. Ob dieses technische Wunderwerk in Zukunft die erhofften Jobs bringen wird, ist ungewiss. Sicher ist, dass diese Maßnahmen den Camino und die Landschaft nachhaltig zerstören.
Vor uns erhebt sich ein verfallen aussehendes Kloster, von dem Gebäudekomplex nehme ich einige Fotos auf. Auf den zweiten Blick scheint es keine Ruine zu sein, die meisten Gebäude sind gut erhalten, dennoch ist der von Mauern umgebene Garten verwildert und vereinzelte Mauerreste ragen zwischen Brombeerranken hervor. Gerne würde ich mir das genauer ansehen, jedoch sind meine beiden Begleiter mittlerweile ein gutes Stück auf dem steilen Anstieg, der dem Kloster folgt, voraus gewandert.
Ich setze mich wieder in Bewegung, schleppe mich aufwärts und lege noch einen Zahn zu, um im Laufschritt zu meinen Kollegen aufzuschließen. Fast geht mir die Luft aus, bis der Trampelpfad, der durch einen Kastanienwald führt, wieder flacher wird.
Die Franzosen legen durchgehend ein zügiges Tempo vor. Ich kann gerade noch mithalten, meine Stiefel bieten auf dem matschigen Boden wenig Halt und ich strauchle regelmäßig, mir gelingt es aber immer wieder, mich gerade noch abzufangen. Abermals schlittere ich, rudere mit den Armen und … Platsch! Diesmal lande ich in einer Lache aus Matsch und modrigen Herbstblättern. Die Franzosen halten einen Moment und fragen: »Alles okay?« Ich stehe auf, wische mir den Schlamm aus dem Gesicht und antworte: »Alles gut!«, worauf sie, wieder beruhigt, die Wanderung in ihrem Tempo fortsetzen. Und bald außer Sichtweite verschwunden sind.
Für die Tour hatte ich - in weiser Voraussicht - eine wasserdichte Regenhose eingepackt, was sehr schlau ist. Hätte ich sie nur angezogen. Das wäre noch schlauer gewesen.
Was soll das Gehetze? Mit diesen Franzosen kann ich definitiv nicht mithalten. Eigentlich hatte ich mich für einen sehr fitten Wanderer gehalten, denn auf der ersten Etappe im vergangenen Sommer über die Pyrenäen, auf dem Camino Francés, hatte ich in kurzen Abständen andere Pilger überholt. Meine Begleiter, die mich soeben abgehängt haben, sind ganz andere Kaliber: Berufssportler, gestählt durch ihre alpine Heimat und nahezu halb so alt wie ich. Nun bin ich alleine, trotte gemütlich vorwärts und sammle ab und zu Kastanien, bis ich das Waldende erreiche. Eine Ebene öffnet sich vor mir und ein Brunnen plätschert vor sich hin.
Bei Santiago kann ich mich reinwaschen: die Quelle ist dem Heiligen Apostel gewidmet. Klares Wasser lasse ich über Jacke und Jeans laufen und schrubbe mit einer Socke den Schlamm herunter, bis meine Kleidung einen halbwegs sauberen Eindruck macht. Ich will ein zivilisiertes Erscheinungsbild abgeben, wenn ich die nächste Siedlung erreiche, einigermaßen wenigstens. Ein paar verbleibende Flecken von Matsch werden auf meinen schwarzen Jeans wohl nicht auffallen.
Wenn die Tour so weiter geht, werde ich bald über mich selbst lachen – über meine Idee: auf jeden Fall, noch vor Jahresende, nochmal wandern zu gehen. Das musste sein, unbedingt! Tolle Idee.
Leichter Wind streift durch die Ebene und trocknet meine Jeans bei der Wanderung entlang der stark befahrenen Landstraße. Sie führt an einer riesigen Milchfabrik vorbei, in der möglicherweise die gesamte Milchproduktion Asturiens verarbeitet wird und gleichzeitig kündigt sich die nächste Stadt an: Salas. Eine Ritterburg mit zwei Türmen prägt das Zentrum dieser mittelalterlichen Stadt. Man könnte diese Burg auch besichtigen, jedoch um diese Uhrzeit nicht mehr, denn das Tourismusbüro ist nachmittags geschlossen.
Eines der Argumente, eine Wanderung in dieser Region zu machen ist: Restaurants und Unterkünfte sind sehr billig. Für 8 Euro bestelle ich mir in dem Ort ein Menú del Dia – es besteht aus vier Gängen. Und zwar deswegen, weil ich zuvor naiv die Frage stellte, ob es auch Salat zur Auswahl gäbe. Das stand nicht im Angebot. Der erste Gang wäre nur Garnelensuppe, jedoch wird mir als Vorspeise zusätzlich Tomatensalat serviert. Ein Extra-Service. Hier geht auf man auf die Sonderwünsche jedes Gastes ein. Endlich wieder kostengünstig und reichhaltig schlemmen: wie habe ich das vermisst!
Währenddessen setzt Gewitter ein, der einen Starkregen auslöst. Und der nicht nachlässt. Beim Kellner erkundige ich mich vor Verlassen des Restaurants, wo der Camino weiterführen würde. Er beschreibt den Weg und zeigt mir, nach welcher Abbiegung ich die nächste Markierung finden werde, fragt mich aber verunsichert, was ich denn dort wolle? - bei dem Unwetter sicher nicht durch den Wald gehen, er könne mir ein Taxi rufen.
Doch, ich will weiter, versichere ich ihm, obwohl ich beim Blick vor die Tür und auf den munter plätschernden Bach, der sich wie eine Kreuzotter die Straße hinunterwindet, wenig Lust verspüre, weiterzugehen. Es sieht jedoch nicht so aus, als ob das Warten besseres Wanderwetter bringen würde, daher nehme ich all meine Willensstärke zusammen und wecke den Pilger in mir. Diese Tour habe ich mir ausgesucht, bin also quasi auf einer Mission. Trotz aller Widrigkeiten muss ich da durch. Einfach die Zähne zusammenbeißen und hinein in die Düsternis.
Am Ortsende von Salas beginnt ein Waldstück, die Markierungen führen bergauf. Was zu anderen Jahreszeiten ein Wanderweg wäre, hat sich in einen Fluss verwandelt. Ich wandere entgegen der Strömung und versuche, wo es möglich ist, seitlich auszuweichen und denke: Alles ist im Fluss … hat der Philosoph, der diese sinnlosen Worte verkündet hat, diese Tour unter gleichen Bedingungen unternommen? Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt, dass der Camino sich durchgehend in einen wilden Bach verwandelt hat. Abrupt endet er und mündet in eine Straße.
Der Verlauf meiner heutigen Teilstrecke ist in weiten Teilen zerstört durch den Neubau von Autobahnen und Schnellstraßen, führt über Serpentinen eine brandneue, aber enge Landstraße hinauf, die beidseitig flankiert ist von Leitplanken. Es gibt keine Alternative, als auf der Straße zu pilgern. Sollten Autofahrer mich jetzt übersehen, ist es mit dem Pilgerleben vorbei. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Es ist düster und neblig. Und es schüttet durchgehend.
Bei der Ankunft in Bodenaya ist der Empfang sehr herzlich – die Franzosen waren, wie erwartet, lange vor mir angekommen und begrüßen mich zusammen mit der Hospitalera, für die der Camino der wichtigste Lebensinhalt zu sein scheint. Warum, wird mir klar, als ich erfahre, welche Krankheit sie überwunden hat und am eigenen Leib bemerkt hat, wie kurz das Leben sein kann.
Während ich meine Wäsche aufhänge, von der nicht ein einziges Stück trocken geblieben ist und mich im Anschluss vor den Holzofen setze - die einzige Wärmequelle der Herberge - läuft im Hintergrund ein Kassettenrecorder. Ein melancholisches Lied wiederholt sich den ganzen Abend, wohl der Lieblings-Chanson der Herbergsverwalterin: »¿Peregrino, donde vas …?« - Pilger, wo gehst du hin? Langsam beginnt das Gefühl in meinen Armen und Beinen, die fast taub waren, zurückzukehren, was sich mit Schmerzen ankündigt.
Die Herberge hat einen besonderen Flair, rustikal im Fachwerkstil mit offenen Holzbalken. Vielleicht ein restauriertes Bauernhaus. Mit einem Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss, in dem sich eine Küche, ein Tresen mit Barhockern und eine große Tafel befindet. Dort sitzen die Anderen und plaudern.
Bevor ich mich an den Tisch dazugeselle, begebe ich mich ins Badezimmer der Herberge und verbringe dort einige Zeit, lese einen Zettel mit dem Hinweis, man solle doch bitte sparsam mit dem Wasser umgehen und beginne bei der Wohltat des warmen Duschbades fröhlich zu pfeifen, während ich fühle, wie meine Lebensgeister durch das warme Wasser wiedererweckt werden.
Als ich fertig mit Duschen bin und mich zu den Anderen gesetzt habe, serviert die Herbergsverwalterin uns ein Abendessen mit Schnitzel und Salat für jeden, während sie berichtet: die letzten Tage hätte sie alleine in dieser Herberge ausgeharrt, derzeit wäre kaum jemand auf dem Camino unterwegs, jedoch hätte sie eine Vision gehabt: 3 Pilger werden heute ankommen. Sie habe sich aus dem Grund entschlossen, für vier Personen einzukaufen. Und sie erzählt ein wenig über ihr Leben als Hospitalera: sie wäre Italienerin, betreue jährlich mehrere Monate diese Unterkünfte, und den folgenden Tag würde sie nach O Cebreiro fahren, um dort die Pilgerherberge des Camino Francés zu betreuen.
Nach dem Essen, als wir uns mit ihr über den weiteren Weg und die Planung der nächsten Tage unterhalten, gibt sie uns einen Hinweis: »Auf dem Weg über den Pass, wählt die längere Variante links. Der direkte Weg über den Pass ist im Winter gefährlich.«
Klar, wir wissen bereits Bescheid und nicken, denn der Hospitalero am Vortag hatte uns genau diese Stelle auf der Karte gezeigt und eindringlich davor gewarnt, die andere Abzweigung zu nehmen.
Im oberen Stockwerk befinden sich drei Schlafräume, auf die wir uns bald verteilen. Es ist kühl, da dieses alte Gebäude nicht gut isoliert ist. Und ich bin erleichtert, als uns Wolldecken zugeteilt werden.