Читать книгу Der Hungerturm - Michael Thumser - Страница 7
ОглавлениеDAMALS
Damals hatte sie gesagt:
Bleib,
und er war vor der Tür stehen geblieben, hatte seine Tasche abgesetzt und sich langsam umgedreht. Dann war sie auf ihn zugekommen, sehr vorsichtig erst, und hatte gewartet, dass er sie in den Arm nähme; so lange, bis er es tat.
Später hatten sie im Wohnzimmer gesessen. Sie fragte ihn, ob er etwas trinken wolle, und als er um Kognak bat, schenkte sie zwei Gläser ein. Dann stießen sie an.
Wir sollten nicht so unvernünftig sein, sagte sie.
Eine Zeit lang ging es. Er saß jetzt viel in seinem Zimmer, weil er vor dem Examen stand und lernen musste, sodass sie sich nicht oft begegneten. Sie ging zur Arbeit oder kochte, und mit der Zeit stellte sich wieder das Gefühl bei ihr ein, ihrer beider Leben zu versorgen und zufrieden sein zu dürfen. Manchmal kam er in die Küche und legte ihr wie früher die Hände auf die Schultern, wenn sie vor der Spülmaschine oder dem Kühlschrank stand; manchmal küsste er sie in den Nacken, und sie erinnerte sich, dass sie das vor einiger Zeit noch sehr gern gemocht hatte; dann war sie fast ein wenig gerührt, dass auch er sich erinnerte und es ihr zu gefallen weiterhin tat. Woher sollte er wissen, dass sie seit damals weniger empfand dabei?
Eines Abends kam er wieder mit einem Band Gedichte, und sie nickte, setzte sich auf dem Sofa gemütlich zurecht (dabei nahm sie die Füße hoch und legte eine Hand auf die Knöchel) und wartete, dass er zu lesen begänne. Eine Weile blätterte er, manchmal setzte er an, entspannte sich aber gleich wieder und suchte erneut.
Ich finde nichts, sagte er.
Das Buch ist voll, antwortete sie; und er suchte weiter.
Lassen wir es, meinte er und wollte den Band beiseitelegen.
Lies ruhig welche, die wir schon kennen.
Und er las einige. Aber nach dem dritten meinte auch sie, er solle aufhören. Später stellte er den Fernseher an.
Früh lag er manchmal länger als sie im Bett, besonders dann, wenn er in der Nacht zuvor lange aufgeblieben war und gearbeitet hatte.
Sie ließ es zu und hatte nichts dagegen, an solchen Morgen das Frühstück allein zurechtzumachen, denn sie liebte diese halbdunkle Stunde, in der kaum Geräusche in der Wohnung waren und die Heizung langsam warm wurde. Das war schon immer so gewesen: sie nahm sich Zeit mit allem und sah erst lange aus dem Fenster oder blätterte in der Zeitung, bevor sie sich anzog und die Brötchen holte.
An einem Sonntag stand sie fast eine Stunde am Fenster und beobachtete den Sonnenaufgang und die Vögel im Garten und auf den Drähten. Solche Spätherbstmorgen hielt sie für die schönsten im ganzen Jahr. Blätter lagen braun überall auf den Straßen, und die Sonne wärmte schon nicht mehr, nicht einmal mehr an Tagen, die so wolkenlos zu werden versprachen wie dieser. Aber die Luft, wenn sie ganz kalt war, roch gut und war mühelos zu atmen und nicht so zäh wie an den drückend schwülen Stadtsommertagen.
Sie machte das Fenster auf und ließ die Wärme aus dem Zimmer; ihr Schlafanzug begann kalt zu werden, und eine Gänsehaut lief über ihren Körper. So stand sie noch eine Weile und streckte ihren Kopf weit hinaus, atmete tief und sah dem Dampf nach, den sie langsam aus der Nase strömen ließ.
Als sie ein paar Geräusche aus dem Schlafzimmer hörte, schloss sie das Fenster und ging hinüber. Er hatte sich im Bett aufgesetzt und sah auf die Uhr.
Guten Morgen, sagte sie.
Er brummte: Es ist spät.
Das macht nichts. Heute ist Sonntag.
Er nahm sie bei der Hand und versuchte, sie zu sich hinunterzuziehen. Er lächelte.
Aber sie machte sich los. Du hast gestern Abend vergessen, das Mundwasser zuzuschrauben. Jetzt ist der Alkohol verflogen und das Zeug wertlos geworden.
Einmal, als sie sich geliebt hatten, steckte er sich eine Zigarette an, legte den Arm unter den Kopf und fragte sie:
Bist du müde?
Nein, sagte sie. Gib mir auch eine.
Sie rauchten.
Früher, sagte sie nach einer Weile, sind wir danach oft noch einmal aufgestanden und mitten in der Nacht in die Stadt gefahren.
Ja. Er erinnerte sich. Damals hatte ich den Kopf nicht so voll wie heute. Übrigens werde er nun häufiger nicht zum Mittagessen zu Hause sein, sondern in der Stadt bleiben, um in der Bibliothek zu arbeiten.
Wenige Monate vor den Prüfungen war er an den Wochenenden oft so müde, dass er schon am frühen Abend in einem Sessel einschlief. Sie löschte dann alle Lichter bis auf zwei Tischlampen, setzte sich ihm gegenüber und las oder strickte. Nach ein, zwei Stunden dann, wenn sie das Buch oder die Handarbeit zur Seite legte, um zu Bett zu gehen, blieb sie oft noch eine Weile sitzen, bevor sie ihn weckte, und beobachtete ihn. Und sie wunderte sich, dass ihr so vieles noch nie aufgefallen war: seine schlechte Rasur zum Beispiel, oder die verschnittenen, brüchigen Fingernägel. Er hatte sich schon immer vernachlässigt, und sein Äußeres wars nie gewesen, was sie zu ihm hinzog. Aber erst jetzt fiel es ihr auf.
Als der Winter kam, sah sie nicht mehr viel von ihm. Manchmal kamen Freunde, mit denen er sich dann in sein Zimmer zurückzog und bis in die Nacht hinein arbeitete. Darum ging sie immer öfter spazieren; noch dazu waren die ersten kalten Tage sonnig, und die dicken Schneehauben auf den Zaunpfählen und die weiß eingehüllten Zweige der Bäume gefielen ihr.
Nach einem solchen Spaziergang kam sie ganz aufgeräumt nach Hause und sagte mit gut gelaunter Kindlichkeit:
Ich will mir einen Hund kaufen. Oder vielleicht nur eine Katze. In den Anlagen spielen so viele Menschen mit ihren Tieren und sehen dabei vollkommen glücklich aus; fast so wie die, die ihre Kinder dabeihaben.
Natürlich, sagte er, wie du willst. Es ist deine Wohnung.
Aber selbstverständlich nur, wenn du dir sicher bist, dass du dich konzentrieren kannst, wenn ein Tier in der Wohnung ist.
Ich weiß nicht, antwortete er. Vielleicht würde es mich stören.
Er hatte sie überraschen und ein Mittagessen kochen wollen, weil sie den ganzen Vormittag in der Stadt zu tun gehabt hatte.
Mein Gott, rief sie, als sie in die Küche kam, was hast du nur mit der Soße gemacht.
Es war so wenig, sagte er und sah in die Pfanne, da habe ich Wasser und Stärkmehl hineingetan, um sie zu strecken.
Sie seufzte. Du wirst es nie lernen.
Beim Essen sagte er: Das Fleisch ist hart, und die Kartoffeln haben einen rohen Kern.
Sie legte das Besteck aus der Hand, sah ihn an und sagte: Es macht nichts. Ich weiß, du hast es gut gemeint.
Wollen wir mit deinen Freunden nicht mal abends fortgehen?, fragte sie, als er kurz aus seinem Zimmer kam, um ein Buch zu holen. Drinnen war alles blau von Rauch.
Sie werden sicher keine Zeit haben, antwortete er zerstreut, während er nach dem Buch suchte.
Als er es gefunden hatte und schon in der Tür stand, rief sie ihn leise zurück und sagte:
Früher ist das nie vorgekommen.
Was.
Sie lachte: Dass du mir wie heute einen ganzen Vormittag lang keinen Kuss gegeben hast.
Es tut mir leid, entschuldige. Und er sah in das Zimmer, wo seine Freunde warteten.
Und wie gestern. Aber sie lachte nicht mehr.
Er küsste sie auf die Wange.
Als er eines Abends zu Bett ging (sie hatte sich schon früher hingelegt), fand er ein kleines Feuerzeug mit seinen Initialen auf dem Kopfkissen.
Danke, sagte er am nächsten Morgen. Und bevor er in die Stadt fuhr, umarmte er sie.
Als er am Abend kam, sagte sie: Du kommst spät.
Er nickte.
Ach, fiel ihm dann ein, ich hatte dir Blumen mitbringen wollen. Den ganzen Tag dachte ich daran, und nun hab ich sie doch vergessen. Wahrscheinlich seien aber die Geschäfte auch schon geschlossen gewesen, meinte er.
Was er sich zu Weihnachten wünsche.
Ruhe, brummte er abwesend. Vor allem brauche er Ruhe.
Sie konnte es nicht glauben.
Sag es noch mal, bat sie glücklich.
Ich versteh dich nicht, lachte er. Ich fragte dich, ob du Lust hättest, über Neujahr in die Berge zu fahren. Was ist so ungewöhnlich daran?
Ich freue mich. Du bist lieb.
Ich bin nicht lieb. Ich habe kaum Geld, du wirst für uns beide bezahlen müssen. Vergiss das nicht.
Das ist egal. Ich freu mich nur, dass du es bist, der den Vorschlag macht.
Er sah sie an. Dann strich er ihr mit der linken Hand über die Wange und öffnete mit der rechten ein, zwei Knöpfe an ihrer Bluse; bis sie sich wehrte:
Lass lieber. Dafür ist es nicht Grund genug.
Weil es ihr gelungen war, ihn zu überreden, keine Bücher und auch sonst nichts zum Arbeiten mitzunehmen, hatte sie es sich etwas kosten lassen und in einem teuren Hotel gebucht.
Spät am Abend erst kamen sie an und frühstückten deshalb spät am nächsten Morgen.
Ein prima Hotel, stellte er fest. Ich bin dir dankbar.
Freut mich, wenn es dir hier gefällt.
Er zeigte auf eine junge Frau, die gerade hereinkam und nach einem freien Platz suchte.
Die sieht gut aus, sagte er.
Ja, gab sie zu. Früher hatte er immer hinzugefügt: Aber du gefällst mir besser, und ihre Hand genommen.
Als sie beim Skifahren einmal wenige Meter vor ihm stürzte, hielt er an und sah erschrocken zu ihr hin.
Ist dir was passiert? Hast du dir wehgetan?, rief er.
Nein. Es ist nichts.
Warum stehst du nicht auf?, rief er nach einer Weile.
Sie hatte erwartet, dass er kommen werde, um ihr zu helfen.
Soll ich dir helfen?, rief er ihr zu.
Danke, ächzte sie, als sie sich an den Stöcken hochzog, es geht auch so.
Am Silvesterball tanzten sie viel miteinander. Sie war gut gelaunt, und nachdem er ein paar Gläser getrunken hatte, kam auch er allmählich in Stimmung. Sie schmiegte sich an ihn, und ihm gefiel das Gefühl, ihren Körper nah bei dem seinen zu haben.
Um Mitternacht, als draußen das Feuerwerk abgebrannt wurde, hielt sie ihn zurück und wartete, bis kein Gast außer ihnen mehr im Saal war. Dann stieß sie leise mit ihrem Glas an das seine, küsste ihn und sagte:
Darauf, dass du dein Examen bestehst.
Ja, sagte er und trank, das ist jetzt das Wichtigste.
In der letzten Nacht im Hotel unterhielten sie sich lange.
Ich hab dir Unrecht getan, sagte er und machte ein schuldbewusstes Gesicht.
Wann?
Damals.
Ach so.
Du hast es noch nicht vergessen.
Doch, sagte sie. Fast. Ich bin dir nicht böse.
Sie schwiegen beide eine Weile. Dann fügte sie hinzu:
Und jetzt ist ja alles wieder so wie früher, und sah ihm forschend ins Gesicht.
Eben, stimmte er zu und lächelte. Manchmal beinahe.
In der Nacht vor seinem ersten Examen schliefen sie beide nicht. Gegen Morgen sah er auf die Uhr: in einer Stunde würde er aufstehen müssen, ohne ein Auge zugetan zu haben. Da kroch er zu ihr herüber und legte den Kopf auf ihre Brust, und sie strich ihm langsam über das Haar. Er hatte Angst; aber sie sagte ihm nicht, dass sie es wusste.
Nach der letzten Prüfung holte sie ihn im Auto ab. Als er eingestiegen war, sagte sie:
Wir müssen es feiern. Wohin wollen wir fahren?
Er aber fragte, ob sie böse wäre, wenn er sich zu Hause erst einmal ausruhe. Danach könne man immer noch sehen.
Eine Woche später kam er ins Wohnzimmer und hatte seine Tasche in der Hand.
Es ist doch besser, wenn ich gehe, sagte er.
Ja, sagte sie. Vielleicht wäre es damals schon besser gewesen.