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DIE HEIMLICHE JAGD

… es ist schwer für jemanden, der einmal an geistiger Krankheit litt, mit einem Gesunden Mitleid zu haben …

F. Scott Fitzgerald,

ZÄRTLICH IST DIE NACHT

1

An diesem Morgen wie an den Morgen zuvor hatte er Mühe, aus dem Bett zu kommen. Die Augen waren verklebt, der schlechte Geschmack im Mund war diesmal noch unangenehmer als sonst, und sein Körper fühlte sich blass an, zerdrückt und schmerzempfindlich. Christine war in der Küche, Winberg hatte nicht gehört, wie sie aufgestanden war, aber jetzt hatte ihn wohl das Geklapper der Tassen und des Bestecks geweckt. Weil Christine die Rollos erst nach dem Frühstück hochzog, war das Schlafzimmer noch düster; so konnte Winberg die Uhrzeit auf dem Wecker nicht erkennen.

Christine trug ein Tablett ins Wohnzimmer, und als sie damit an der offen stehenden Schlafzimmertür vorbeikam, rief sie ihm zu: Steh auf, es ist schon spät.

Wie spät?

Viertel acht.

Winberg drehte sich langsam aus dem Bett, zog die Brauen über den fast geschlossenen Augen hoch und machte ein dummes Gesicht. Seine Füße tasteten nach den Pantoffeln. Christine kam herein und begann, die Bettdecken aufzuschütteln.

Morgen, sagte sie.

Morgen, wiederholte er, stand auf und gab ihr einen müden Kuss auf die Wange.

Geh und rasier dich, sagte sie aufmunternd.

Beim Frühstück machte ihn der Kaffee nur langsam wacher. Winberg überflog die Schlagzeilen der Zeitung, ohne etwas aufzufassen, und bestrich sich ein Brötchen schlampig mit Butter und Honig.

Du gehst in letzter Zeit zu spät ins Bett, sagte Christine. Jeden Morgen bis du todmüde.

Er nickte und brummte irgendetwas, das nicht verstanden werden sollte.

Später, im Lift, wurde ihm kurz wieder klar, dass ihm diese Morgen mit Christine etwas bedeuteten. Er nahm sie, die mit einer Tasche in der Hand neben ihm stand, in den Arm und küsste sie rasch. Sie tat, als verstünde sie ihn nicht, und nahm seine Zärtlichkeit wie selbstverständlich. Seine Zärtlichkeiten kamen immer plötzlich, immer unvermutet, und sie kamen nie selbstverständlich. Aber sie spürte manchmal – aus einem Satz, oder durch die Art, wie er sie am Arm nahm –, wie sehr er sich anstrengte, sie fühlen zu lassen, dass er sie liebte.

Bis heute Abend, sagte sie vor der Eingangstür und sah ihm absichtlich mit großen Augen ins verschlossene Gesicht.

Bis dann, sagte er und strich ihr übers Ohr.

Dann nahmen sie zwei verschiedene Richtungen: sie zum Supermarkt, der sich im Erdgeschoss eines der benachbarten Hochhäuser befand; und er ging den Weg durch Grünanlagen und Parkplätze aus dem Hochhausviertel hinaus zur Bushaltestelle.

Dass sie immer noch hier leben mussten!, ging es ihm durch den Kopf. Architekt sein, aber keinen realistischen Gedanken an ein eigenes Haus verschwenden dürfen; verantwortlich sein für alles Mögliche, für dies und das geradestehen sollen und dabei vielleicht nie sein eigener Herr werden können; immer einen oder zwei oder noch mehr über sich haben. Manchmal verspürte er mitten am Tag die Lust, sich irgendwo hinzulegen und keinen Finger mehr zu rühren. Manchmal hätte er Lust, laut und unsinnig herumzuschreien, wo gerade geschwiegen wurde. Manchmal wollte er schon ausholen, um alles um sich herum zu zerschlagen, Computertastatur und Zeichengerät in die Ecke zu schleudern, mit den Ausdrucken von Grundrissen fremder Häuser ein gigantisches Feuer zu entfachen. Manchmal kam es wenigstens dazu, dass er mit der flachen Hand auf den Arbeitstisch schlug, sodass die Finger brannten, und dass er fluchte. Gleich darauf war er dann jedes Mal froh, dass es niemanden interessierte, wenn er sich für kurze Zeit einmal nicht beherrschen konnte, dass keiner ihn fragte, was in ihn gefahren sei, dass ihm niemand den Lärm vorwarf, den er gemacht hatte. An diesem Tag wie an jedem anderen sehnte er sich danach, dass irgendetwas Außergewöhnliches geschehe, ohne daran zu glauben, dass es wirklich eintreten könne. Er hoffte, einmal irgendwo dabei zu sein: sich bei einem furchtbaren Verkehrsunfall als Retter zu bewähren, oder mitzuerleben, wie einem Politiker der Kopf weggeschossen wurde, und dem Attentäter dann ein Bein zu stellen und sich auf ihn zu stürzen, oder den Vergewaltiger einer Frau von seinem Opfer wegzureißen und in die Flucht zu prügeln. Als er noch ein Junge war, hatte er sich immer wieder Situationen vorgestellt, aus denen er als Held hervortreten könnte. Heute genügte es ihm, sich in Gedanken des dankbaren Respekts, der Anerkennung eines fremden Menschen zu versichern. Mit Christine hatte er nie über seine Flausen gesprochen. Sie lebte viel zu sehr in der Wirklichkeit, als dass sie über solche Kindereien nicht würde lachen müssen. Aber manchmal las er ihr aus einer Illustrierten Geschichten vor von Menschen, die so waren, wie er sein wollte: im Alltag mutig, für jemand anderen notwendig, konsequent und zu einem bestimmten Augenblick am richtigen Ort, um etwas zu tun, das nützte.

Winbergs Tag begann in gereizter Stimmung mit einer Besprechung seiner Chefs und jener Mitarbeiter, die an dem Großprojekt beteiligt waren, das schon seit einem halben Jahr im Mittelpunkt umfangreicher Planungsarbeiten stand. Die Leiter der Firma gaben sich unleidlich, aber hinter der Unzufriedenheit mit dem bisher Geleisteten verbarg sich letztlich ein gewisser Gleichmut, ja Desinteresse. Dabei gingen die Arbeiten besser voran, als noch vor Wochen zu erwarten gewesen war. Zwei Stunden lang also machte man sich voreinander wichtig, hob den eigenen Ertrag hervor und drängte die Beiträge anderer zurück, wetteiferte mit mehr oder weniger nebensächlichen Vorschlägen und Anträgen und stritt um Dinge, die noch längst nicht spruchreif waren.

Nachdem Winberg mit ein paar kaum beachteten Worten seine Ergebnisse aus den vergangenen Tagen referiert hatte, zog er sich an eine Wand des Konferenzzimmers zurück und lenkte seine Gedanken auf alles mögliche andere. Nach einer Viertelstunde war er so gleichgültig geworden, dass sich seine Laune besserte. Er versuchte sich auf etwas zu besinnen, worauf er sich freute. Viel war da nicht. Oder doch? Einen Abend am Wochenende wollten Christine und er gemeinsam mit etlichen guten Freunden verbringen, die sie schon lange nicht mehr getroffen hatten; in sechs Wochen würde er mit Christine für ein paar Tage in Urlaub fahren; für die kommende Woche war in einem Kino ein vielversprechender Film angekündigt, Christine und er kannten und schätzten die Produktionen des Regisseurs und sammelten die DVDs wie Bücher oder Platten. Immerhin, dachte Winberg.

Eine Sekretärin drückte sich fast heimlich durch die Tür und musste sich von einem der Chefs ungeduldig anraunzen lassen.

Ein Anruf, sagte sie leise.

Für wen?

Für Herrn Winberg.

Na dann, bitte. Aber beeilen Sie sich nach Möglichkeit.

Winberg bemerkte erst nach und nach, dass damit er gemeint war.

Für mich? Er folgte der Sekretärin.

Am Apparat war eine unbekannte, geschäftsmäßig nüchterne Stimme, die sich mit dem Namen eines Krankenhauses vorstellte. Christine Winberg sei eingeliefert worden. Ob er gleich kommen könne?

Winberg begriff noch nicht. Meine Frau?

Sie hatte einen Unfall. Ist es möglich …

Wann … wo …

Sie wird jetzt operiert.

Mein Gott.

Bringen Sie ein paar Sachen Ihrer Frau mit, bitte. Außerdem sind noch einige Formalitäten zu erledigen.

Wer …

Mit der Polizei können Sie sich anschließend in Verbindung setzen, sagte die Stimme des Krankenhauses.

Die Sekretärin hatte erschrockene Augen, tat aber so, als hätte sie nichts mitbekommen.

Kann ich helfen?, fragte sie, als Winberg zögerlich aufgelegt hatte.

Meine Frau … Nein, stammelte Winberg, fasste sich dann ein wenig und sagte: Ich muss gleich fort. Er fühlte sich hilflos und seit Langem zum ersten Mal völlig allein.

Man ließ ihn nicht zu ihr. Sie sei am Schädel verletzt, schwer, beträchtlich, sagte ihm ein junger, langer und hagerer Arzt, der ihn mit einer routinierten Bewegung sacht am Arm nahm und langsam den Gang entlang führte. Die Operation sei abgeschlossen und gut verlaufen, soweit man das bei einem Fall wie diesem sagen könne; ob und wie sehr der Eingriff habe helfen können, lasse sich erst später absehen.

Winberg wurde den Eindruck nicht los, dass nicht mehr viel zu machen war, und er wusste nicht: las er das aus dem naturgemäß passiven Gesicht des Arztes, hörte er es aus seinen Worten, aus seiner Stimme? Zu fragen, wie die Chancen stünden, wagte er nicht.

Wir müssen also abwarten, schloss er Arzt, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. Dann sah er auf die Uhr. Entschuldigen Sie mich.

Bitte …, beeilte sich Winberg.

Wenn Sie Fragen haben –, sagte der Arzt.

Winberg hatte viel zu viele Fragen, darum stellte er nicht eine, sondern sah willenlos einer jungen Schwester zu, die mit einem Rolltisch voller dampfender Mittagessen unter Kunststoffhauben auf sie zukam. Dann spürte er einen sterilen Händedruck.

Es ist ein schwieriger Fall, sagte der Arzt zum Abschied, kein außergewöhnlicher, aber ein schwieriger Fall.

Als Fall hatte Winberg Christine noch nicht gesehen.

Der Fall sei eindeutig, sagte ihm ein Polizeibeamter auf der Wache. Bedauerlich, ja, und: Es tut uns leid für Sie und Ihre Frau, sagte er und schien es ehrlich zu meinen.

Winberg nickte irgendwohin. Neben ihm stand ein alter, verwüstet aussehender Mann, der Anzeige gegen Unbekannt erstatten wollte und dem ganzen Raum seine verfahrene, völlig nichtige Geschichte aufdrängte.

Kommen Sie, sagte der Beamte, nahm Winberg mit sich hinter den Tresen und ging voran in einen kahlen Nebenraum, wo ein Tisch, ein paar Stühle, Schränke und Regale standen. Sie setzten sich.

Kennen Sie den Doktor?, fragte der Beamte.

Wen?, gab Winberg zurück.

Doktor Kryger, sagte der Beamte. Ich habe Ihnen gerade berichtet, dass er den Wagen fuhr.

Ach ja.

Sie kennen ihn?

Nein.

Doktor Kryger – Sie haben wenigstens den Namen schon gehört, forderte der Beamte.

Winberg dachte an Christine und wie sie vor dem Auto eines Doktor Kryger lag.

Er führt eine Privatklinik am Stadtrand. Da geben sich sogar die Minister die Klinke in die Hand.

Winberg sah noch, wie Christine mit gefüllter Einkaufstasche vor den Wagen lief.

Der Fall ist eindeutig, wiederholte der Polizist. Ihre Frau hat nach etwas auf der anderen Straßenseite Ausschau gehalten, vielleicht einen Bekannten gesehen. Die Zeugen sagen, sie sei auf die Fahrbahn gelaufen, mit erhobener Hand, als ob sie jemandem winken wollte, und habe nicht nach rechts gesehen und nicht nach links.

Wie heißt der Mann?, fragte Winberg mitten hinein.

Kryger. Mit Ypsilon, antwortete der Polizist und sah Winberg prüfend an.

Wann ist es passiert?

Gegen zehn, sagte der Beamte. Der Mann ist unschuldig, daran ist kein Zweifel.

Unschuldig, wiederholte Winberg.

Der Fall ist eindeutig, sagte der Polizist.

Entsetzen ergriff Winberg erst, als er den grauen Steinwänden der Hochhaussiedlung näher kam – er wusste nicht, ob es Mitleid mit Christine war, was ihn derart erschreckt hatte, oder ob die Verzweiflung ihn ausgerechnet hier packte, weil er jetzt allein hier wohnen sollte, inmitten dieser Häuser, die immer dastanden wie in endlosen Regenschauern und die taten, als könnten sie nicht wahrhaben, dass auch manchmal die Sonne schien. Der Sommer in solch einem Haus sei verlorene Zeit, hatte Christine einmal gesagt.

Als er durch die betonbegrenzten Grünanlagen auf das Haus zuging, das zufällig seine Wohnung enthielt, wurden seine Schritte wie von selbst immer langsamer, als wollten seine Beine den Augenblick noch weiter hinauszögern, in dem ihre Bewegung zum Stillstand kommen musste. Winberg nahm nicht den Lift, sondern stieg Stockwerk um Stockwerk an verschmierten Wänden entlang das stets leicht nach Urin und Gummi riechende Treppenhaus hinauf.

Wenn er sonst seinen Schlüssel aus dem schweren, klirrenden Bund heraussuchte und dann im Schloss der Wohnungstür drehte, rief Christine immer:

Bist dus?,

als ob es auch jemand anderer sein könnte. Er rechnete damit, dass diesmal die Wohnung still bleiben würde, und doch fiel ihm auf, dass niemand rief, und er fühlte sich fast ein wenig schuldig, weil er darüber nicht noch mehr erschrak. Im Flur, als er die Tür geschlossen hatte, blieb er im Halbdunkel stehen und lauschte, als ob hinter einer der Türen schlecht über ihn gesprochen werden könnte. Es war nichts zu hören als das regelmäßige Knacken eines Uhrpendels und das Summen des Kühlschranks.

Du machst dich zum Narren, sagte sich Winberg. Aber er vermochte es nicht, sich zusammenzunehmen. Dabei hatte er nicht einmal Angst um Christine – obwohl er wusste, dass es allen Grund dafür gab. Zunächst musste er sich anstrengen, ein Das-hat-nochgefehlt-Gefühl loszuwerden, das in seinem Kopf war und trotz mühseliger Konzentration auf die Katastrophe selbst immer wieder auftauchen wollte.

Im Wohnzimmer lag die Zeitung noch halb aufgeschlagen auf dem Tisch, Geschirr, Butter und Marmelade standen hastig zusammengestellt auf einem Tablett. Im Schlafzimmer waren die aufgeschüttelten Kissen und Decken ordentlich über die Bettenden gebreitet. Durch das offene Fenster kam ab und zu ein leichter Windzug, der ein wenig nach Ruß roch und ein wenig nach jungen Bäumen. Christines Leben schien in der Wohnung geblieben zu sein, ihre durch die Jahre hindurch bis ins Unbewusstsein eingeübten allmorgendlichen Tätigkeiten schienen nur für kurze Zeit unterbrochen. Was da im Krankenhaus lag, wollte mit Christine noch nicht allzu viel zu tun haben. Ein paarmal fiel es Winberg schwer, die Vorstellung aufzugeben, sie werde im nächsten Moment aus einem Zimmer zu ihm kommen; dann beobachtete er sich, wie er lächelte und gerade dabei war, die Erinnerung an den Anruf, an das Krankenhaus und die Polizeistation wie eine dumme Einbildung abzuschütteln.

Als er, eigentlich grundlos, die Toilette betrat, spürte er, dass er sich gleich würde übergeben müssen. Danach spülte er den Mund aus und steckte sich eine von Christines Zigaretten an. Er hatte sich jetzt derart aus dem Griff verloren, dass er sich kaum mehr entsinnen konnte, was mit dem Rauch zu machen sei, den er in Mund und Lungen hatte. Er stellte sich ans Schlafzimmerfenster, als ob es von hier aus eine Aussicht zu genießen gäbe, und beobachtete auf der abgezirkelten Wiese ein paar spielende Kinder, bunte Punkte, die einem noch kleineren Punkt, einem Ball, nachjagten und sicher gleich von einem Hausmeister vertrieben oder von einem alten, gelangweilt auf Belästigung wartenden Mieter beschimpft werden würden.

Winberg wusste nichts mit sich anzufangen, alles war ihm aus der Hand genommen, er konnte nicht einmal danach fragen, was nun zu tun sei, nur noch danach, was war; und jede Antwort, die ihm gegeben werden könnte, würde ihm maßlos lästig sein oder ihn beunruhigen oder nicht genügen und Anlass geben zu neuen Fragen. Er hatte Angst, dass dieser Zustand so bald nicht enden würde, sollte Christine jetzt sterben.

Als er wenig später in der Firma anrief, um die Fragen zu beantworten, wo er denn geblieben und warum er nicht wiedergekommen sei, bat er kurz angebunden um eine Woche Urlaub.

Wofür brauchen Sie den? Wir stecken mitten in einer entscheidenden Phase, erinnerte ihn die Stimme am Telefon, von der er jetzt nur wusste, dass sie das Sagen hatte.

Unbezahlt, sagte Winberg ins Blaue hinein. Mir reicht eine Woche unbezahlter Urlaub.

Er erhielt ihn, zusammen mit ein paar überflüssigen Bemerkungen seines Abteilungsleiters. Dann setzte sich Winberg in einen Sessel, ein leeres Glas in der Hand, in das etwas einzuschenken er vergessen hatte. Ihm graute vor den vielen Tagen allein mit sich. Aber es war ihm, als wäre etwas zu tun, das vielleicht so lange bräuchte, getan zu werden.

2

Am nächsten Morgen, nachdem er ein belangloses Telefongespräch mit Christines Arzt geführt hatte, machte sich Winberg mit dem Auto auf den Weg. Krygers Klinik, deren Adresse er aus dem Telefonbuch kannte, bestand aus vier großen Gebäuden im Stil klinkergemauerter, strohgedeckter Ostfriesenhäuser. Sie standen wie zufällig verstreut, zwischen dichten Bäumen und Buschwerk in einem umfänglichen Grundstück. Winberg ließ den Wagen stehen und schlenderte durch ein mit Sorgfalt und Raffinement arrangiertes Stück künstlicher Natur, in dem die Vögel sangen und ab und zu ein Frosch Laut gab, als wäre dies alles extra bestellt, als gehorchten Tiere, Pflanzen und der Wind dem Dirigat eines verborgenen Majordomus. Am Hauptgebäude, zu dem ein breiter, leicht gewundener Kiesweg führte, war eine Überwachungskamera versteckt, und auch die reich verzierten, unbezwingbaren Gitter vor manchen Fenstern des Erdgeschosses entgingen Winberg nicht.

Eine Art Empfangsdame saß hinter einem breiten Massivholztresen inmitten eines Waldes aus üppigen Grünpflanzen und trank mit edler Bewegung aus einer Tasse. Sie fragte er wie beiläufig nach Doktor Kryger.

Ob er angemeldet sei und erwartet werde? Andernfalls könne er jetzt allerdings nicht zu ihm. Sie erbot sich noch zu telefonieren. Winberg aber lehnte rasch ab und entfernte sich mit ein paar Ausreden in eine der seitab führenden Lauben, wo er sich zwischen Gruppen wartender Besucher und Patienten schob, die in Bademänteln rauchten.

Auf einem Wegweiser fand er Krygers Zimmernummer. Vor der Tür fühlte sich Winberg mit einem Mal ausgeleert und ratlos. Mit beklommenem Atem setzte er sich auf einen Stuhl und wartete; dann beobachtete er einen Arzt und eine Sekretärin, die nacheinander das Zimmer betraten. Winberg stand auf, näherte sich der Tür und lauschte, sobald er sich selbst unbeobachtet fühlte. Innen wurde gesprochen, in dunklen, dumpfen Worten, die Winberg nicht verstand. Dann senkte sich die Klinke, und einen Augenblick später, gerade als Winberg sich abgewandt hatte und langsam einige Schritte weiter ging, trat hinter dem Arzt und der Sekretärin ein älterer, mittelgroßer und schlanker Mann mit frischem, lebendigem Gesicht heraus, der sich bei seinen Begleitern knapp nach diesem und jenem erkundigte und mit leicht gesenktem Kopf Antworten entgegennahm. Winberg ging den dreien nach und sah zu, wie nach kleiner Pause der Ältere, ganz offensichtlich Doktor Kryger, dem Jüngeren eine Hand auf die Schulter legte, nickte und ihm ein paar Worte sagte, die der andere mit auffälliger Erleichterung aufnahm.

Nein, hörte Winberg Kryger dann sagen, ich fahre übermorgen trotzdem, bleibe aber am Wochenende in Notfällen übers Handy erreichbar. Sie wissen ja, wo. Und er nannte den Namen eines Hotels in einem der kleineren Seebäder. Winberg, der dort vor Jahren beruflich zu tun hatte, kannte es: für Wochenendausflüge ein beliebtes Ziel und in gut einer Autostunde erreichbar.

Winberg betrat die Cafeteria erst eine Minute nach den anderen. Mit ein paar Blicken hatte er ausgemacht, wo sie saßen. Dann mischte er sich in eine der kurzen Reihen von Wartenden vor den Schaltern und ließ sich, als er gefragt wurde, eine Cola geben. Er setzte sich unscheinbar zu einem plaudernden Pärchen und sah von der Seite zum Tisch der anderen hinüber.

An Doktor Kryger war vieles, was sich Winberg unangenehm aufdrängte. Vom ersten Augenblick an störte ihn seine makellose Erscheinung, die Kleidung, an der alles stimmte, eins zum anderen sich fügte, alles zueinander passte: die vornehmen Streifen in der Krawatte zum diskreten Muster des weichen Anzugs zur Geschmeidigkeit des Schuhleders zur Frische des Hemdes zum zurückhaltenden Glanz der Ringe, die er an beiden Händen trug. Der Körper des Mannes schien zweitrangig, zum Anzug hinzuerfunden: das weißgraue, noch volle und gepflegte Haar, der von pfiffiger, vielleicht bissiger Intelligenz klein und scharf gewordene Blick, die eng anliegenden, noch ziemlich kleinen Ohren, die gewölbte, eine Spur zu voluminöse Nase, die dem Gesicht unverwechselbaren Charakter gab. Winberg begann, jede von Krygers Bewegungen zu verabscheuen, die sich grazil, aber nicht affektiert gaben, genau bemessen, niemals hastig, fehlerlos. Als Kryger an diesem Tisch der Klinikkantine Kaffee aus einem Pappbecher trank, tat er das so, wie Winberg in einer exklusiven Bar einen teuren Drink zu sich genommen haben würde.

Winberg spürte: da war nichts, das ihn und Kryger einander näher bringen könnte, keine gemeinsame Gewohnheit, nichts von beiden Wertgeschätztes, auch nichts, das sie vereint ablehnten, nicht ein einziges Wort ihrer beiden Sprachen. Kryger würde ihm viel zu fremd bleiben, als dass er ihn je würde hassen können. Und Winberg, seine Wahrnehmungen sortierend, bemühte sich sofort darum, sich darauf einzustellen.

Wenig später, als Kryger und die beiden andern die Cafeteria verließen, kamen sie an Winbergs zwischen die Schultern gezogenem Kopf vorüber. Sie sprachen gerade über den Unfall vom Vortag. Kryger nannte ihn ein bedauerliches Unglück, erwähnte das arme Opfer, das für einen Augenblick der Unaufmerksamkeit eine schreckliche Strafe zahlen müsse. In seiner Stimme schwang – nicht ganz echt? – der Ton einer inneren Bewegung, mit der er begonnen zu haben schien, ohne sie je zu Ende bringen zu wollen. Der jüngere Arzt bemühte sich sichtlich um die Worte seines Chefs und bedauerte im Weggehen die Schwierigkeiten, die sich für Kryger aus dem Ganzen ergeben hätten, und die Verlegenheit auch des Mediziners, der nicht überall Hilfe leisten könne, wo er sie spenden wolle.

Winberg legte das Gesicht in die Hände. Während Christine bewusstlos in einem kastenförmigen Bett inmitten elektronischer Apparate lag, die ihr Leben bestärken und, sobald nötig, ersetzen sollten, konsolidierte sich hier die unverbrüchliche Kameradschaft der Unbeteiligten, durch die Erleichterung geeint, mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Ihre dienstliche Sprache setzte den interesselosen Erinnerungen die Maske der Geschäftigkeit auf, des innerlichen Engagements und der Bestürzung über das unverdiente Leid eines anderen. Die Gesichter verzogen sich gerade so wie bei der Rundfunknachricht von einer mittleren Katastrophe irgendwo im Lande oder weit weg auf der Welt, mit einer gewissen Anzahl von Todesopfern und Schwerverletzten. Die Stimmen bedeckten sich soweit, dass man gerade noch begreifen konnte, es sei nicht schön, was andernorts geschah an schlimmen Dingen. Die Gesichter, die dergleichen daherlogen, schienen sich für Winberg von einer Sekunde auf die andere mit abstoßender Haut zu überziehen, hässlich wie das abgehandelte Ereignis selbst.

Eine nicht mehr junge Schwester empfing ihn, sie war von Arbeit und Verantwortung niedergedrückt und strahlte klinische Sauberkeit aus wie einen Vorwurf gegen Winbergs abgetragene Jacke und staubige Schuhe. Mit müdem Gesicht teilte sie ihm mit, dass der Stationsarzt nicht zu sprechen sei; Christine lag noch auf der Intensivstation.

Sie hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt, sagte die Schwester. Er könne noch nicht zu ihr hinein.

Aber durch eine Glasscheibe durfte er sehen: auf ihr entstelltes und geschundenes Gesicht unter dem Turban des Kopfverbands, auf die Leitungen von Maschinen, auf die Schläuche in den Körper hinein und aus ihm heraus, auf das simultane stumme Wandern gezackter Lichtkurven über einen Bildschirm. Sein Blick wartete eine Weile darauf, dass Christines bräunliche, perlmuttern schimmernde Augenlider sich bewegten.

Wie ist ihr Zustand?, fragte Winberg.

Stabilisiert, antwortete die Schwester und sah ihm in das an den Wangen eigentümlich verschobene Gesicht, das sie jetzt mehr interessierte als die seit einem Tag unveränderten Züge der Patientin.

Hat es Sinn, auf den Doktor zu waren?, fragte er.

Die Schwester schüttelte den Kopf. Telefonieren Sie mit ihm, riet sie. Später.

Noch ein Blick in Christines Gesicht. Winberg hätte helfen mögen, sie waschen, das Bett richten, oder nur bei ihr wachen und darauf achten, dass die Lichtlinien nicht aufhörten, über den Bildschirm zu flattern. Aber derlei Beistand war nicht gefragt. Besondere Menschen hatten hier den Auftrag dazu; Menschen, die durch nichts zu denen gehörten, denen sie helfen sollten. Für einen Moment suchte Winberg ein Opfer für den Funken Hass, der ihm gerade zur Verfügung stand. Aber nach wem er auch Ausschau hielt: er fand nur welche, die nichts dafür konnten, jeder auf seine Art. In seinem Kopf hieß es jetzt wenigstens: dran bleiben. Am Leben dieses Krygers teilnehmen von außen. Es ansehen, wenn es schon nicht zu verstehen war.

Am folgenden Morgen machte Winberg Krygers Wohnung ausfindig, fuhr hin und folgte ihm, als er aus dem Haus trat und fortfuhr, mit dem Auto in die Klinik; wartete dort zwei Stunden, bis Kryger wiederkam; ging hinter ihm her weiter ein paar Straßen in Richtung der Innenstadt in einen Park; blieb dort eine Viertelstunde lang etwa zwanzig Meter von ihm entfernt auf einer Bank sitzen, solange Kryger in einer Zeitung las; folgte ihm dann durch die Anlage in ein dahinter gelegenes Wohnviertel mit herrschaftlichen, kostspielig renovierten Mietshäusern hinter reich verzierten Fassaden aus der vorletzten Jahrhundertwende; wartete, bis Kryger aus einem der Häuser wieder herauskam, in dem er offensichtlich jemanden besucht hatte – einen Patienten, eine Geliebte? –; blieb dicht hinter ihm, solange er durch eine Reihe engerer, winkliger Sträßchen und Gassen der Altstadt ging; und ließ endlich den Abstand zu Kryger wieder größer werden, als sie auf einen weiten, übersichtlichen Platz traten, an dessen einer Seite eine große Kirche stand. Nachdem Kryger über einige flache Stufen aus dem Sommerlicht im fast abweisend dunklen Portal verschwunden war, lehnte Winberg sich an eine Laterne, legte einen Fuß über den anderen und entspannte sich endlich. Jetzt könnte er überlegen: ob er hier warten solle; ob er Kryger in die Kirche folgen oder ob er einfach fortgehen solle; was überhaupt er von Kryger wollte, ob er eine Aussprache erwarte oder gar so etwas wie eine Entschuldigung; ob es ihm genügen würde, in Krygers Gesicht zu schlagen oder ihn anzuspucken; oder ob er ihn nur fragen wollte, was vorgefallen sei – von alledem hatte Winberg nicht die Andeutung einer Vorstellung.

Weil Kryger länger in der Kirche blieb, als Winberg erwartet hatte, ging er ihm schließlich nach. Drinnen hatten seine Augen Mühe, sich an das bedrückende Dämmerlicht zu gewöhnen. An den Wänden neben dem Eingang brannten auf nüchternen Stufengestellen Hunderte von Kerzen, rechts, wenige Schritte weiter, hing von der Decke ein kleines, rot leuchtendes Gefäß; fremde Ansichten aus einer Welt, an die Winberg sich seit seiner Trauung mit Christine nicht mehr erinnert hatte.

Mit langsamen Schritten erreichte er die hinterste Bankreihe. Durch die Fenster im Lichtgaden hoch über ihm fielen schwere Strahlen und markierten den Weg zur Vierung, zum Altar. Von hier hinten war das Mittelschiff ganz zu überblicken. Um diese Stunde verteilten sich nur wenige Menschen in der Kirche, ein paar alte Frauen, die auf knorrigen Knien, die mürben Hände ineinander verknotet, bewusstlos über den Bänken hingen; und weiter vorne eine kränklich aussehende Schwangere, die Hände im aufgeblähten Schoß, die halb geschlossenen Augen ohne sicheres Ziel nach vorne gerichtet. Von dort näherte sich träge ein Mann, der, einen Sonnenhut auf dem Kopf, die Wandgemälde betrachtete, dabei manchmal stehen blieb und einen Finger an den Stein legte mit einer Geste, mit der ein Fachmann prüft, ob die Farbe trocken ist. In einer der Bänke vor dem Altarraum saß Kryger, unauffällig, in durchaus bequemer, aber nicht nachlässiger Haltung. Hin und wieder legte er den Kopf auf die rechte, dann auf die linke Schulter, veränderte in Abständen die Positur ein wenig, wirkte dabei stets entspannt, fast heiter. Zwischen den Fingern bewegten sich die Perlen des Rosenkranzes, manchmal öffneten sich Krygers Lippen, sodass man ahnte, wie er die Gebete murmelte, ein ums andere Mal. In seiner Sammlung schien er so abwesend, dass Winberg nicht näher an ihn heran wollte. Er setzte sich in eine der hinteren Bänke und starrte nach vorn auf Krygers sorgfältig gebürsteten Hinterkopf. Einmal verließ ein schwarz gekleideter Geistlicher die Sakristei, die ans rechte Seitenschiff grenzte. Als er Kryger erkannte, der jetzt aufgestanden war, ging er mit schnellen Schritten auf ihn zu, lächelte, und beide gaben einander die Hand, jeder mit einem Gesichtsausdruck zwischen Hochachtung und Freude über eine alte Bekanntschaft. Nach ein paar Worten, von denen Winberg nichts verstand, hob der Priester die Hand, zum Abschied winkend, und verließ die Kirche durch einen Seitenausgang. Kryger hatte sich wieder gesetzt; saß ganz ruhig da, als hätte nichts seine Meditation unterbrochen.

3

Winberg fand auf einmal, dass er grenzenlos Zeit habe. Ihm wurde bewusst, wie sich eine Geduld seiner bemächtigte, die ihm sein ganzes Leben hindurch fremd gewesen war. Es fiel ihm nicht schwer, mit ein, zwei belanglosen Magazinen in den Händen von zehn Uhr morgens an in der Hotelhalle zu sitzen und auf Krygers Ankunft zu warten. Kurz zuvor hatte er dem sorgenvollen Gesicht des Portiers entnommen, dass alle Einzelzimmer längst vergeben seien, dass man ihm nur noch mit einem weder besonders komfortablen noch preiswerten Doppelzimmer in einem der oberen Stockwerke dienen könne. Bedenkenlos hatte er eingewilligt, ohne nach dem Preis zu fragen. Dann saß er Stunde um Stunde, sah vor sich hin auf die Füße der Kommenden und Gehenden und war sich gewiss, dass auch Kryger kommen werde. Winberg wartete nicht; er war einfach da.

Kryger traf am frühen Nachmittag ein, ihm auf den Fersen ein Page mit zwei Koffern an den Armen. Auf der Terrasse vor dem Hotel hatte Kryger offenkundig schon einen Teil jener Freunde begrüßt, die er hier übers Wochenende treffen wollte; sie traten gemeinsam mit ihm in die Halle, man redete durcheinander, jeder mit mindestens zwei anderen gleichzeitig, man betrug sich hervorragend freundlich gegeneinander und voller Einverständnis, für das eine ausdrückliche Grundlage nicht nötig war. Manche von Krygers Freunde waren in Begleitung deutlich jüngerer Frauen mit der Begabung, die Modernität teurer Modehefte zur Schau zu tragen und dabei viel zu lachen. Aus ihnen löste sich eine schöne, gut gewachsene Brünette, die Kryger von seinen Freunden mit großartiger Geste zugeführt wurde und die er mit weltmännischem Charme und herzlichen Küssen auf beide Wangen besonders auszeichnete. Krygers Eleganz wuchs noch um ein Stück, als er, das Mädchen am Arm und mit dem Kopf nach hinten grüßend, dem Hotelangestellten und seinem Gepäck in den Lift folgte.

Später trank Winberg auf der Terrasse Kaffee, ein paar Tische von Kryger und seinen Freunden entfernt in einer kaum einzusehenden Nische. Er belauschte, wie drüben die letzten Augenblicke bemühter Gefälligkeit vorübergingen und wie man sich bald wieder so verstand, als habe man schon ein, zwei gemeinsam verbrachte Wochen hier am Strand hinter sich. Ein paar Herren wollten Kryger überreden, mit ihnen Tennis zu spielen; aber er lehnte ab. Er wolle sich ausruhen, seine Sachen ordnen und, gegen Abend, einen langen Spaziergang den Strand hinauf und hinunter machen. Allein, antwortete er in das vielwissende Grinsen seiner Freunde hinein, die sich nicht beirren ließen. Für den Abend immerhin verabredeten sie, das Wiedersehen in einem Club im Ortsinneren gebührend zu begießen. Dann trennten sie sich.

Wenig später stand Winberg vor Krygers Tür, ganz so wie zwei Tage zuvor in der Klinik; nur dass er diesmal das Entwürdigende, Unappetitliche seiner Situation genauer empfand. Der Gang zwischen den Zimmern war um diese Zeit menschenleer, die meisten Hotelgäste waren beim Sport oder zum Schwimmen am Meer oder tranken in einer der Bars. Winberg kam sich wie ein kleiner Junge vor, dem es auf Schleichwegen gelungen war, sich in eine nur für Erwachsene zugelassene Kinovorstellung zu schmuggeln.

Er lehnte den Rücken an die Wand neben der Tür. Sein Körper war in vollständiger Tatenlosigkeit erschlafft. Nach außen mochte Winberg den Eindruck eines enttäuschten Mannes erwecken, der von jemandem versetzt worden war. In seinem Kopf aber war alles voller Konzentration, und seine Ohren waren so sensibel geworden, dass die Stirn vor Anstrengung schmerzte.

Im Zimmer schmeichelte Krygers weiche, bewegliche Stimme, und die Stimme des Mädchens erwiderte ebenso anhänglich, zierte sich ein wenig, tat, als wäre sie noch ein bisschen weiter vom Ziel entfernt als die Krygers. Eine Flasche wurde auf den Tisch gestellt, und Gläser klangen aneinander. Dann blieben ein paar Augenblicke lang die Worte aus, Winberg meinte, das leise Rascheln eines Kleiderstoffs zu hören, das Reiben von Haut an Haut, das Knistern elektrisierten Haars. Krygers Sprechgesang war jetzt wie sein Lächeln, eine äußerliche Geste, dabei manchmal schonend sanft, dann langsam drängender, härter, deutlicher. Aber noch wollten ein paar Minuten abgewartet sein. Winberg spürte, wie Krygers Worte hinter freundlicher Maske allmählich ungeduldige Mienen machten, wie sie weniger und weniger meinten, was sie sagten, wie allein ihr Klang Hinweise gab auf die fällig gewordene Einlösung einer Vereinbarung, die schon lange vorher abgemachte Sache gewesen war.

Wenig später herrschte Einigkeit, und die Worte kamen wieder gelöst und spielerisch, wobei es immer weniger wurden. Und nun endlich drangen die Laute einer wachsenden Anstrengung zu Winberg, ein Stöhnen, das etwas Flehendes hatte. Krygers Stimme war sich ihrer Sache jetzt nicht mehr so sicher, etwas in ihr stand infrage. Dann kam wieder der fordernde Ton, mit dem Kryger zu dem Mädchen sprach, aber anders als vorhin, mit einer Anspielung von Hoffnungslosigkeit. Es war, als stellte er Ansprüche, müsste aber Widerstand befürchten, als erteilte er Befehle, von denen er nicht wusste, wie sie ausgeführt würden. In seiner Bereitschaft war jetzt Angst wach geworden, sie ließ seine Lüsternheit nur zögernd wachsen, bald hatte er seine Selbstsicherheit ganz und gar verloren und hörte sich schließlich bittend an wie einer, der sich nicht genug zutraut und darauf bedacht ist, sich nicht zu viel zuzumuten.

Winberg hatte nicht Verachtung genug und kein Mitleid mit Kryger. Und doch meinte er plötzlich, er müsse sich und ihm ersparen, was folgen musste. Er kam sich lächerlich vor in seinem Versteck, das keines war, er wollte sich abwenden und fortgehen, als ein Zimmermädchen von irgendwoher auf ihn zukam und ihn überrascht ansah. Winberg machte eine verlegene Bewegung und ging mit langsamen Schritten den Gang hinunter. Das Mädchen klopfte an Krygers Tür, und von drinnen schrie es heiser:

Hier können Sie nicht rein.

Das Mädchen starrte Winberg mit dem Abscheu eines Menschen nach, der einer schmuddeligen Affäre auf die Schliche gekommen ist, die lange verborgen geblieben war.

Ist es aussichtslos?, fragte Winberg in sein Handy.

Das nicht, sagte der Stationsarzt. Ich möchte sie vor zu viel Pessimismus warnen, aber auch vor zu großen Erwartungen.

Wird sie sich wieder bewegen können?

Wenn sie erst einmal aufgewacht ist …, sagte der Arzt. Wir müssen sehen, ob sie überhaupt sprechen kann. Wir dürfen zunächst schon zufrieden sein, dass momentan keine akute Lebensgefahr besteht. Alles Weitere …

Dann folgten ein paar versöhnliche Sätze, die Winberg nicht verstehen wollte. Es gab also nichts zu sagen; der andere wusste nicht mehr als er selbst. Sie beide waren, durch ein Telefon verbunden und getrennt, gemeinsam allein. Nach einer Weile, in der sie ihre Machtlosigkeit mit Schweigen gebüßt hatten, verabschiedeten sie sich.

Winberg, in einer unauffälligen Ecke der Bar an einem Tischchen sitzend, musste über eine Stunde warten, bis Kryger von seinem abendlichen Ausflug zurückkehrte. An Krygers Arm stöckelte das Mädchen, geschickt geschminkt und routiniert lächelnd. Die beiden gingen durchs Lokal, mal hierhin, mal dorthin grüßend, und nahmen endlich an einem großen runden Tisch Platz, an dem während der halben Stunde zuvor nach und nach die anderen Paare Platz genommen hatten.

Sofort als Kryger saß, war er der Mittelpunkt der Runde, die rasch in ein reges Gespräch verfiel, oft lachte und immer wieder Wein, Bier und Schnaps bestellte. Es schien Winberg, als gelte der soigniert-ruhige Kryger für einen Richter richtiger Meinungen und guten Geschmacks. Meistens wurde er etwas gefragt und gab dann weitschweifig Auskunft, Kenntnisse und Korrekturen äußernd, die er mit artigem Lächeln bescheiden vortrug. Winberg konnte von seinem Platz aus großen Teilen des Gesprächs folgen, wenn er aufmerksam hinhörte, und spürte bald, dass für die anderen von Kryger, der unter ihnen augenscheinlich der Älteste war, ein besonderer Reiz ausging. Man sprach über die Theaterspielpläne großer Städte, später, ausführlicher, über schwankende Banken und Unternehmen, diskutierte die Krisen der Börse. Dann wandte man sich den anwesenden Damen zu und hofierte sie mit kleinen, blasierten Komplimenten. Jeder an diesem Tisch hatte Erfahrung mit dem Charme alter Schule und seinem gezielten, wohldosierten Einsatz, mit dem richtigen Ton dem jeweiligen Gesprächspartner gegenüber, mit der feinen Nuance der Anspielung. Winberg wollte das alles vorkommen wie ein Ausschnitt aus einem alten Film, wie der Blick in ein Wörterbuch aus einer Zeit, die schon lange vor seiner Geburt zusammengefallen war. Hierher, in die angestrengt vornehme Atmosphäre des Seebads, hatte sich von solchen Resten der Vergangenheit noch etwas retten können, und diejenigen, die sich darin zu Hause fühlten, pflegten die Traditionen wie unfehlbar folgerichtige Rituale. Die jungen Frauen, die bei den Herren saßen, schienen nicht wirklich zu ihnen zu gehören. Sie saßen dabei, weil die Männer erst mit ihnen ein Bild ergaben, das sie für gültig halten durften. Und sie wurden dafür entlohnt, dass man ihnen nicht ansah, wenn sie sich langweilten.

Winberg fühlte mit einem Mal etwas wie leise Genugtuung in sich: indem er die Runde so schamlos belauschte, indem er sie derart durchschaute, meinte er zu wissen, wie sehr er sie demütigte.

Ein paar Stunden gingen so hin. Die Gesellschaft am runden Tisch konsumierte eine Flasche nach der anderen, und auch Winberg hatte mit der Zeit viel getrunken. Während die Stimmung der Runde immer gelöster, die Gespräche allmählich freizügiger wurden, spürte Winberg eine wachsende Klarheit in seinem Kopf, eine Gewissheit, dass richtig war, notwendig und gut, was er seit zwei Tagen tat, obwohl er nach wie vor nicht hätte sagen können, worauf er hinauswollte. Er fühlte sich auf der Spur, ohne zu wissen, wer das war, dem er folgte, und warum er es tat; er fühlte sich bereit, jederzeit abzudrücken, obwohl er sich ohne Waffe wusste; er kostete die Aufgeregtheit einer Pirsch und wusste doch, dass nichts zu jagen da war, dass niemand Furcht vor ihm haben musste.

Nach Mitternacht wurden die Kellner und Ober unruhig, und einer spielte hin und wieder an einem der Lichtschalter. Außer mit ein paar ärgerlichen Blicken des einen oder anderen reagierte die Gesellschaft am runden Tisch nicht darauf. Die Mädchen waren träge und still geworden, ab und zu fiel ein Kopf auf einen reichlichen, dekolletierten Busen. Winberg hatte an diesem verlorenen Abend Beobachtungen gewonnen, die er verbuchte wie einen Besitz: mit Kryger lernte er mehr und mehr jemanden kennen, den er nicht ausstehen konnte, den er hassen wollte, indem er nach Anhaltspunkten suchte, die sein verdammendes Vorurteil gegen ihn bestätigen sollten.

Als nach ein Uhr der Barkeeper und ein Mann aus der Küche die Stühle hochzustellen begannen, erhoben sich die schwankenden Gestalten mit dem großtuerischen Gerede alt gewordener, früherer Anstößigkeit nachtrauernder Junggesellen, griffen ihren Damen an Brust und Hintern und strengten sich an, einem Kellner klar zu machen, dass nun drei Taxis zu bestellen seien. Winberg hatte schon vor einer Viertelstunde gezahlt und wartete nun in der Nische, die als Garderobe diente, bis die anderen die Bar verlassen hatten.

Als er selbst in die Nacht hinaustrat, schlug ihm ihre ungewöhnlich klare und reine Luft wie eine Hand ins Gesicht. Plötzlich vermisste er das Siegergefühl, das ihn drinnen über Stunden hinweg hellwach gehalten hatte. In ein paar Augenblicken hatte die Müdigkeit ihn eingeholt. In seinem Zimmer setzte er sich im Mantel auf einen Stuhl und schlief sofort ein, ohne es zu merken. Nach einer Stunde wachte er langsam auf; er fror, und der Kopf tat ihm weh. Er zog sich aus, wusch sich flüchtig und legte sich aufs Bett. Jetzt aber lag er, über eine Stunde lang, mit offenen Augen und ärgerte sich immer heftiger über seine Schlaflosigkeit.

Am Sonntag schlief Kryger bis in den Vormittag, und Winberg, der schon früh aufgestanden war und sich in einen Sonnenstuhl auf der Terrasse gelegt hatte, musste lange auf ihn warten. Kryger wirkte, als er endlich herunterkam, völlig erfrischt. Jetzt, ohne Begleitung, hatte sein Gesicht nichts von einer Maske, locker erschien es, so beweglich wie vor zwei Tagen beim Spaziergang durch den Park und während seines Aufenthalts in der Kirche. Kryger trank Kaffee, ohne etwas zu essen; dann schlenderte er fort, anscheinend ziellos, ließ den Blick mal hier-, mal dorthin schweifen, wie einer, der alles schon gefunden hat, was er in seinem Leben je hatte suchen können, und der mit keiner bösen Überraschung mehr zu rechnen braucht.

Winberg legte ein paar Münzen auf den Tisch und ging ihm nach. Fast bewunderte er die Leichtigkeit des Gangs, die ruhige Bewegung der Arme, die Zartheit der Finger, zwischen denen Kryger versonnen einen Grashalm drehte.

Kryger ging in den Ort und schloss sich ein paar anderen Wochenendurlaubern an, um in der Kirche eine spätvormittägliche Messe zu besuchen. Während des Gottesdienstes stand er an einer der Wände der einfachen, kleinen Halle, sah meist zu Boden und schien ganz aufgegangen in dem, was vor ihm geschah. Winberg war auf die schmale Orgelempore hinaufgestiegen und blickte von oben auf die Köpfe der Gläubigen. Nach der Messe, als die Besucher aufstanden, um hinauszugehen, wollte auch Winberg die Treppe hinuntersteigen, sah aber, dass Kryger bewegungslos an seinem Platz stehen geblieben war und auf etwas zu warten schien. Nach einer Weile trat der Geistliche aus einem winzigen Nebenraum wieder ins Kircheninnere, und Kryger ging mit wenigen großen Schritten, mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, hielt ihn an und sprach mit ihm, nachdem er eine fast jungenhafte Verbeugung gemacht hatte. Dann verschwand jeder von beiden in einer der Seiten eines Beichtstuhls.

Im Hotel wurde Kryger von seiner Begleiterin erwartet. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, schob die Sonnenbrille aufs Haar und küsste ihn, während seine Muskeln im Nacken, an seinen Armen und Beinen sich spannten. Mit einem höflichen Lächeln zeigte er seine Zähne, und nach wenigen Augenblicken war aus ihm ein anderer geworden. Aber wer? Ganz der Alte?

Auch im Restaurant, beim Mittagessen, behielt Winberg Kryger und das Mädchen im Auge, beobachtete, wie er ihr mit der Vollendung eines Küchenchefs vorlegte, wie er eingoss und mit ihr anstieß, wie er unermüdlich neue Worte fand, um sie zu unterhalten. Später setzten sich zu den beiden zwei Männer aus der gestrigen Runde, die ohne Begleitung kamen. Jetzt taten sie zu dritt der Schönen schön, warben um sie mit der Eindeutigkeit von Gigolos und strahlten, wenn sie ihretwegen lachte.

Nachdem sie sich schließlich voneinander verabschiedet hatten, und während Kryger und das Mädchen auf den Ausgang zur Halle zugingen, hörte Winberg ihn in der Nähe seines Tisches zu ihr sagen:

Die beiden haben sich genug zum Narren gemacht. Lass uns auf mein Zimmer gehen.

Sie schmiegte sich an ihn, und er führte sie mit sich fort mit dem Gesicht eines erfahrenen Mannes, der freiwillig eine opfervolle Mühe auf sich nimmt.

Am Nachmittag kam die vollständige Runde in der Halle zusammen und begrüßte sich aufwendig, bevor sie alle das Hotel verließen, um zu einer der Sportanlagen hinüberzugehen, die dazugehörten. Hier machten sie mit einer Runde Minigolf den Anfang, vor allem wohl der Damen wegen, die sich betont umständlich und unbeholfen gaben.

Solange die Männer in den Umkleidekabinen ihre Tennissachen anzogen, standen die Frauen wartend beieinander, über Minuten so gut wie wortlos. Und erst, als ihre Begleiter in ihren Dresses auf die Plätze liefen, auf der Stelle tretend die Rackets prüften und die Seiten der Spielfelder auslosten, lehnten die Mädchen, die alle nur einen Namen, nur eine Persönlichkeit zu haben schienen, sich gegen den Zaun, setzten alle das gleiche Lächeln auf und reichten einander belanglose Sätze weiter.

Während des Spiels taten die Männer so, als wären sie es gewohnt, tagtäglich im Sport ihr Bestes zu geben. Sie warfen fachmännische Bemerkungen hin und her, lockerten in regelmäßigen Abständen die Gliedmaßen und sahen immer wieder einmal nach dem Stand der Sonne. Winberg, der sich zwischen den Kabinen und einem Schiedsrichterstuhl verborgen hielt, sah den Männern zu, die allesamt gut spielten, beobachtete, wie sich ihre Wadenmuskeln rhythmisch zusammenzogen, wie sie aus zurückgebogenem Körper den Ball zum Aufschlag in die Luft warfen und ihn dort für den Bruchteil einer Sekunde stehen ließen, bevor sie ihm ächzend einen schmatzenden Hieb versetzten, wie sie gleich danach halb in die Hocke fielen, nervös lauernd und von einem Fuß auf den andern trippelnd, wie sie zwischendurch den Mädchen winkten, die nach jedem gewonnenen Ball applaudierten und jubelten. Kryger verlor nur einmal und erntete die Anerkennung aller. Aus dem hinter verschlossener Tür keuchenden, sich hilflos abarbeitenden Mann von gestern Nachmittag war so etwas wie ein Held, wie ein Sieger geworden.

So ging er schwimmen.

Die Runde ging nach kurzem Abendessen auseinander, und jeder hatte seine eigene Richtung.

Vielleicht wieder im Oktober,

rief man sich bei den Autos noch zu, und:

Muss erst mal sehen, obs da klappt.

Als Winberg zurückfuhr, tat er es mit der bewusstlosen Sicherheit eines Automaten, mit einer Genauigkeit des Steuerns, Kuppelns, Schaltens, mit einer Schnelligkeit der Reaktion, die er in wachem Zustand nie über sich gebracht hätte. Er sah sich wie einen anderen an Stationen dieses und des vergangenen Tages, wie jemanden, der in teilnahmsloser Betrachtung vor Bildern steht, die erfunden und kaum glaubhaft sind und nie wirklich werden. Er sah sich, fast beschämt, Dinge tun, die er nie zuvor getan hatte und die ihm bisher unvorstellbar erschienen waren: sah sich vor einer Hotelzimmertür die Vereinigungsversuche eines abgelebten Fremden belauschen; sah sich teilhaben an den Witzeleien einer Altherrenrunde, die mehrere Brieftaschenfüllungen investierte in ein paar Stunden mit ernüchternden Amüsements; sah sich, der seit Jahren keinen Sportplatz mehr besucht hatte, die Resultate einiger gezierter Tennisrunden vermerken.

Ihm war im Nachhinein, als hätte er nichts anzufangen gewusst mit sich, als hätte er den Anblick und das hektische, atemlose Tätigsein der albernden anderen gebraucht, um seine eigene Zeit herumzubringen. Winbergs Unzufriedenheit wuchs, als er erkennen zu müssen glaubte, dass ihm im Grunde keiner der anderen, sondern er selbst sich die zwei Tage über auf die Nerven gegangen war. Die Spannung, die ihn für einige Zeit in Atem gehalten hatte, zerplatzte zur unwandelbaren Enttäuschung eines Kindes, das ein kompliziertes Spielzeug verkehrt zusammengebaut hat.

Gegen acht hielt er vorm Krankenhaus und war sich im Klaren, dass die Aussicht gering war, Christine noch sehen zu dürfen; er wusste nicht einmal, ob er es wollte. Fast wäre es ihm lieber gewesen, der starre, unbewegte Anblick ihres violetten Gesichts unter dem weißen Turban bliebe in seinem Gedächtnis wie eine schlimme, aber übertriebene Erinnerung. Die Nachtschwester sah ihn verdrießlich an und schüttelte wortlos den Kopf. Aber Winberg blieb fest.

Nur einen Augenblick, sagte er. Sicher verstehen Sie mich.

Eine Weile zögerte sie noch, und Winberg schickte ein paar gute Worte und schmeichelnde Entschuldigungen nach. Das erweichte ihr Herz, und sie nahm ihn mit sich.

Hat sich Herr Doktor Kryger schon einmal nach meiner Frau erkundigt?, fragte er unterwegs.

Nicht dass ich wüsste, sagte die Schwester. Heute Morgen haben wir sie aus der Intensivstation verlegt, fuhr sie fort. Und weil sie ihn wie Christines Kind, nicht wie ihren Mann ansah, fügte sie hinzu: Vielleicht wird jetzt doch noch alles gut.

Zuerst wollte sich auch Winberg darüber freuen. Dann überfiel ihn mit überzeugender Plötzlichkeit alles, was er über Krankenhäuser, Intensivstationen, Schwerverletzte und Sterbende gehört hatte. Vielleicht war die Intensivstation überfüllt? Vielleicht war jemand eingeliefert worden, dessen Fall aussichtsreicher schien als der Christines und der die besondere Pflege der Station eher verdiente als sie? Vielleicht war man dabei, sie aufzugeben? Vielleicht hatte man eingesehen, dass in solchen Fällen Sterbendürfen gnädiger ist als Weiterlebenmüssen? Und Winberg fühlte jetzt, dass seine Hoffnung schon zerfallen war; dass er in den vergangenen Tagen gelernt hatte, allein durchzukommen; dass sein Leben bereits anders aussah als jenes, das er an Christines Seite geführt hatte; dass in dieses neue Leben Christine als Kranke, als Sterbende passte, nicht mehr aber als Lebende, als Partnerin Platz darin hatte; dass sie ihm fremd geworden sein würde, geschähe doch noch irgendwann das Wunder ihrer Heilung.

4

Winberg erwachte aus einem schweren Schlaf, aus einem schweren Traum ohne Bilder, der nichts zurückließ als die trübe Erinnerung daran, dass ihm wieder gesagt worden war, es müsse etwas geschehen und anders werden. Er sah auf die Uhr, es war etwa halb sechs, in einer Stunde würde der Wecker klingeln. Winberg stellte die Glocke ab und drehte die Uhr mit dem Zifferblatt zur Wand. Er fühlte sich zerschlagen, ohne dass noch Schlaf in ihm war, und er vermochte die Augen nicht länger als ein paar Sekunden geschlossen zu halten. Dann meinte er, in seinem Kopf nach ein paar Gedanken suchen zu müssen, aber er fand keinen, der von gestern übrig geblieben wäre, und neue zu denken, fehlte ihm die Kraft. Seit Christines Unfall spürte er sich mehr und mehr vom Weg abgekommen, einen Weg gehen, der keine Richtung hatte.

Zwei Stunden lag Winberg: auf dem Rücken, den Blick nach oben auf die grau gewordene, allmählich heller werdende Zimmerdecke gerichtet. Manchmal schoss ihm ein alberner Satz durch den Kopf, der unmöglich von ihm oder Christine hätte stammen können, etwa: Da musst du durch; Sätze aus mittelmäßigen Filmen, wie: Es muss getan werden.

Später, im Bad, löste er fröstelnd zwei Aspirin in Wasser, weil er es für möglich hielt, dass er Kopfschmerzen habe oder bekommen könne. Die Dinge fühlten sich heute falsch an, mit ein paar konfusen Bewegungen warf er aus Versehen sein Rasierzeug, die Zahnbürste und ein Parfümfläschchen Christines zu Boden. Bald erfüllte eine schwere, süße Duftwolke die Wohnung. Mit einem Mal schienen alle Gegenstände nach Christines Haut riechen zu wollen, nur viel stärker, aufdringlich, ohne die Zurückhaltung, mit der ihr Hals, der Ansatz ihres Haars, ihre Handgelenke den Geruch preisgaben: sparsam fast, gleichsam Stück um Stück.

Von vorneherein hatte dieser Tag für Winberg etwas von einem Abschluss. Jetzt hielt ers nicht mehr für nötig, sich in Bedeckung zu halten. Er rief in Krygers Klinik an und fragte, wann der Doktor zu sprechen sei. Erst nachmittags, lautete die Antwort. Da lag die Hoffnung nahe, dass Kryger wieder seinen Spaziergang durch den Park, über den Kirchplatz, in die Kirche unternehmen würde.

Am Vormittag brachte Winberg die Wohnung in Ordnung. Das lenkte ihn ab, und die immer übersichtlichere Arbeit seiner Hände machte ihn schließlich ruhiger. Wenn sie schwere Gegenstände bewegten, prüfte er wie ein Arzt die Festigkeit des Griffs, die Ausdauer der Finger. Wenn er unter dem Gewicht eines Möbelstücks stöhnte oder sich einmal räusperte, staunte er über seine Stimme, die hohl klang und eigentümlich verstellt.

Um zehn verließ er die Wohnung und fuhr zu Krygers Klinik. Ein paar Minuten war er auf Vermutungen angewiesen, ob Kryger das Haus vielleicht schon verlassen habe oder erst noch herauskommen werde oder gar nicht an einen Spaziergang denke; bis Winberg, aus ziellosen, unwiederholbaren Gedanken aufschreckend, den Sommermantel Krygers nicht weit vor sich um eine Ecke verschwinden sah.

Er wählte diesmal einen anderen Weg als vor drei Tagen, aber Winberg hatte die durch nichts begründete Gewissheit, dass das Ziel dasselbe sein werde. Er folgte Kryger durch ein paar Einkaufsstraßen, wartete vor einem Tabakladen, später vor einer Weinhandlung, blieb eine halbe Stunde untätig in der Nähe eines Friseursalons stehen, bis Kryger seinen Weg wieder fortsetzte. Als er endlich auf die Kirche zuging, verbarg Winberg sich hinter einem Baum, um nicht jetzt noch erkannt zu werden; scheinbar gleichgültig drückte er sich an die staubige Rinde, wie einer, der jahrelange Routine im Verfolgen und Verstecken und Beobachten hat. So wartete er ein paar Minuten und trat dann durch das Portal ins Kircheninnere.

Drinnen herrschten braungraues Licht und der uralte Geruch von Kerzen, kaltem Weihrauch und eingestaubten Stoffen. Wie vor ein paar Tagen: matte Frauen, graue Hände, die regungslosen Lichtbalken aus dem Obergaden, in denen Staubkörner millionenfach ihre Kreise zogen. Von einer Seite kam ein Geräusch, das gedämpfte Einschnappen eines Türschlosses. Kryger stand auf und wandte den Kopf dem Priester zu, der langsam auf ihn zukam, mit lächelndem Gesicht, und ein paar Meter vor ihm die Hand ausstreckte.

Etwas setzte Winberg in Bewegung. Wie auf Rollen trugen ihn seine Füße gleichmäßig langsam nach vorn; wie eine Videokamera hielten seine Augen jede Geste Krygers und des Geistlichen fest, den Händedruck, die sich öffnenden und schließenden Münder, die Blicke des Pfarrers, die mit Respekt und Wohlwollen auf Kryger fielen, und die Krygers, die sich ab und an zu Boden richteten, wie wenn das von ihnen erwartet würde.

Eine Hand Winbergs legte sich auf die Wange einer Kirchenbank, und seine Füße schoben sich nebeneinander. Als der Priester noch einmal Krygers Hand nahm, streifte sein Blick Winbergs Gesicht. Ohne dass der Geistliche mit seinen leisen Worten auch nur einen Augenblick innehielt, hatte er jenen Mann zur Kenntnis genommen, der da seit einer Minute unentschlossen im Mittelgang verharrte wie ein jahrelang beichtsäumiger Sünder und sie beide anstarrte. Man verabschiedete sich, der Geistliche strebte dem Seitenausgang zu, jedoch gemächlicher als vor drei Tagen, so, als ob sein Hinterkopf rückwärts sehen wollte, um etwas abzuwarten.

Winberg war unterdessen hinter Kryger getreten, der sich wieder gesetzt hatte und, den Rosenkranz in den Händen auf dem Schoss, dem Pfarrer nachschaute. Stumm blieb Winberg stehen und starrte auf den Scheitel des Kopfes vor ihm, auf die gesund geröteten, schimmernden Ohrmuscheln, auf die Nasenspitze, die unter Krygers Stirn hervorsah.

Dann drehte Kryger sich um und sah nach oben. Dann stand er auf und forschte sich kurz in das Gesicht des anderen. Dann setzte er zum Sprechen an und ließ es bleiben. Dann sagte er doch noch:

Kenne ich Sie?

Und:

Ich kenne Sie doch?

Und:

Sie waren mir auf den Fersen. Ja. Die ganze Zeit.

Winberg hob die Hand, von der er auf einmal wusste, dass sie etwas festhielt, das Bund Schlüssel, an dem sich die nervösen Finger bisher in der Jackentasche festgehalten hatten.

Du hast ihn gestellt. Die Jagd ist vorüber. Was jetzt? Doch ehe er zu Ende gedacht hatte, bewegte sich die gefüllte Hand mit äußerster Wucht und grausamer Geschwindigkeit, die Winberg unendlich langsam vorkam, und prallte gegen Krygers Ohr, einmal, zweimal. Winberg spürte den Blitz eines schrecklichen Schmerzes in seiner Hand und spürte, wie unter ihr fremde Haut zerschliss, wie Knochen nachgab, er sah Kryger mit vor Überraschung durchsichtigem Gesicht aus der Bank taumeln. Noch ein Stoß gegen die Brust: Kryger blies die Backen auf, eine Haartolle schwang in die Stirn, die Augen traten ein wenig aus den Höhlen. Als Krygers Kopf gegen die Kante einer Altarstufe schlug, klang sein Platzen wie das einer schweren Riesenfrucht, die zu Boden fällt.

Unbestreitbar, dass jetzt etwas geschehen war. Und Winberg hatte etwas dergleichen gewollt; wahrscheinlich; vielleicht.

Ich wollte das nicht, hörte er sich mit mechanischer Stimme sagen.

Der Priester sah zu ihm auf. Er hatte Blut an den Händen, zwischen den Fingern, an den Manschetten des Hemdes und den Revers seines Anzugs.

Ich wollte das nicht.

Der Pfarrer stieß einen wie angewurzelt stehenden Kirchendiener an. Schnell, sagte er unerwartet ruhig, sorgen Sie für einen Krankenwagen. Und zu Winberg, mit der belehrenden Stimme eines erprobten Sanitäters: Wir dürfen ihn nicht bewegen; der Kopf scheint schwer verletzt.

Der Kirchendiener kam wieder gelaufen. Der Geistliche ließ Winberg neben Kryger stehen und schob die wenigen Menschen, die sich erschrocken um sie versammelt hatten, aus der Kirche. Dann gab er dem Mesner ein paar Anweisungen, nahm Winberg mit einer seiner blutigen Hände, mit einer routinierten Bewegung sacht am Arm und führte ihn mit sich fort in die Sakristei.

Was dieser Fall für Sie bedeutet, wissen Sie wohl, sagte er nüchtern zu Winberg und wischte sich mit einem Taschentuch sorgfältig die Hände ab.

Ich weiß, sagte Winberg.

Vor allem: Beruhigen Sie sich, sagte der Pfarrer unvermittelt.

Ich bin ganz ruhig.

Es wird eine Untersuchung geben. Viele lange Vernehmungen. Und natürlich den Prozess.

Ja.

Und Sie stehen … nicht gerade gut da, fuhr der Pfarrer fort.

Ja.

Was?

Ich stehe nicht gut da, sagte Winberg. Ihm war, als hätte er in den vergangenen Minuten kein einziges Mal geatmet.

Vor dem halb offenen Fenster stand blendende Luft. Draußen war alles bewegungslos, als ruhte das Leben. Um die Mittagszeit mochten sich selbst die Fliegen keine Mühe mehr geben. Alles schien sich trotzig vor der Sonne zurückgezogen zu haben.

Der Pfarrer sagte, nachdem er sich hingesetzt und den immer noch stehenden Winberg lange gemustert hatte: Ich kann Sie natürlich nicht hier festhalten.

Ich gehe nicht fort, antwortete Winberg. Ich werde mich selbstverständlich stellen, fügte er hinzu, scheinbar fest. In Wahrheit aber war er konfus, und die Worte kamen von irgendwoher fast automatisch in seinen Mund.

Als sie von draußen das Fahrzeug des Roten Kreuzes hörten und kurz darauf die Sirene eines Polizeiwagens dazukam, sah Winberg zum Fenster, durch das die zähe, muffige Sommermittagsluft in den schattigen Raum floss. Winberg tat ein paar Schritte auf das Fenster zu.

Bleiben Sie noch, sagte der Geistliche hastig und machte eine angespannte Geste.

Winberg musste lächeln. Ich geh nicht fort, sagte er wieder und legte die Fensterflügel zusammen. Der Pfarrer entkrampfte sich.

Vielleicht kann ich Ihnen …, begann er langsam, helfen … in gewisser Weise.

Kaum, gab Winberg zurück.

Ich kenne ja nicht einmal Ihren Namen, geschweige denn den Grund ihrer – Tat. Aber in meinem Beruf sammelt man Geschichten vieler ganz unterschiedlicher Menschen, und …

So?, sagte Winberg trocken. Geschieht dergleichen häufiger in dieser Kirche? Er hatte jetzt wenigstens keine Angst mehr und meinte, sich eine Zeit lang auf seine Ruhe verlassen zu können.

Unbeirrt fuhr der Pfarrer fort: Immerhin hab ich gesehen, was Sie getan haben. Ich habe den wichtigsten Augenblick in Ihrem Leben miterlebt. Dann, gedehnter: Mit-erlebt – ja, buchstäblich.

Winberg blieb dabei, zu schweigen.

Ich habe nur zu oft mit Menschen zu tun, die sich in kritischen oder ausweglosen Situationen befinden.

In Winbergs Ohren klang, was der Priester sagte, merkwürdig lustlos: ein geschäftsmäßiger Text, vor Jahren einstudiert, ohne dass der Sprecher noch wusste, wessen Rolle er aufsagte.

Nach einer Pause verkündete der Pfarrer unbewegt: Ich gehe jetzt hinaus und rufe die Polizei herein. Dabei sah er Winberg von unten herauf an, als ob noch etwas zu sagen wäre.

Winberg nickte.

Der Pfarrer stand auf. Eine merkwürdige Geschichte. Aber er erwähnte es nur so, seltsamerweise ohne Betroffenheit. Winberg tat zwei Schritte auf das Fenster zu, um hinauszusehen, und der Pfarrer hielt noch einmal in seiner Bewegung inne und blickte ihn schweigend an.

Ich geh nicht fort, sagte Winberg noch einmal.

Der Pfarrer fragte: Kennen Sie einen Rechtsanwalt?

Ich werde telefonieren, sagte Winberg.

Bitte. Der Pfarrer zögerte eine Sekunde und verließ die Sakristei.

Winberg fingerte das Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Winberg, antwortete er der Stimme des Krankenhauses. Dann wurde er mit dem Stationsarzt verbunden.

Wie geht es meiner Frau?

Nichts Neues, sagte der Arzt. Keine Veränderung.

Nichts Neues, wiederholte Winberg. Aber er meinte nicht den Arzt. Er meinte den Priester, der ihn gerade als Täter ausgab; Christine, die gewesen war und nicht mehr sein würde; Kryger, dessen Gehirn draußen in die Fugen des Steinfußbodens floss. Keine Veränderung. Er meinte sich.

Der Hungerturm

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