Читать книгу Der Hungerturm - Michael Thumser - Страница 9

Оглавление

GÜGES

Eine altmodische Geschichte

… mir war in jener schwülen Stunde, / Als hättst du nicht das Recht dazu gehabt.

Friedrich Hebbel,

GYGES UND SEIN RING

Sie hatte nichts dagegen, wenn er sie nackt sah. Sie mochte es nur nicht, wenn er sie beim An- und Ausziehen beobachtete. Er lag neben ihr, auf den Ellbogen gestützt. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Linien ihrer Schultern entlang, tastete über das Kinn und glitt übers Schlüsselbein.

Himmel, bist du begehrenswert, schwärmte er.

Sie war schon ein wenig müde und lächelte ihm zu.

Das finden alle. Alle, fuhr er fort. Sein Finger umkreiste den Nabel.

Ach lass, wehrte sie freundlich ab.

Doch, sagte er. Du gefällst allen.

Wichtig ist, dass ich dir gefalle, sagte sie banal.

Viele würden etwas darum geben, dich zu sehen, wie ich dich sehe: jetzt, so.

Christian, du weißt doch, dass ich solche Redereien nicht mag.

Du kannst ruhig ein bisschen stolz auf dich sein.

Sie machte eine Bewegung und wollte aufstehen.

Bleib doch, hielt er sie zurück. Dann sah er sie eine Weile mit großen Augen an. Schließlich sagte er: Ich will dich fotografieren.

Du hast sicher zweihundert Aufnahmen von mir, lachte sie.

Nein, ich meine: so wie du jetzt bist.

Sie zögerte. Ich will das nicht. Das weißt du.

Ich hab dich schon so oft darum gebeten. Komm. Was ist dabei?

Ich will es nicht. Du darfst mich ruhig für zimperlich halten, aber es ist mir einfach nicht angenehm.

Niemand bekommt das Foto zu Gesicht außer uns.

Warum willst du überhaupt – so ein Bild von mir.

Na hör mal. Er schwieg eine Weile und sagte dann: Lass mich doch.

Sie gab endlich auf und sagte nichts mehr.

Als keine Antwort kam, stand er auf und holte seine Ausrüstung.

Lehn dich ein wenig zurück.

Aber nur eine, ja?

Er sah durch den Sucher. Die Hand nicht ans Gesicht.

Mach schnell, bitte. Es ist mir unangenehm.

Das Kissen ein bisschen nach hinten.

Sie sah ihn unzufrieden an. Lass es lieber doch.

Das Auge am Sucher. Beweg dich nicht. Er verzog das Gesicht hinter der Kamera. Und schau nicht so miesepetrig drein!

Sie versuchte, sich zu entspannen. Es blitzte.

So, sagte er.

Während er die Kamera in der Tasche versorgte, begann sie, sich anzuziehen. Als er ein paar Mal zu ihr herübergeäugt hatte, drehte sie ihm den Rücken zu.

Seither behielt sie ein Gefühl der Beklemmung, das sie selber lächerlich fand und sich nicht erklären konnte. In den nächsten Nächten träumte sie manchmal von Männern, die nach ihr griffen, und von großen, leeren Häusern, in denen niemand zu sein schien außer ihr und in denen doch jemand war. An manchen Morgen war das Erste, woran sie dachte, Christians Kamera mit dem Chip darin. Einmal war sie sogar für kurze Zeit entschlossen, ihn aus dem Apparat zu nehmen. Da erzählte sie es ihm.

Du bist albern, sagte er.

Ich weiß.

Wir sind keine Kinder mehr. Nicht einmal unsere Eltern waren so prüde.

Das war eine dumme Antwort. Ich weiß nicht, wozu du es brauchst. Du hast mich, wie ich bin. Wann immer du magst.

Glaube mir. Das Foto bekommt niemand zu Gesicht. Es wird nicht auf meiner nächsten Ausstellung zu sehen sein und auf keiner danach. Es ist nicht mehr als ein Schnappschuss, rein privat, und alles andere als das Meisterstück des Meisterfotografen Christian Daules. Ich hab andere Aktfotografien gemacht, die dürfen die Leute sich ansehen, so lange sie wollen.

Aber es beruhigte sie nicht.

Einige Tage später kam er die Treppe vom Erdgeschoss, wo er ein paar helle Räume als Atelier eingerichtet hatte, in die Wohnung herauf.

Unten stapelt sich die Arbeit, schnaufte er wohlig. Bei diesem herrlichen Wetter. Viel lieber würde ich vor die Stadt und ein wenig in der Landschaft fotografieren.

Sie lächelte ihn an. Es reicht eben nicht, Aufnahmen zu machen. Du musst sie auch verkaufen.

Du bist zu streng, antwortete er. – Sieh einmal, was ich mitgebracht habe. Das Foto von vor ein paar …

Aber sie unterbrach ihn, plötzlich ernst. Ich wills gar nicht sehen.

Aber Ruth, ich finde, du …

Lass mir meinen Willen, bat sie, ich will es wirklich nicht.

Eine ganz harmlose Aufnahme, wahrlich kein Bild des Lasters.

Lieber nicht. Dann sagte sie: Übrigens hat Güges angerufen. Ich soll dich erinnern: er kommt gegen Abend.

Christian nickte. Unter der Tür frage er: Bist du mir böse?

Überhaupt nicht. Ich will nur nichts von dem Foto wissen. Und es auch gar nicht in der Wohnung haben. Lass uns so tun, als gäbe es das Bild gar nicht. Am liebsten wärs mir, du löschtest es von der Festplatte.

Er schwieg eine Zeitlang. Gut. Dann nahm er das Foto und steckte es ein. Vor dem Hinausgehen sagte er noch: Ach ja. Güges. Um sechs. Haben wir was zu trinken da?

Güges sagte, noch in der Tür: Ich hab heute Morgen mit deiner Frau telefoniert.

Ich weiß. Ich hab dich erwartet. Komm rein.

Sie gaben sich die Hand. Dann gingen sie durch den Flur zu Christians Atelier, das vor Jahrzehnten einmal als Wintergarten gedient haben mochte. Jedes Mal, wenn Güges durch diesen Flur ging, blieb er hinter Christian zurück und betrachtete sich die Fotos, die mit Magneten auf große Blechplatten geheftet waren.

Nanu. In Farbe?, fragte Güges.

Ja, und auch Christian blieb stehen. Samson hat sich wieder gemeldet. Er will in seinem Verlag jetzt auch Kalender herausbringen.

Du hast dich gemacht, Christian, das muss man dir lassen.

An Arbeit fehlts mir im Moment jedenfalls nicht.

Im Atelier suchte Christian in den Mappen. Das ist kein neues, aber auch kein schlechtes Thema, sagte er dabei. Innenstadt. Schwarzweiß. Grob gekörnt. Trostlos. Aber wirkungsvoll. Was mir noch fehlt, sind ein paar Aufnahmen bei Dunkelheit. Er suchte. Kino, Frittenbude, Bahnhof, Strich, verstehst du?

Zeig nur, was du hast, sagte Güges, ein wenig unkonzentriert.

Christian plauderte leichthin. Nur in der Großstadt könne ein freier Fotograf hoffen, seinen Lebensunterhalt einigermaßen zusammenzubekommen. Keine der Fotogalerien, die er kenne, könne mit der Güges’ auch nur entfernt mithalten. Künftig wolle er mehr für Zeitschriften arbeiten, mittlerweile sei er so weit, unter den Angeboten das beste aussuchen zu können. Güges ging im Zimmer auf und ab.

Bis jetzt sinds etwa fünfzig Aufnahmen. Lass noch zehn dazukommen. An den nächsten Abenden mach ich mich auf den Weg. Ich dachte an eine Auswahl von vielleicht zwölf Stück, nicht mehr. Nur die besten. Ein Bezug stellt sich von ganz alleine her, wenn sie nur richtig arrangiert werden. Jetzt hielt er einen Stapel.

Du hast eine schöne Frau, Christian, sagte Güges und betrachtete das Foto in seinen Händen.

Meine Güte. Gib das her. Woher hast du das?

Christian hatte die Aufnahmen auf den Tisch geworfen und riss Güges das Foto aus der Hand.

Es lag da.

Das sollte keiner sehen. Wenn Ruth das wüsste.

Christian war ganz blass geworden, er wandte sich ab, seine Zähne nagten an der Unterlippe, und die Finger klopften nervös gegen die Schenkel.

Warum regst du dich auf, beschwichtigte Güges. Wir haben beide schon mehr als eine nackte Frau gesehen. Dass deine Frau schön ist, weiß ich, seit ich euch beide kenne. Das Bild verrät kein Geheimnis.

Ruth denkt anders darüber.

Dann zeigte er Güges die Aufnahmen.

Du bist unaufmerksam, monierte Güges.

Ja. Christian seufzte. Such du welche aus.

Güges ging spät, nachdem sie noch etwas getrunken hatten. Ich bringe dich hinunter, sagte Christian. Die Tür ist sicher abgesperrt.

Auf der Treppe sagte Güges: Du bist ganz durch den Wind, seit ich das Foto gesehen habe. Das ist doch nun wirklich …

Sprich leiser, um Himmels willen.

Dann ging plötzlich das Licht aus.

Immer dasselbe, jammerte Christian, typisch Altbau. Das Minutenlicht ist uralt, und der Zeitschalter ist defekt. Jedes Mal steht man im Dunkeln, wenn man erst halb unten ist.

Güges hatte kein Verständnis. Er machte sein Feuerzeug an und griff nach dem Schalter. Das ist alles kein Grund, derart die Fassung zu verlieren. Er solle sich einmal richtig ausschlafen. Ob er nicht vielleicht doch zu viel um die Ohren habe?

Christian drehte das Radio ab. Sonne und steigende Temperaturen auch in den nächsten Tagen, sagte er.

Schön, antwortete Ruth zerstreut.

Ich fahre ein wenig vor die Stadt. Fotografieren. Willst du mit?

Ach ich weiß nicht.

Es könne ihr nicht schaden: bei solchem Wetter an der frischenLuft. Wann bist du das letzte Mal draußen gewesen?

Lass mich lieber hier, lehnte sie ab, ich würde dich vielleicht nur stören.

Unsinn. Er trat auf sie zu und küsste sie auf die Stirn. Sie wich ihm leicht aus. Sieh dich nur an, brummte er, Strickjacke, bis oben zugeknöpft. Du solltest dich leichter anziehen. Er griff an ihren Hals und versuchte, den obersten Knopf ihres Hemdes zu öffnen.

Sie trat einen raschen Schritt zur Seite. Bitte, Christian, wehrte sie sich hektisch und vielleicht ein wenig zu laut.

Er war eingeschnappt. Ich weiß wirklich nicht, was du seit einiger Zeit … Nicht einmal mehr anfassen darf ich dich. So kenn ich dich gar nicht.

Ich weiß, sagte sie bitter.

Fehlt dir was? Oder ob sie sich geärgert habe.

Sie schwieg, ging aus dem Zimmer in den Flur und griff, um nur irgendetwas in die Hand zu nehmen, nach der Klinke der Schlafzimmertür.

Dann geh ich jetzt.

Sie lief ihm zur Wohnungstür nach. Das Foto: hast du es gelöscht?

Wovon sprichst du denn?

Das Foto, Christian. Ich hatte dich darum gebeten.

Ach so, er erinnerte sich. Natürlich. Ich hatte es dir versprochen.

Christian, dann gib mir noch den Ausdruck, flehte sie.

Ich verstehe nicht … warum …

Gib ihn mir, bitte, drang sie auf ihn ein. Ich weiß, ich war nicht besonders umgänglich in den beiden letzten Wochen. Es tut mir leid. Es ist das Foto … Ich weiß, es ist – lächerlich, gib es mir, bitte.

Ruth … , er wand sich, das Foto … es …

Gib es mir. Ich kenn dich ja: du kannst das nicht nachvollziehen. Es liegt an mir, nur an mir … aber ich brauche das Foto. Gib es mir … oder: verbrenn es: hier und gleich jetzt.

Das ist nicht so …

Ich bin wie krank, solange es das Bild gibt. Kaum, dass sie sich noch beherrschen konnte. Ich weiß nicht, was passiert. Es hat alles … überhaupt keinen Sinn mehr. Christian, das Foto…

Er versuchte ruhig zu sprechen. Es geht nicht. Ich habe es nicht mehr.

Nicht mehr. Sie starrte ihn an mit großem, offenem Gesicht. Die Hand, mit der sie sich an seinen Arm geklammert hatte, fiel herunter.

Nein. Und er atmete tief. Es ist … weg.

Wo.

Weiß nicht. Er ließ sich gegen die Wand fallen.

Hast dus irgendwo verloren? Draußen. Auf der Straße.

Nein nein.

Irgendwo liegen lassen.

Nein, Ruth. Ich hatte es ja nie bei mir. Es lag im Atelier.

Oder dass es in einer deiner Mappen …? Vielleicht hast du es aus Versehen weggeworfen.

Nein, sicher nicht. Ich kann mir nur vorstellen …

Was.

… dass Güges …

Güges?

Ja. Dass er es … an sich genommen hat.

Aber Christian, wie konnte er das denn? Dann ganz hart: Du hast es ihm gezeigt.

Nein nein, er … er hat es liegen sehen.

Güges kennt das Foto. Dieses Foto.

Christian ging ins Wohnzimmer. Sie folgte ihm nicht gleich. Er wandte das Gesicht ab und sah aus dem Fenster.

Dass ist doch nicht so schlimm, stotterte er.

Sie aber war fassungslos. Er hat dieses Foto.

Das weißt du doch gar nicht. Es ist ja nur eine Vermutung.

Sie setzte sich langsam auf einen Sessel und legte die Hände ineinander. Ich muss fort, sagte sie dann.

Er drehte sich um. Ruth! Du wirst doch nicht …

Ach lass mich in Ruhe.

Er stellte sich vor sie, beugte sich zu ihr hinunter und griff mit den Händen fest in ihre Schultern. Du wirst doch deswegen nicht alles aufs Spiel setzen.

Sie schrie ihn an: Soll ich denn bei dir bleiben, wenn du mich an deine Freunde verschenkst?

Na erlaube mal, sagte Güges aufgebracht.

Ich mach dir keinen Vorwurf, beruhigte ihn Christian. Aber ich brauche das Bild. Ruth ist vollkommen am Ende.

Du hast es mir damals aus der Hand genommen. Ich weiß nicht, wohin du es gelegt haben könntest. Vielleicht hast du es eingesteckt.

Ich bitte dich.

Wofür hältst du mich, Christian, sagte Güges unwillig. Dann wies er auf die Glastür. Wir sehen uns am Mittwoch um sechs, vor der Vernissage.

Er sagt, er habe es nicht.

Sie schrie: Er lügt dich an.

Unsinn. Ich glaube ihm.

Er sagt dir kein wahres Wort.

Christian ließ sie los. Es hat ja keinen Zweck, maulte er, aber er nahm sich zusammen. Ich brauche ihn. Seit ich bei ihm ausstellen kann, verkaufe ich doppelt so viel wie vorher. In zwei Tagen eröffnet er, du weißt, dass ich noch nie so viele Aufnahmen auf einmal ausstellen konnte.

Das ist mir gleich.

Er fuhr sie an: Das sollte es nicht sein. Es ist das erste Mal, dass ich in zwei, vielleicht drei überregionalen Zeitungen besprochen werde. Du wirst dich also am Mittwoch am Riemen reißen und sein, wie du immer warst: freundlich; charmant. Es kommt darauf an.

Sie aber antwortete, nun ruhiger: Ich glaube, du wirst allein hingehen müssen.

Er stutzte einen Augenblick. Dann brauste er auf:

Das kommt gar nicht infrage,

und warf die Tür ins Schloss.

galerie güges fotografie moderne grafik

Fast schüchtern trat sie durch die Glastür ein.

Eine elegante Angestellte kam auf sie zu: Guten Tag.

Guten Tag.

Darf ich Ihnen vielleicht …

Ich muss Herrn Güges selber sprechen.

Einen Augenblick, bitte. Die Angestellte verschwand durch eine Tür. Gleich darauf erschien Güges.

Guten Morgen, sagte er herzlich. Ich freue mich.

Sie entgegnete nichts. Er streckte ihr die Hand hin. Ich glaube, ich habe Sie noch nie als Kundin hier gesehen. Suchen Sie etwas Bestimmtes?

Sie sah ihn nicht an. Nein nein. Danke. Ich möchte Sie sprechen.

Bitte. Er ließ ihr den Vortritt ins Nebenzimmer. Nehmen Sie Platz. Etwas zu trinken?

Nein danke. Sie setzte sich auf die Couch.

Er nahm zwei Gläser, stellte eines vor sie hin und goss ein. Zum Wohl, sagte er. Aber sie trank nicht. Er sah sie an – freundlich, wie ihr schien, aber aufdringlich. Sie wandte den Blick ab.

Er ließ sich in einen Sessel nieder. Worum geht es?

Aber sie musste sich erst überwinden. Geben Sie es mir, sagte sie dann heiser und eine Spur zu leise.

Bitte?

Das Foto. Sie räusperte sich. Bitte geben Sie es mir zurück. Es gehört mir.

Er lachte kurz; aber nicht verlegen, schien ihr: er sah ihr dabei begütigend ins Gesicht. Liebe Frau Daules, Christian war schon hier, und ich habe ihm gesagt …

Sie fuhr auf: Es ist mir ganz egal, was … Dann bezwang sie sich. Verzeihen Sie. Ich weiß, was Sie Christian gesagt haben. Trotzdem bitte ich Sie: geben Sie es heraus.

Aber ich habe es doch überhaupt nicht.

Sie kreischte fast: Es gehört mir. Allein.

Ich würde ja gerne. Wenn ich es nur hätte.

Eine Pause entstand, die sie quälte. Sie griff nach dem Glas vor sich und drehte es zwischen den Fingern, ohne daraus zu trinken. Dann sah sie auf ihn und erschrak.

Mustern Sie mich nicht so!

Er verstand nicht. Aber ich bitte Sie …

Ich vertrage das nicht. Sehen Sie mich nicht so an. Nicht so!

Er war noch immer überrascht. Ich wüsste wirklich nicht, wie … Dann aber legte er seine Hand auf die ihre, die sie sofort zurückzog, als hätte er sie verbrannt.

Güges sagte ruhig: Christian hat mir berichtet, Sie fühlten sich nicht recht wohl seit dieser … Sache. Er versuchte ihr aufmunternd in die Augen zu sehen. Sie aber starrte erschrocken nach unten. Glauben Sie mir: das Bild kam mir ganz zufällig in die Hände, ich griff gedankenlos danach und sah kaum darauf. Ich gab es Christian sofort zurück, als ich … erfasste, was … Ich hab Sie gar nicht erkannt darauf.

Sie schüttelte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit der Hand. Sie wollte sich noch zwingen, nicht zu weinen. Aber es gelang ihr nicht.

Er erschrak, verließ seinen Sessel und setzte sich neben sie. Zuckend rückte sie ab. Sacht legte er ihr eine Hand auf die Schulter: Frau Daules …

Sie aber schrie: Fassen Sie mich nicht an.

Aber …

Lassen Sie mich los!

Ich will Ihnen doch nur … Er zog die Hand zurück. Das Ganze ist eine dumme Geschichte, zugegeben, aber doch nur ein Missverständnis, ein Zufall. Kein Grund jedenfalls, sich das Leben schwer zu …

Plötzlich sprang sie auf: Lassen Sie mich in Ruhe! Sein Knie hatte an ihrem gelehnt. Sie sind ein … Unsinnige Wut schäumte in ihre Verzweiflung. Dass Sie sich nicht manchmal selbst …

Dann stürzte sie aus dem Zimmer und rannte durch den Ausstellungsraum. Eine Kundin sah ihr fragend nach.

Die meisten Gäste kamen zwischen sieben und halb acht. Güges ließ ihnen Sekt mit Orangensaft anbieten und verwies auf die Platten mit belegten Schnitten. Um dreiviertel acht sprach er einige Worte, stellte Christian und zwei andere Künstler, die gleichzeitig ausstellten, vor und redete mit den Leuten von der Presse.

Dann zog er Christian auf die Seite.

Mit deiner Frau ist heute kein Staat zu machen.

Nein, gab Christian zu. Gestern Mittag kam sie ganz aufgelöst nach Hause.

Du hättest sie erst hier erleben sollen.

Sie hat mir alles erzählt.

So. Und was?

Sie sagte, du hättest sie … angefasst.

Angefasst. Sagte sie das.

Es ist natürlich reiner Unsinn.

Güges grüßte ein Paar, das vorbeiging und ihm zunickte.

Sie wird sich zusammennehmen, beschwichtigte Christian.

Einige Minuten später stand Güges wie zufällig neben Ruth. Er nahm ihre Hand, die sie ihm drucklos überließ, und sagte: Ich bin noch nicht dazugekommen, Sie richtig zu begrüßen.

Sie schwieg.

Warum stehen Sie so allein? Er zeigte dorthin, wo Christian mit ein paar Leuten stand und angeregt sprach. Ich glaube, Ihr Mann hat heute Abend Gelegenheit, einige ganz wichtige Persönlichkeiten kennenzulernen. Das kann ihn weiterbringen.

Sie räusperte sich. Es ist voll und heiß.

Sie haben recht, räumte Güges ein. Die Hitze kommt von den starken Lampen. Haben Sie schon etwas gegessen?

Bitte lassen Sie mich.

Er aber strengte sich an. Ich kann Sie verstehen. Die Leute. Die meisten haben keine Ahnung und wohl auch kein Interesse, stehen, wie man so sagt, mit dem Rücken zur Kunst, und es ist furchtbar, ihnen zuhören zu müssen, wenn sie sich besonders gescheit unterhalten wollen. Aber man gewöhnt sich an sie. Man muss sich an sie gewöhnen. Kunst ist mein Geschäft: einige von den Damen und Herren, die uns hier auf die Nerven fallen, haben genug Geld, um meinen Laden leer zu kaufen. Es sind Kunden. Gute Kunden. Vielleicht die Käufer der Bilder Ihres …

Würden Sie mich jetzt, bitte, alleine lassen, unterbrach sie ihn heftig und strengte sich an, dabei leise zu bleiben.

Güges schloss kurz nach elf. Du hast gewonnen, sagte er zu Christian, der übers ganze Gesicht strahlte. Das war der große Erfolg.

Christians Wangen und Stirn waren gerötet. Er machte ein paar hastige Bewegungen. Ja. Es ließ sich gut an, sagte er dann und hatte Mühe, seine Begeisterung zurückzuhalten. Wir wollen es feiern, rief er, komm noch mit zu uns. Lass uns eine Flasche köpfen.

Gern, sagte Güges.

Ruth aber war erschrocken. Sie zog Christian ein paar Schritte auf die Straße und flüsterte ihm zu: Ich bitte dich, schick ihn fort. Nimm ihn um Himmels willen nicht mit zu uns.

Verblüfft sah Christian auf sie. Dann herrschte er sie an: Es ist genug, Ruth. Es reicht jetzt. Wir feiern mit ihm, weil wir Grund haben, mit ihm zu feiern. Er ist mein Freund und tut viel für mich. Und ich habe keine Lust, deine Feindschaften zu den meinen zu machen.

Er ließ sie stehen, und sie starrte ihm sprachlos nach.

Christian setzte sich ans Steuer. Ruth, neben ihm, sagte die Fahrt über kein Wort, aber die Männer sprachen viel und übermütig von dem, was nach dem Erfolg von heute für die Zukunft zu erwarten sei.

Als sie vor dem Haus angehalten hatten, öffnete Güges gespielt altmodisch die Wagentür für Ruth; aber sie beachtete es nicht. Christian schloss auf, schob die Tür auf und drückte den Schalter. Das Minutenlicht klickte. Schweigend ging Ruth vorbei und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Christian und Güges gingen hinter ihr. Güges betrachtete die Fotos, die an der Wand des Treppenhauses hingen.

Das Licht ging aus.

Verdammt, fluchte Christian und tastete an der Wand entlang.

Dann stürzte etwas schwer und schlug krachend die Treppe hinunter.

Christian stand wie versteinert. Ruth? Aber alles blieb still. Er tastete zitternd zum Lichtschalter.

Ruth stand auf das Geländer gestützt, unbeweglich, bleich und mit aufgerissenen Augen. Güges’ Körper lag unnatürlich verkrümmt, wie mit missgestalteten Gliedern am Absatz der Treppe; er blutete aus Mund und Nase. Christian sprang die Stufen hinunter.

Sie fragte: Ist er tot?

Ja, keuchte Christian atemlos. Mein Gott, Ruth: du hast ihn umgebracht. Dann überlegte er kurz. Es war ein Unfall, Ruth, stieß er hervor, ein Unfall. Hörst du? Er drehte Güges vorsichtig auf den Rücken. Sie dürfen das Foto nicht finden. Wenn er es nur nicht in seiner Wohnung hat. Vielleicht ist es in einer seiner Taschen. Er durchsuchte den Anzug.

Die Schaltung des Minutenlichts knackte. Es war dunkel.

Er hat das Foto nicht bei sich.

Das ist nicht so schlimm, sagte Ruth. Sie saß auf den Stufen, atmete tief und legte das Gesicht in die Hände. Das ist nicht so schlimm.

Der Hungerturm

Подняться наверх