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Einleitung
Bedeutung der Septuaginta
In allen europäischen Sprachen heißen die ersten Menschen nicht wie in der hebräischen Bibel ’Adām und Hawwāh, sondern wie in der Septuaginta Aδαµ und Ευα („Adam und Eva“). Gleiches gilt für die Propheten Ησαιας und Ιερεµιας („Jesaja“ und „Jeremia“), deren Namen auf Hebräisch Jēšājāhū und Jirmejāhū lauten. Allein schon diese kleinen Beispiele aus dem Bereich der biblischen Eigennamen verdeutlichen die Selbstverständlichkeit des intensiven Einflusses, den die griechischen Übersetzung der hebräischen Heiligen Schriften des Judentums auf das Christentum und auf die gesamte europäische Geistesgeschichte ausübte.
Die Septuaginta enthält die erste schriftliche und wirkungsgeschichtlich bedeutendste zusammenhängende Übersetzung der hebräischen Bibel in eine andere Sprache. Sie diente der Übertragung ihrer religiösen Botschaft in eine ganz andersartige Sprach-, Denk- und Lebenswelt und ermöglichte durch diese gewaltige kulturelle Transferleistung das tiefe Eindringen hebräischer Terminologie und orientalischer Ideen- und Bilderwelt in die europäischen Sprachen und Kulturen. In der Septuaginta, eigentlich einem gewachsenen Ensemble voneinander unabhängiger Übersetzungen und Schriften, schlagen sich die zeitgeschichtlichen Umstände ihrer Entstehung nieder; vor allem spiegelt sich in dieser Schriftensammlung die ereignisreiche kulturgeschichtliche Epoche des Hellenismus wider. Außerhalb des Judentums und des Christentums hat die Septuaginta in der Antike kaum als bemerkenswerte „Literatur“ gegolten. Obgleich sie aus heutiger Perspektive als die bedeutendste Übersetzungsleistung der hellenistischen Epoche bezeichnet werden kann, blieb die Septuaginta in der paganen antiken Welt weitgehend unbeachtet; allein in De sublimitate („Über die Erhabenheit“) IX 9, dem Werk eines anonymen Autors aus dem 1. Jahrhundert n.Chr., das unter dem Namen des griechischen Rhetorikers und Philosophen Cassius Longinus (ca. 213–273 n. Chr.) überliefert ist, wurde der griechische Text von Gen 1,3.9 zitiert. Dennoch gilt die griechische Bibelübersetzung als eines der wichtigsten literarischen Dokumente zu einem umfassenden Verständnis des vielfältigen und sich fortwährend entwickelnden religiösen, intellektuellen und politischen Lebens – bzw. der unterschiedlichen Lebensbedingungen – des antiken Judentums im palästinischen Mutterland und in der westlichen Diaspora. Zugleich ermöglicht die Septuaginta einen tiefen Einblick in die Entstehung und Entwicklung des christlichen Glaubens.
Übersetzung in eine andere Sprache bedeutet immer auch Aneignung eines neuen Denkens. Als eine imponierende eigenständige Neuinterpretation ihrer Vorlage beleuchtet die Septuaginta die frühe Geschichte der Auslegung und Anwendung der hebräischen Bibel; insbesondere ist sie ein herausragender Zeuge eigenständiger und kreativer jüdisch-hellenistischer Exegese, Ethik und Theologie. Auf ihrer Basis entwickelten sich unterschiedliche Frömmigkeitsformen und theologische Systeme; durch sie erfolgte die schöpferische Aneignung griechischen Denkens bei gleichzeitiger Wahrung der eigenen Tradition. Ausgehend von ihrer verbreiteten Verwendung im griechischsprechenden antiken Judentum wurde die Septuaginta als Sammlung von Übersetzungen der jüdischen Bibel und weiteren erzählenden, weisheitlichen und poetischen Büchern zu der Heiligen Schrift der judenchristlichen Gemeinden und bildete bald eine wesentliche Grundlage der frühchristlichen Mission unter Juden und Nichtjuden. Zusammen mit den neutestamentlichen Schriften wurde die Septuaginta zur verbindlichen Bibel der entstehenden christlichen Kirchen, in deren Überlieferungsbereich sich ihre anfangs höchst heterogene Textgestalt allmählich verfestigte und in denen sie bis heute teilweise kanonische Geltung genießt.
Nicht nur die hebräische Bibel, sondern auch die Septuaginta ist gemeinsame theologische Basis für Judentum und Christentum. Das Alte Testament, das das Bild des christlichen Schrifttums der ersten vier Jahrhunderte geprägt hat, war fast ausschließlich das Alte Testament in griechischer Gestalt. Als Teil der Bibel der griechisch-orthodoxen Christen stellt die Septuaginta zugleich einen Ansatzpunkt des christlichen ökumenischen Gesprächs der Gegenwart dar. Die orthodoxen Kirchen betonen die Einheit beider Testamente als der Hauptquellen ihres Glaubens und zugleich die soteriologische Bedeutung auch der vorneutestamentlichen Gottesoffenbarung und Gotteserkenntnis; sie verwenden dabei die Septuaginta als Grundlage der reichen Liturgie und der Ikonographie, und sie haben auch die apokryphen bzw. deuterokanonischen Schriften (s.u. 18) in ihrer Tradition bewahrt.
Verwendung der Septuaginta
Ungeachtet dieser wichtigen Tatsachen und auch ihrer immensen kulturgeschichtlichen Bedeutung wurde die Septuaginta noch im vorigen Jahrhundert überwiegend dazu benutzt, einen als fehlerhaft beurteilten hebräischen Bibeltext auszubessern. Tatsächlich ist die griechische Bibelübersetzung auch eine wertvolle Quelle für Textänderungen vor der Standardisierung der hebräischen Bibel. Bis zur Entdeckung der Bibliothek von Qumran und den Textfunden aus der Wüste Juda war sie die älteste Quelle für den Text des Alten Testaments; ein Jahrtausend lag zwischen ihr und dem ältesten bis dahin bekannten hebräischen Bibelmanuskript, dem Codex Cairensis (s. u. 64). Jedoch tritt in jüngerer Zeit neben das textgeschichtliche Interesse an der Septuaginta zunehmend ein überlieferungs-und wirkungsgeschichtliches Interesse, das nach den Glaubensüberzeugungen und Lebensumständen der jüdischen und christlichen Menschen fragt, die sie übersetzten, abschrieben, überarbeiteten, lasen, auslegten, lehrten, beteten und sangen, und denen sie als grundlegender Orientierungspunkt ihrer frommen Lebensgestaltung diente.
Die vorliegende Einführung in die Septuaginta ist gedacht als eine grundlegende Information für alle, die an ihrem Inhalt und ihrer Geschichte interessiert sind. Ihr erster Hauptteil beginnt mit einer knappen Darstellung der verwickelten handschriftlichen Überlieferung der Septuaginta, stellt die im deutschsprachigen Raum verbreiteten und verfügbaren Textausgaben vor, und bietet einen Überblick über ihren Aufbau und Inhalt. Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit der Rekonstruktion der Entstehung der griechischen Bibelübersetzung anhand der antiken Quellen und geht dabei in ausführlicher Weise auf deren zeitgeschichtliche Hintergründe ein. Im dritten Hauptteil wird anhand zahlreicher Textbeispiele ein umfassender Einblick in die „Werkstatt“ der antiken Bibelübersetzer geboten. Der vierte Hauptteil enthält einen Überblick über das, was man über die jüngeren jüdischen und christlichen Übersetzungen und Überarbeitungen der griechischen Bibel gegenwärtig weiß. Im fünften und im abschließenden sechsten Haupteil wird auf die jeweils unterschiedliche Bedeutung der Septuaginta für das frühe Christentum und für das antike Judentum eingegangen.
Griechische Sprachkenntnisse werden bei der Lektüre dieser Einführung nicht vorausgesetzt; mit der Fertigstellung der philologisch zuverlässigen und zugleich gut lesbaren „Septuaginta Deutsch“ (LXX.D) wird eine leicht verfügbare deutsche Übersetzung vorliegen. Jedoch sind die Textbeispiele für alle, die die griechische Bibel in der Sprache lesen können, in der sie geschrieben wurde, durchweg nicht nur in deutscher Übersetzung, sondern auch im Original geboten. Verzichtet wurde auf eine wissenschaftliche Garnierung in Form von gelehrten Fußnoten, die die intensive aktuelle Fachdiskussion aufgreifen; hierzu gibt es einige in jüngerer Zeit erschienene umfassende Überblicksdarstellungen und instruktive Einzeluntersuchungen zu zentralen Themenbereichen, auf die am Ende dieses Buchs in einer ausführlichen thematisch geordneten Bibliographie verwiesen wird.