Читать книгу Carola Pütz - Verlorene Seelen - Michael Wagner J. - Страница 4
Cheb, Winter 2012
ОглавлениеDie kleine Stadt Cheb mit ihren 35.000 Einwohnern lag circa zehn Kilometer hinter der deutschen Grenze. Nur zehn Kilometer trennten Cheb, das ehemalige Eger, vom reichen Deutschland.
Pittoresk putzte sich die Altstadt mit ihren bonbonfarbenen Renaissance- und Barockhäuschen heraus. Die kleinen, schräg verlaufenden Gässchen, die Burg und der weitläufige Marktplatz zogen die Touristen an wie ein Magnet.
Es war ein kalter Novembertag. Bis heute ohne Schnee, dafür aber mit eisigem Wind. Etwas außerhalb der Sichtweite der normalen Touristen stand eine junge Frau mit hohen Stiefeln, kurzem Röckchen und gewaltiger Gänsehaut.
Langsam wurde es dunkel und kälter.
Sie wartete.
Sie wartete auf die reichen deutschen Freier.
Sie galten hier auch als Touristen. Sextouristen.
Die Nähe zu Deutschland und das bestehende Wohlstandsgefälle machten die Stadt Cheb zu einem geduldeten Eldorado für Sextouristen.
Jede Nacht erlebte der Ort das gleiche Bild. Mit Anbruch der Dunkelheit kamen sie über die Grenze, über die »Straße der Schande«, Deutsche aus Bayern oder Sachsen auf der Suche nach schnellem, billigem Sex.
An jeder Straßenecke traf man auf Prostituierte. Viele von ihnen wirkten sehr jung, viel zu jung. In Tschechien war nur Sex mit Minderjährigen unter fünfzehn Jahren strafbar.
Die jugendlich aussehende Frau hieß Tereza, sie hatte schwarzes Haar und gefühlvolle, dunkle Augen. Tereza war fünfzehn.
Einige Meter von ihr entfernt stand ihr Zwillingsbruder Matej.
Tereza und Matej gehörten zur ethnischen Gruppe der Roma, deren Lage in Tschechien prekär war. Sie galten als die am stärksten diskriminierte Minderheit in Europa, ihr Leben fand meist in einer Parallelgesellschaft statt.
Auch die Tschechen interessierten sich nicht für das Schicksal der Roma, es gab für sie keinen Grund, sich um die ‚Schwarzen‘ zu kümmern.
Der Welttourismusverbund hatte sich verpflichtet, der Kinderprostitution und dem Sextourismus in Reiseländern künftig intensiver entgegenzutreten. Solche Maßnahmen erschienen auch dringend notwendig, denn die Anzahl der Betroffenen nahm zu.
Ausgebeutet wurden vor allem Mädchen im Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren. Die Altersgrenze verschob sich immer mehr, die Nachfrage nach noch jüngeren Prostituierten stieg weiter an. Einer der Gründe war die Angst der Freier vor AIDS und anderen Geschlechtskrankheiten.
Neben Tereza leuchteten die Bremslichter eines schweren BMW mit deutschem Kennzeichen auf. Als die Seitenscheibe herunterfuhr, beugte sie sich ins Fahrzeug hinein.
*
In einem Vorort von Cheb stand Eliska in ihrem Badezimmer und schminkte sich die großen, dunklen Augen. Sie zog ihre schmalen Lippen zusammen und betrachtete sich im Spiegel, genau so, wie ihre Mutter es immer tat.
»Damit du ganz bezaubernd aussiehst, darfst du meinen Lippenstift benutzen«, hatte sie gesagt, »Und nimm auch etwas Rouge.«
Eliska nahm die Haarbürste ihrer Mutter, damit kämmte sie sich morgens immer ihr langes Haar, bevor sie das Haus verließ.
Langsam, Strich für Strich, fuhr sie damit über ihre Locken, bis das Haar seidig glänzte.
Sie trug ein rotgeblümtes Kleid. Mit weißen Rüschen an den Ärmeln, ihre Mutter hatte es für sie gekauft. Wegen der Kälte war es nicht zu kurz. Sie musterte sich im Spiegel, stellte sich auf die Zehenspitzen. Ihre neuen roten Schuhe saßen ein wenig locker, sie waren etwas zu groß.
War sie hübsch genug? Was würde ihre Mutter sagen?
Eliska stieg von dem Schemel herunter, ohne den sie sonst den Spiegel nicht erreichen konnte. Sie war neun Jahre alt.
Heute sollte sie ihr erstes Mal erleben, hatte die Mutter ihr versprochen. Ihr erster Freier.
Was war das eigentlich, ein Freier?
Eliska hatte Angst.