Читать книгу Carola Pütz - Verlorene Seelen - Michael Wagner J. - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеMit einem melodischen Klingeln wurde Carola aus ihren Träumen geholt. Den morgendlichen Weckruf, der die Kurgäste entweder zum Frühstück oder zu den ersten Anwendungen des Tages rief, empfand sie als zeitlich völlig unpassend. Sie verließ nicht gerne das weiche, mit üppigen Kissen ausgestattete Bett. Wundervoll hatte sie geschlafen. Sie streckte sich wie ein Kätzchen. Zwanzig Minuten später war sie nach einer kurzen erfrischenden Dusche bereits auf dem Weg in den Frühstücksraum. Um sich zu orientieren, ging sie einen anderen Weg als am Abend zuvor. Sie entdeckte dadurch einen schnelleren Weg, dieser führte sie durch einen länglichen, pavillonartigen Gang. Entlang dieses Ganges waren Gartenleuchten im Boden versenkt, die sowohl den Innenraum als auch den Außenbereich beleuchteten. Moderne Schiebegardinen sollten im Sommer die Hitze mildern, da der Gang beinahe vollständig verglast war.
An der Rezeption standen Kurgäste, die sich nach etwas erkundigten. Sie erkannte niemanden. Alle hatten Handtücher dabei und trugen Bademäntel, sie hatten sich dort vor dem Frühstück zum Morgenschwimmen versammelt. Mit einem großen Hallo wurde plötzlich ein Mann begrüßt. Carola würde ihn später auch noch kennenlernen. Es war der Bademeister der Klinik, ein großer, vierschrötiger Mensch, mit Muskeln wie ein Preisboxer ausgestattet. Er führte sein Bad, wie er es gerne nannte, mit militärischer Strenge. Carola sagte später in einem Gespräch einmal, dass sie sich sicher sei, er würde morgens alle Wassermoleküle strammstehen lassen, bevor er dasselbe mit seinen Kurgästen machte. Trotzdem war er sehr beliebt, vor allem bei den weiblichen Gästen.
Die Türe zum Speisesaal stand einladend weit geöffnet. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee zog ihr in die Nase, als sie den Saal betrat. Vorfreude. Einen frischen Kaffee trinken. Carola fühlte sich wie am ersten Tag an einem neuen, unbekannten Urlaubsort. Zeit für Entdeckungen. Sie hängte ihre Strickjacke über die Lehne des Stuhles, auf dem sie bereits beim Abendessen gesessen hatte. Ihr erster Weg führte sie zu den Gefäßen, die den so verführerischen Duft ausströmten. Kaffee. Vorfreude.
Auf dem Weg dorthin wurde sie freundlich von einer jungen Frau gegrüßt. Carola grüßte ebenso freundlich zurück. Sie blickte auf das Buffet, welches wieder einladend an derselben Stelle wie am Vorabend aufgebaut war. Sie hatte die Kaffeetasse bereits in der Hand, als sie von der jungen, freundlichen Frau angesprochen wurde.
»Guten Morgen, Sie sind sicher neu bei uns. Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Lara Kaiser. Ich bin hier die Diätassistentin. Mit wem habe ich die Ehre?« fragte sie und strahlte sie an.
Carola griff nach der Kaffeekanne.
»Guten Morgen, mein Name ist Carola Pütz. Sehr angenehm.«
Der braune Saft floss in die Kaffeetasse.
»Sie haben Ihren Diätplan sicher noch nicht erhalten, oder?«
»Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß, aber noch ahnungslos. Im Tonfall der jungen Frau schwang aber schon eine leise Drohung mit. Sie ignorierte sie noch, bis der folgende Satz an ihr Ohr drang: »Kaffee ist für Sie nicht vorgesehen. So lange, bis der Arzt sie untersucht hat und uns signalisiert, dass es unbedenklich ist.«
Sie legte ihren Kopf schief und machte ein scheinbar bekümmertes Gesicht.
»Oh, Frau Kaiser, wirklich? Ist das so?«, fragte Carola. Die Tasse schwebte in ihrer Hand zwischen Untertasse und Mund. Frau Kaiser nickte und rollte mit ihren Kuhaugen.
»Ach so, ja. Dann haben wir aktuell ein Problem. Ich bin morgens extrem schlecht gelaunt. Das Einzige, was da wirklich hilft, ist eine Tasse starker Kaffee. Denken Sie, dass Sie schlechte Laune verantworten können, junge Frau?«
Lara Kaiser blickte sie ungläubig an. Carola nahm einen Schluck Kaffee. Eine klitzekleine Zornesfalte tauchte zwischen den Kuhaugen auf.
»Frau Pütz, ich muss energisch protestieren. Die Patienten sind angehalten, sich an meine Anweisungen zu halten«, sagte sie. Carola befürchtete, dass sie jeden Moment mit dem Fuß auf den Boden stampfen würde.
»Frau Doktor Pütz, bitte. Ich kenne meinen Körper, junge Frau. Was nicht heißt, dass ich Ihre Bemühungen nicht zu schätzen weiß«, antwortete Carola Pütz.
»Sie müssen es ja wissen. Schließlich sind Sie hier als Patientin und ich als Ihre Unterstützung. Ich werde es so weitergeben. Noch einen schönen Tag«, sagte sie.
Die Falte zwischen den Augen schien noch gewachsen zu sein. Sie drehte sich um, blieb abrupt stehen und reichte Carola ein Papier. »Hier ist Ihr vorläufiger Diätplan, Doktor Pütz.«
Sie rauschte davon.
Carola nahm einen weiteren Schluck aus der Tasse, der Kaffee war köstlich.
»Jetzt haben Sie der Kleinen aber einen verpasst«, hauchte ihr jemand von der Seite ins Ohr. Sie drehte sich um. Neben ihr stand ein freundlich aussehender Mittsechziger. Er lächelte sie an. »Ach, ich vergesse ganz meine Manieren. Mein Name ist Theo Bartolomay, guten Morgen«, sagte er und machte eine tiefe Verbeugung.
»Sehr erfreut, Carola Pütz«, sagte sie, und reichte ihm die Hand. »die ist neu hier, und jetzt haben Sie ihr den Tag versaut.« Er griff nach einer Tasse und bediente sich.
»Das tut mir leid. Aber wie kann ich jemandem etwas verbieten, wenn ich seine Krankengeschichte gar nicht kenne?«, fragte sie.
»Kamillentee«, sagte er mit einer Betonung, als hätte er ihr ein Staatsgeheimnis verraten.
»Kamillentee?«
»Ja, Lara Kaiser steht auf Kamillentee. Alle Neulinge bekommen ihn.«
»Das klingt ja alles sehr engagiert und fürsorglich, aber einen Diätplan erstellt man besser erst nach erfolgter Untersuchung, oder?«, fragte sie den Mann, der gerade seinen Teller mit Brötchen volllud.
»Fürsorglich. Ja so ist sie, die Kleine. Woher kommen Sie denn, Frau Doktor?«, fragte er. Ihre Frage beantwortete er nicht. Verschmitzt legte er unglaubliche Mengen von Wurst und Käse auf einen weiteren Teller.
»Ich komme aus Frankfurt«, antwortete sie, nicht ganz bei der Sache. Ihr Blick wanderte über die Auslagen. Das Angebot war reichlich. Da fiel ihr der Zettel ein, den sie noch immer in der Hand hielt. Sie überflog den Inhalt.
Für ihr Frühstück waren Müesli und Knäckebrot mit Frischkäse vorgesehen. Sie hasste Knäckebrot. Müesli ging so gerade noch, aber zu ihren Präferenzen, was das Frühstück betraf, gehörte es sicher nicht. Carola frühstückte gerne deftig. Käse, Wurst, dunkel gebackenes Brot, mit Vollkorn am liebsten. Das alles lud sich gerade Theo Bartolomay auf seinen Teller. Sie tat es ihm gleich, ging mit zwei Tellern voller Leckereien zu ihrem Stuhl zurück. Geschickt balancierte sie dazu noch eine frische Tasse Kaffee.
Der Speisesaal hatte sich immer noch nicht weiter gefüllt. Sie blieb also an ihrem Tisch alleine. Genüsslich biss sie in ihr mit Käse und Wurst belegtes Brötchen. Ihr Blick strich ruhig durch den Raum, als sie aus der hinteren Ecke Unheil anrollen sah, in Gestalt von Lara Kaiser sowie einer ganz in weiß gekleideten untersetzten Dame mit dem Charme einer Catcherin. Carola bildete sich ein, sie könnten nicht ihretwegen unterwegs sein. Sie steuerten auf ihren Tisch zu und bauten sich bedrohlich vor ihrem Tisch auf.
Lara Kaiser atmete einmal tief durch. »Frau Doktor Pütz, ich muss protestieren. Ihr Verhalten ist kontraproduktiv«, stieß sie hervor.
»Frau Kaiser, Sie wieder. Im Vergleich zu was ist mein Verhalten kontraproduktiv?«
Sie schaute verwirrt. »Seien Sie nicht spitzfindig, Frau Doktor. Sie haben meinen Diätplan erhalten und Sie kümmern sich nicht darum. Was denken Sie, warum ich Ihnen den Plan aushändige?«, fragte Lara Kaiser.
»Frau Kaiser«, antwortete Carola weiter kauend, »ganz ehrlich, die Frage habe ich mir auch gestellt. Und wie Sie sehen, habe ich sie für mich bereits beantwortet. Solange es für mich keinen personalisierten Diätplan gibt, sehe ich keinen Sinn darin, einen generalisierten Plan zu akzeptieren.«
Frau Kaiser rollte wieder mit ihren Kuhaugen, Carola schaute sie fest an.
»Diese, wie Sie es nennen, generalisierten Pläne sind von unseren Ärzten vorgegeben. Sie basieren auf der Grundlage amerikanischer Studien«, antwortete sie.
»Hmh, ich wusste gar nicht, dass wir hier in Wellville sind. Lassen Sie mich mal überlegen. Kommt gleich Dr. Kellogg um die Ecke, und bringt mir ein Schälchen Corn Flakes vorbei?«, antwortete Carola mit einer Anspielung auf ein Buch von T.C. Boyle.
»Was?«, fragte Lara Kaiser.
»Ach, das hätte ich wissen sollen. Als das Buch auf den Markt kam, waren Sie noch nicht geboren. Bitte lassen Sie mich frühstücken. Nach meiner Vorstellung bei den Klinikärzten bin ich gerne bereit, einen Diätplan zu akzeptieren. Wissen Sie, falls Sie mir erklären, warum ich heute unbedingt diäten soll, wo ich gestern Abend noch schlemmen durfte, höre ich Ihnen noch eine Weile zu. Das macht keinen Sinn, oder?«
»Gestern Abend war ich nicht hier.«
»Was dann bedeutet, ich habe mich nur an Ihren Diätplan zu halten, wenn Sie anwesend sind?«, fragte sie die langsam zappelig werdende Diätassistentin.
Die beiden Frauen guckten sich betreten an.
»Ich werde Ihr Verhalten an oberster Stelle melden«, sagte Lara Kaiser. Ihre Freundin, die kleine Zornesfalte, erschien zwischen den Äugelchen.
»Ich freue mich darauf«, antwortete Carola frostig.
Sie beschloss spontan, die beiden Frauen zu ignorieren. Die Catcherin stieß ein pfeifendes Geräusch aus, als wolle sie irgendeine Art von Überdruck loswerden. Ein munteres Brabbeln begleitete die beiden Frauen, als sie verschwanden und verwandelte sich in ein zischendes Tuscheln, je weiter sie sich vom Tisch entfernten.
Carola überlegte kurz, warum wohl die Catcherin mit an ihren Tisch gekommen war. Doch der Gedanke hielt sich nicht lange. Mit beschleunigtem Herzschlag kam auch die alte Gewohnheit wieder. Schleichend. Altbekannt. Solche Situationen taten ihr nicht gut. Sie zählte die Lampen an der Decke, die Tische, die Fenster, die Vorhänge, die Tische, auf denen das Essen stand, und die Gäste, die sich nun zahlreicher im Raum verteilten.
Du bist noch lange nicht über den Berg, dachte sie. Sollte sie die Mediziner über ihren Zählzwang informieren? Sie sollte es tun. Mit einem unguten Gefühl in ihrem hämmernden Herz kehrte Carola in ihr Zimmer zurück. Um neun Uhr hatte sie ihren ersten Termin bei Prof. Dr. Ralf Wielpütz, dem Leiter der Klinik. Bis kurz vor dem Termin lag sie auf dem weichen Teppich in ihrem Badezimmer. Die Türe geschlossen, das Licht gelöscht. Dunkelheit. Frieden.
*
»Dreihunderttausend. So viele Menschen sterben jährlich allein in den alten Bundesländern an einem Herzinfarkt.« Prof. Dr. Wielpütz ließ die Zahl im Raum schweben. »Das sind achthundertdreiundzwanzig pro Tag«, ergänzte er.
»So viel Glück wie Sie haben nicht viele, Frau Kollegin«, sagte er mit seiner Katzenstimme.
Ungewohnt. Carola konnte sich nicht daran gewöhnen, dass man ihr als Ärztin Ratschläge gab.
»Ja, das habe ich wohl gehabt«, antwortete sie kleinlaut.
Prof. Wielpütz schaute über den Rand seiner Brille.
»Ich weiß aus meiner langjährigen Praxis, dass gerade die Kollegen sich damit sehr schwertun, solche Dinge zu akzeptieren«, sagte er.
Sie schwieg. Er hatte sicherlich recht.
»Wissen Sie, ich kann das ja auch alles nachvollziehen. Man steht mitten im Job, ist erfolgreich und dann kommt so ein blödes Herz daher und macht einem einen Strich durch die Rechnung. Das kann man nicht akzeptieren. Und deshalb ist die Rückfallquote bei Medizinern auch so hoch.«
Er legte seinen Aktenordner vor sich auf den Tisch und ergänzte: »Die Letalitätsrate ebenfalls.«
»Was soll ich sagen«, begann Pütz, »ich liebe meinen Beruf und die Aussicht, nie mehr als Forensikerin arbeiten zu können, macht mir Angst. Ich denke, dass Sie darüber Bescheid wissen, Herr Professor.«
»Ja, ich kenne Ihre Akte. Ich kenne Ihren Ruf als Forensikerin, und ich kann Ihre Ängste außerordentlich gut nachvollziehen. Solch ein Beruf ist mit keiner anderen Tätigkeit zu vergleichen. Darin liegt aber auch die Gefahr begründet, wissen Sie?«
Carola hob den Kopf, sie hatte einen Entschluss gefasst.
»Ja, Professor, ich weiß es. Ich muss Ihnen noch etwas mitteilen, was sicher nicht in Ihrem Bericht steht.«
Er hob die Augenbrauen.
»Ich leide seit einem Jahr unter Arithmomanie. Ich bin deswegen auch in psychotherapeutischer Behandlung. Der Herzinfarkt steht meiner Meinung nach in einem kausalen Verhältnis zu dem letzten großen Schub, den ich erlitten habe.«
»Das hätten Sie den Kollegen in Bonn mitteilen müssen. Sie haben ein Jahr lang weiter gearbeitet? Mit einer solchen Bedrohung im Rücken?«, fragte er. Die Betroffenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ja, ich habe es geheim gehalten.«
»Was bei so einer Haltung herauskommen kann, haben Sie ja nun erlebt«, sagte er.
»Ja, sicher. Das war ein Fehler.«
»Sei‘s drum«, sagte er, »Wer Fehler in der Lebensführung ändern will, muss sie erst erkennen. Ich denke, das haben Sie getan, Frau Kollegin.«
»Ja, ich denke, das habe ich. Deshalb bin ich ja nun auch hier«, sagte sie und es wurde ihr bewusst, dass sie die letzten drei Sätze mit einer Bejahung begonnen hatte. Eine Seltenheit bei ihr.
Prof. Wielpütz stand auf und trat ans Fenster.
»Wir haben hier in Bad Elster eine Klinik, die sich auf die neuesten Erkenntnisse der internationalen Therapien bei Herzinfarkten beruft. Früher war es so, dass man den Patienten gesagt hat, was sie zu tun und zu lassen haben. Der Mensch ist aber heutzutage aufgeklärter. Er schaut Fernsehen, informiert sich im Internet. Deshalb ist das so wie früher nicht mehr machbar. Ich bin auch kein Mann, der sich auf seinen weißen Kittel beruft.« Den letzten Satz nuschelte er und machte eine zappelige Bewegung mit der rechten Hand.
Er machte eine Pause und schenkte sich ein Glas Wasser aus einer Karaffe ein. Er trank einen Schluck, bot ihr ebenfalls ein Glas Wasser an, sie nahm es dankbar.
»Das Leben danach bedarf des Beistandes. Der Umgang mit der Erkrankung will gelernt sein. Wer Fehler in der Lebensführung vermeiden will, muss diese erst erkennen. Partnerschaftliche Therapie und Hilfe auf dem Weg zur Eigenverantwortung sind deshalb Leitgedanken einer Rehabilitationsmaßnahme. Nicht anordnen, überzeugen ist angesagt, im Rahmen einer Kur. Diäten verlieren dann auch schnell ihren Schrecken«, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen.
Lara Kaiser hatte gepetzt. Das erkannte Carola an diesem Lächeln. Doch schien ihn das nicht wirklich zu stören.
Sie antwortete mit einem vielsagenden Schmunzeln.
»Frau Doktor, ich brauche bei Ihnen sicher nicht bei A anfangen. Sie sind Medizinerin, selbst wenn Ihre Tätigkeit ganz woanders ansetzt. Wir arbeiten nach einem Vierpunkte-Plan. Lassen Sie mich Ihnen erklären, was wir in den nächsten Wochen mit Ihnen vorhaben. Ich zähle dabei auf ihre vollständige Kooperation.«
In den nächsten Minuten erläuterte ihr Professor Wielpütz die Inhalte des Plans.
»Es gibt vier grundlegende Elemente der kardiologischen Rehabilitation«, begann Wielpütz seinen Vortrag.
»Der somatische Bereich umfasst das körperliche Training, die medikamentöse Therapie und die medizinische Überwachung der Patienten.«
Er machte eine kurze Pause, als erwartete er eine Frage von Dr. Pütz.
Die blieb jedoch aus.
»Der edukative Bereich beinhaltet Informationen zu einer nachhaltigen Lebensstiländerung. Durch Gruppenvorträge, krankheitsspezifische Schulungen und Einzelgespräche erhält der Patient alle Informationen, die er benötigt. Bei Ernährungsschulungen ist es sinnvoll, nahe Angehörige zu integrieren«, sagte er, »hier haben Sie aber jetzt sicher eine Frage, Frau Doktor, oder?«
Sie nickte. »Sie spielen auf die Lebensstiländerung an, wenn ich das richtig vermute? Sie wissen, dass man mir nahelegt, meinen Beruf ruhen zulassen?«
»Ja, das geht aus dem Bericht hervor«, antwortete der Professor, »die soziale und arbeitsmedizinische Beratung, die wir anbieten, betrifft die berufliche und soziale Wiedereingliederung des Patienten. Frau Kollegin, warten wir doch bitte erst einmal die Kur ab. Danach sehen wir weiter.«
»Herr Professor, man hat mir in Bonn ziemlich eindeutig erklärt, dass ich aus ärztlicher Sicht meinen Beruf nicht weiter ausüben sollte. Könnte sich das denn ändern?«, fragte sie.
»Ich kann keine Aussagen machen, solange ich noch keine Untersuchungen durchgeführt habe. Wenn ich es richtig sehe, dann hat man Ihnen keinen Stent gesetzt. Das ist doch so, oder?«, fragte er und griff nach der Akte.
»Nein, es ist keiner gesetzt worden. Man hielt meine Venen für flexibel genug. Das ist doch sicher ein gutes Zeichen?«
Er legte die Akte zurück auf den Tisch.
»Sehen Sie, das ist schon einmal eine erfreuliche Basis. Lassen Sie mich meine Ausführungen eben beenden, dann können wir zu Ihrem medizinischen Check übergehen.
Also, wir haben noch den psychologischen Bereich. Der psychologische Bereich ist gerade bei Postinfarktpatienten besonders wichtig, da depressive Verstimmungen und Störungen der Krankheitsbewältigung häufig auftreten.
Unsere Psychologen unterstützen Ihre Genesung mit Schulungsprogrammen, sie führen Einzelgespräche und leiten Entspannungs- und Stressbewältigungsgruppen«, sagte der Professor.
»Würde für mich auch eine Einzeltherapie in Frage kommen? Ich meine, ich könnte eine zweite Meinung einholen, bezüglich der Arithmomanie.«
Er überlegte eine Weile. »Ja, sicher, warum nicht. Sprechen Sie den Kollegen einfach darauf an. Das spielt ja mit in die Therapie hinein. Haben Sie denn im Moment Probleme?«
Carola überlegte, ob sie etwas sagen sollte. »Die letzten Tage nicht, aktuell heute Morgen schon. Nachdem mich die Diätassistentin mit ihrem Diätplan so beharkt hat. Ich würde Sie bitten, ihr da einen Riegel vorzuschieben.«
Der Professor lächelte nur. »Sie ist eine engagierte, junge Frau. Sehen Sie es ihr nach.« In seine Augen trat wieder dieser gütige Blick. Darauf konnte Carola nichts mehr erwidern.
»Frau Doktor, liebe Frau Kollegin«, sagte er abschließend, »ich darf Sie bitten, dass Sie sich bei der Anmeldung einfinden. Dort wird man Ihnen erklären, welche Untersuchungen heute noch für Sie geplant sind. Ich hoffe, es wird alles positiv für Sie ausgehen. Das hoffe ich sehr.«
Sein Händedruck war fest.
An der Anmeldung hatte sie keinen langen Aufenthalt, man schickte sie direkt zur Messung der Herz-Kreislauf-Werte. Es ging ihr besser, sie spürte keinen Zwang mehr. Das Gespräch mit Professor Wielpütz hatte sie beruhigt. Seine besonnene, angenehme Art tat gut. Ihr Mut war nicht weiter gesunken. Das hatte sie nach dem ersten Gespräch beinahe erwartet.
Jetzt saß sie auf der Liege und wartete. Auch die normalen Untersuchungsräume wurden von Jugendstilelementen geprägt. Die untere Hälfte der Wände erstrahlte in einem Mittelblau. Über einer filigranen Abschlussleiste aus Holz schloss sich eine Borte mit einem verschlungenen floralen Muster an. Darüber war die Wand hell verputzt. Auf Messingschienen hingen kurze, helle Gardinen, ebenso hingen weiße Handtücher sauber aufgehängt auf kleineren Schienen, ebenfalls aus Messing. Alles mutete eher wie in den Wohnräumen an. Nur die medizinischen Geräte brachten Nüchternheit in den Raum.
Zu ihrer großen Verwunderung trat pfeilgerade die Catcherin ins Zimmer. Beide Frauen sahen sich wortlos an.
»Legen Sie sich bitte auf die Liege und machen Sie den Oberkörper frei«, ordnete die Krankenschwester an. Ihre Stimme klang ebenso maskulin, wie es ihr Aussehen vermuten ließ. Dr. Pütz war es unangenehm, dass sie ausgerechnet von dieser Dame berührt wurde.
Trotzdem zog sie die Bluse aus, legte sich artig auf die Liege und öffnete ihren BH.
Die Catcherin desinfizierte, ohne eine Miene zu verziehen, die Stellen, an denen die Elektroden angebracht werden sollten. Direkt darauf trug sie ein elektrisch leitfähiges Gel auf. Dann brachte sie insgesamt sechs Elektroden auf dem Oberkörper an, diese verband sie mit dem EKG-Gerät und die Aufzeichnung der Herzaktivität begann.
Nicht ganz fünf Minuten lag Carola Pütz auf der Liege. Die Catcherin nestelte etwas in einer Ecke. Pütz konnte sie nicht sehen, nur hören. Nach der Untersuchung entfernte sie die Elektroden und rollte den Ausdruck zusammen. Sie nahm ein Handtuch von einer der Messingstangen und reichte es ihr.
Ebenso wortlos, wie sie ins Zimmer gekommen war, verschwand sie wieder.
Pütz hievte sich zurück in eine aufrechte Position. Dabei fiel ihr das Haar ins Gesicht.
Was war das für ein Auftritt?
Sie strich sich die Strähne aus dem Gesicht, schnappte sich den Büstenhalter und zog sich danach ihre Bluse an.
Zurück an der Anmeldung, schickte man sie erneut auf ihr Zimmer. Sie sollte sich in ihren Sportdress werfen, um sich danach im Sportraum einzufinden. Dort sollte ein Belastungs-EKG durchgeführt werden.
Eine halbe Stunde später stand sie vor einem Laufband. Neben ihr stand eine fröhliche junge Frau, dünn wie ein Haken. Mit einer ansteckenden Fröhlichkeit erklärte sie ihr gerade, wie schnell sie laufen sollte, ihr blonder Pferdeschwanz wippte dabei.
»Laufen Sie nur so schnell, dass Sie nicht mit schnaufen anfangen«, sagte sie. Wieder wurden die Elektroden befestigt, nur waren es diesmal nicht so viele wie bei dem EKG zuvor.
Carola nickte. Lang war es her, dass sie das letzte Mal joggen war.
»Ich bin eh nicht in Form«, sagte sie.
»Nur ruhig, Sie haben einen Infarkt hinter sich. Es ist keinem geholfen, wenn Sie hier auf dem Band zusammenklappen, nur weil Sie sich etwas beweisen wollen.«
»Ja, sicher.«
»Wenn etwas sein sollte, ich bin immer in der Nähe. Rufen Sie nach mir, bloß keine falsche Scham«, sagte sie noch und Carola lief los. Die Trainerin widmete sich mit der gleichen Freundlichkeit der nächsten Patientin.
Das Laufband stand vor einem Fenster. Das erlaubte ihr, einen Blick in den angrenzenden Park zu werfen. Zweiflügelig und mit einem großen Oberlicht passte das Fenster hervorragend zum Stil des Raumes. Der Boden war mit Parkett ausgelegt. Rechts und links neben ihr stand jeweils ein Ergometer-Fahrrad, darunter lagen dicke Schaumstoffmatten. Sie sollten Geräusche dämmen, die von den Geräten ausgingen und sicher auch den Fußboden schonen. Der Ausblick in den Garten wurde nicht durch Gardinen behindert.
Das Wetter an diesem Tag war prächtig. Blauer Himmel wurde von stattlichen weißen Kumulus-Wolken abgelöst. Kein Regen.
*
Nachdem sie alle Untersuchungen an diesem Morgen hinter sich gebracht hatte, ließ sie sich erschöpft auf das Bett fallen. Vorhin hatte sie die Ergebnisse von einem netten Arzt übermittelt bekommen. Dr. Torben Frerichs war der Assistent von Prof. Dr. Wielpütz. Er würde den Platz des leitenden Klinikarztes einzunehmen, sobald Dr. Wielpütz in Rente gehen würde.
Der Arzt hielt die Aufzeichnung des EKG in den Händen.
»Durch das Elektrokardiogramm erhalten wir Auskunft über den Herzrhythmus und die Herzfrequenz. Störungen in der Erregungsbildung, deren Ausbreitung und Rückbildung im Erregungsleitungssystem werden dadurch angezeigt. Ebenso zeigen sich Störungen in der Arbeit der Herzmuskulatur.«
Er sprach, als würde er sich mit einem Kardiologen unterhalten. Carola nickte, mehr nicht. Dr. Frerichs fühlte sich verstanden und dadurch angestachelt.
»Durch Kurvenveränderungen im Elektro-Kardiogramm lassen sich Erkrankungen wie ein Herzinfarkt erkennen. Dabei werden Herzmuskelzellen zerstört. In diesem Bereich findet keine Erregung mehr statt, was zu typischen Signalen im EKG führt. Darauf müssen wir bei Ihnen das Augenmerk legen.«
Carola nickte erneut, sie hätte jetzt ausholen können und ihm einen Vortrag über Forensik halten. Aber er machte ja nur seinen Job.
»Ja«, sagte sie nur.
»Bei Ihnen ist eine leichte Verzögerung in der Vorhoferregung zu verzeichnen. Daran erkennt man, dass Sie einen Infarkt hatten.«
»Aha, das kann man jetzt noch erkennen?«, fragte sie.
»Ja, ich kann Ihnen das auch anhand der Ausschläge beim EKG demonstrieren«, sagte er und wollte schon ansetzen, ihr die mangelnde Vorhoferregung zu belegen.
»Nein, Herr Doktor, nicht nötig. Ich hätte nur gerne gewusst, ob sich das wieder ausschleicht.«
Der Assistenzarzt stutzte. An seinem Blick konnte man erkennen, dass er solche Fragen nicht gewöhnt war.
»Ausschleicht? Wie meinen Sie das?« Er stützte seinen rechten Arm in seiner linken Hand ab und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen.
»Tut mir leid, wenn ich mich nicht verständlich ausdrücken kann. Was ich meine, wird meine Vorhoferregung irgendwann wieder normal sein, und ich somit gesund?«
Dr. Frerichs traute seinen Ohren nicht. »Sie sind hier, weil Sie einen Herzinfarkt erlitten haben. Danach ist nichts mehr so wie früher. Ob Sie wieder gesund werden? Das kann Ihnen kein Arzt garantieren, Frau Doktor. Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, es hängt ja auch von Ihrer Mitarbeit ab.«
Das hatte Carola ein paar Stunden vorher schon einmal gehört. Sie erkannte, dass sie hier und heute nicht weiterkommen würde. Nachdem sie das Sprechzimmer verlassen hatte, wurde sie von der Frau an der Anmeldung noch zur Blutuntersuchung verdonnert.
»Das ist aber die letzte Quälerei für heute Morgen, Frau Doktor«, sagte sie. Carola ließ sich bereitwillig fünf Kanülen Blut aus dem Arm ziehen.
Für den Nachmittag sei sie für den Sport angemeldet, wurde ihr noch mit auf den Weg gegeben. Um zwei Uhr würde die Therapie beginnen. Sie solle pünktlich sein und ein Handtuch mitbringen.
So etwas nennt man Kur?
Was machen die denn noch alles mit mir, fragte sie sich, als sie in ihrem Zimmer auf dem Bett lag.
Zuhause bei der Arbeit hatte ich weniger Stress.
*
Auf ihrem Weg zum Sport begegnete ihr Frau Schmitt-Wienand. Beide waren in Eile, sie verabredeten sich für den Abend um achtzehn Uhr zum Abendessen.
Carola folgte den Schildern. Sie wiesen ihr den Weg zu den Sporthallen, es gab mehrere. Einige für kleine Gruppen sowie eine Halle für Veranstaltungen, die viel Raum benötigten. Man hatte sie angewiesen, in Halle zwei zu kommen. Als sie dort eintraf, warteten bereits mehrere Teilnehmer auf den Kursleiter. Wie auch in dem Raum mit den Laufbändern und Ergometern, lag auch hier Parkettboden. An einer Wand des quadratischen Raumes spannte sich ein Spiegel vom Boden bis zur Decke. An der Wand gegenüber fand Carola die gleichen Fenster eingebaut wie in dem Sportraum, den sie bereits kannte. In einer Ecke lagen sechs gelbe Gymnastikbälle. Im Spiegelbild verdoppelte sich ihre Anzahl. Mit relativer Ruhe nahm sie das alles zur Kenntnis.
Carola machte sich mit den Anwesenden bekannt. Die nächste halbe Stunde verbrachte sie damit, auf einem der gelben Bälle Übungen zu fabrizieren, die man sich für Herzpatienten wie sie ausgedacht hatte.
Unter der strengen Aufsicht eines Übungsleiters saß sie auf dem Plastikding und hob und senkte ihre Gliedmaßen im Rhythmus, den der Übungsleiter vorgab.
Dabei hatte sie keineswegs Angst um ihre eigene Verfassung, sondern mehr wegen der Gymnastikbälle. Auf denen vollführten zwei ihrer fettleibigen Mitstreiter ihre taumelnden Übungen.
Ohne auch nur einen Tropfen Schweiß vergossen zu haben, beendete sie die halbe Stunde in dem Bewusstsein, dass es einigen Menschen noch viel schlechter ging als ihr.
Der Übungsleiter hatte noch einen Ausdruck für sie, darauf waren die medizinischen Anwendungen für die nächsten drei Tage vermerkt. Sie bedankte sich.
Eine Viertelstunde später stand Carola vor der großen Holztür der Klinik. Es war halb fünf und bereits dämmerig. Bisher hatte sie noch keinen Eindruck von Bad Elster gewinnen können, das wollte sie vor dem Abendessen noch ändern. Als sie losging, empfing sie ein eiskalter Wind.
*
Die Innenstadt von Bad Elster, wenn man von einer Innenstadt sprechen konnte, war schnell durchwandert. Viele prächtige Bauten gab es hier zu bewundern. Dr. Pütz wollte in der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, möglichst viel sehen, deshalb rannte sie beinahe durch die Straßen. Nach einer Weile fror sie auch nicht mehr. Ihre zuerst kalten Hände waren nun warm und schon längst nicht mehr in den Taschen des Mantels vergraben. Wie von einem Magnet angezogen, blieb sie vor einem Plakat stehen. Sie befand sich vor dem alten, hochehrwürdigen König-Albert-Theater. Dort wurde in einem Schaukasten eine Musikveranstaltung angekündigt. Für den zweiten Dezember, den ersten Advent in diesem Jahr, war ein Adventskonzert geplant. Das alleine sorgte noch nicht für die Verzückung bei ihr. Es war der Komponist, und vor allem das Musikstück, das gespielt werden würde, das bei ihr für feuchte Hände sorgte. Antonin Dvorák war der Komponist und es wurde seine 9. Symphonie gespielt, ‚Aus der neuen Welt‘.
Für einen Moment wollte sie sich nicht bewegen. Sie liebte Dvorák, sie liebte seine ‚Slawischen Tänze‘, und sie liebte seine 9. Symphonie. So seltsam war es sicher nicht, dass man hier nahe der tschechischen Grenze einen tschechischen Komponisten spielte. Doch war sie darüber völlig überrascht. Sie beugte sich nach vorne, da sie nicht lesen konnte, welches Orchester musizierte.
Schließlich entzifferte sie es, doch ihr sagte der Name des Orchesters nichts. Es handelte sich um ein Ensemble aus Tschechien. Sie überlegte, wie lange es her war, dass sie das letzte Mal Dvorák gehört hatte.
Noch zusammen mit ihrem Ex-Ehemann, das war sicher schon fünf Jahre her. Ihr Kopf fühlte sich völlig leicht an, so sehr befand sie sich in Vorfreude gefangen. Als sie in der Klinik ankam, fragte sie sofort nach, wo man sich die Karten für das Konzert sichern konnte.
Edith Kramke konnte sie beruhigen, indem sie ihr eine Liste vorlegte. Dort konnte sie sich eintragen, die Karten wurden vorbestellt und konnten an der Abendkasse abgeholt werden. Mit einem beschwingten Gefühl kam sie pünktlich um achtzehn Uhr im Speisesaal an. Ein seliges Lächeln war auf ihrem Gesicht, als sie Frau Schmitt-Wienand mitteilte, was sie soeben erfahren hatte. Zu ihrer Verwunderung konnte Frau Schmitt-Wienand ihre Begeisterung für Dvorák nicht teilen.
»Ich bin ein absoluter Wagner-Fan«, sagte sie, »Bayreuth, das ist für mich der Gipfel der Musikalität.«
Mit einer schnellen Bewegung ließ sie einen Stapel Wurst auf ihren Teller gleiten.
Wagner.
Wenn es einen deutschen Komponisten gab, den Carola zutiefst verachtete, dann war es Wagner. In ihrem Kopf verknüpften sich sofort im Stechschritt marschierende Soldaten mit infernalischem Kriegsgetümmel. Und sie sah Menschenmassen, betäubt von blindem Gehorsam. Im Berliner Olympiastadion sah sie Menschen einem kleinen Männlein aus Österreich zujubeln. Des deutschen Größenwahns musikalische Analogie. Das bedeutete Wagner für sie.
Doch das konnte sie ihr so nicht sagen.
»Wagner? Nun, da liegt unser Musikgeschmack ein wenig auseinander«, sagte sie mit einem Ton, dem man im Grunde genommen seinen schaudernden Unterton anhören musste. Frau Schmitt-Wienand war allerdings so mit dem befüllen ihres Tellers beschäftigt, dass sie den nicht bemerkte.
»Wie war denn Ihr erster Tag, Frau Dr. Pütz?«, fragte sie, nachdem sich die beiden Frauen an ihren angestammten Platz gesetzt hatten.
»Wie war mein erster Tag? Stressig war er. Auf der Arbeit habe ich nicht so viele Termine«, antwortete sie.
»Das legt sich mit der Zeit. Werden Sie noch sehen, meine Liebe.«
Frau Schmitt-Wienand schien nicht bei der Sache. Auf dem Bauernbrot stapelte sie grünen Salat, Käse, mehrere Scheiben Salami und krönte das Ganze mit einer Spreewaldgurke. Der erste Bissen landete trotzdem gekonnt in ihrem Mund.
Carola hatte sich für eine warme Variante des Abendessens entschieden. Auf einer noch dampfenden Folienkartoffel lag eine gehörige Portion Quark mit Kräutern. Daneben lagen zwei Scheiben frischgebackenes und köstlich duftendes Brot.
In diesem Moment gesellte sich Krawuttke an ihren Tisch.
»N‘ Abend, die Damen. Wie geht es Ihnen?«
Eine nur gemurmelte Antwort von Frau Schmitt-Wienand. Carola antwortete artig, dass es ihr gut gehe. Von der Bühne drang plötzlich Musik herüber. Instrumente wurden gestimmt. Schlagartig wurde das Stimmengewirr im Saal leiser.
»Oh, wie schön«, frohlockte Carola, »wir bekommen Tischmusik geboten.«
»Hoffentlich ist es nicht wieder Schubert, sie spielen hier immer nur Schubert. Auf die Dauer ist das langweilig.«
Auf der Bühne hatte sich das Quartett sortiert. Schwarz gekleidet, mit Fliege und weißen Hemden, saßen die Vier auf ihren Stühlen. Die Musiker suchten noch kurz Augenkontakt untereinander und begannen zu spielen.
Carola überhörte den unpassenden Kommentar von Frau Schmidt-Wienand. Schubert schien ihr passender als Wagner. Warum sollte auch hier jemand Opernarien singen?
Flöte, Gitarre, Bratsche und Violoncello: Sie spielten etwas Beschwingtes von Schubert.
Ihre Tischgenossin rollte gelangweilt mit den Augen.
»Wie haben Sie denn geschlafen?«, fragte Krawuttke, der sich mit einem bescheiden gefüllten Teller neben sie an den Tisch setzte.
»Oh, danke der Nachfrage, sehr gut. Das Bett ist vorzüglich«, antwortete Carola.
»Es sind andere Musiker als sonst«, sagte Krawuttke mit einem Blick auf die Bühne.
»Aber schon wieder Schubert!«
»Sie sind auch mit nichts zufrieden, meine Liebe. Solange se nich‘ singen, sondern nur Kammermusik spielen, ist dat doch völlig in Ordnung«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.
Carola war schuld daran, dass der Abend trotzdem noch in eine positive Richtung driftete. Sie hatte es geschafft, die Tischgenossen in ein Gespräch abseits der Musik zu ziehen. In diesem Gespräch erfuhr sie, dass Frau Schmitt-Wienand verwitwet war. Der Verursacher des Doppelnamens, Herr Wienand, hatte schon das Zeitliche gesegnet.
Sie war von Beruf Lehrerin. Genauer gesagt, Musiklehrerin an einem Gymnasium. Und stolz darauf, die Letzte an ihrer Schule gewesen zu sein, die eine Klasse durch die Oberstufe geführt hatte. Die Aufklärung, welches Lehrfach sie unterrichtet hatte, rang Pütz ein kleines Schmunzeln ab.
Daher kam also ihre Vorliebe für Wagner.
Seit dem Sommer war sie in Pension. Sie weilte in der Klinik, um ihren aus den Fugen geratenen Stoffwechsel neu einzunorden.
Herr Krawuttke stellte sich als Klempnermeister aus dem Ruhrpott vor. Genau wie Carola hatte er einen Herzinfarkt erlitten, den er zu einhundert Prozent seinem Chef zuschrieb, der ihn von einer Baustelle zur nächsten gehetzt hatte. So lange, bis sein Herz einfach in den Streik trat. Er war froh darüber, dass er jetzt kräftig ausspannen konnte, so drückte er sich aus.
Danach stünde die Entscheidung an, ob er jemals wieder arbeiten gehen würde. Das gab ihm gefühlt die Oberhand über seinen ungeliebten Chef.
Der Abend flog dahin. Sie bekamen noch nicht einmal mit, dass die Musiker das Spielen einstellten. Erst als die Reinigungskräfte die Tische zu säubern begannen, stellten sie das erstaunt fest und verabschiedeten sich.
Carola überraschte das, denn sie war sonst die personifizierte Aufmerksamkeit, allein schon wegen ihrer Zählmacke. Nach einer ausgiebigen Dusche versank sie schlaftrunken in ihren Kissen und wurde erst wieder unsanft durch das Klingeln des Weckers aus dem Schlaf gerissen.
Auf dem Programm stand Morgenschwimmen.
*
Der Kalender vermerkte den ersten Dezember. Außer dem morgendlichen Schwimmen würde am heutigen Tag nicht viel passieren. Es war Samstag und ihr zweiter Tag in der Klinik. Die Vorfreude auf das Konzert am Sonntagabend ließ sie die Zeit vergessen, die sie bis dahin nahezu untätig hinter sich bringen musste.
Sie suchte sich ihren züchtigen Badeanzug aus. Beinahe hätte sie den mit dem tieferen Ausschnitt gewählt, den Gedanken aber doch verworfen, weil sie nicht in den Ruf kommen wollte, den Bademeister gleich am ersten Tag bezirzen zu wollen. Über den unifarbenen Badeanzug, der so gut zu ihrer Augenfarbe passte – sie musste zugeben, dass das mit ein Grund für den Kauf war – zog sie sich den Bademantel, den sie in ihrem Badezimmer vorgefunden hatte. Auf der linken Seite prangte das Logo der Klinik. Mit einem weißen Badehandtuch über der Schulter machte sie sich auf den Weg zum Hallenbad.
Es waren achtzehn Frauen und drei Männer, die an diesem Morgen im Wasser des Hallenbades strampelten. Der Bademeister mit den Preisboxermuskeln stand am Beckenrand und kommandierte. Er hieß Konstantin Ferner. Das Becken war so in Aufruhr, als würde ein Schwarm Piranhas ein Opfer fressen.
Jeder hatte eine flexible Schaumstoffstange vor sich und strampelte mit den Beinen. Die von Carola war orange, sie hing darin wie auf einer Kleiderstange. Konstantin Ferner hatte die einundzwanzig Gesichter vor sich.
Aufmerksam.
Die Frauen versuchten sogar noch im Wasser mit ihm zu flirten. Die Männer machten da natürlich nicht mit. Sie absolvierten ihre Übungen ohne Spaß, ebenso ohne Hintergedanken. Auch Carola Pütz hatte keine. Sie trieb jetzt auf dem Rücken, ohne solch ein verklärtes Grinsen wie ihre beiden Nachbarinnen. Ihnen war anzusehen, wonach sie sich sehnten. Sie schienen vor lauter Verlangen fast zu platzen. Das war es, worum es bei einer Kur auch ging. Sex. Viele kamen hierher, um sich einen Kurschatten zu angeln. Carola hatte schon davon gehört, aber wie es in natura aussah, das bekam sie gerade live präsentiert. Sie öffneten jetzt ihre Schenkel.
Öffnen, schließen, öffnen, schließen.
Unter Wasser. Was sich ihre beiden Beckennachbarinnen erträumten, konnte jeder ihren Gesichtern ablesen. Beim anschließenden Fahrradfahren unter Wasser kamen die beiden wieder auf andere Gedanken.
Nach einer halben Stunde war die hormonunterstützte Planscherei beendet. Sehr zur Freude von Carola durften alle wieder aus dem Wasser krabbeln.
Zu Konstantin Ferner gesellten sich diese beiden Frauen in vorderster Linie. Zur Verwunderung von Carola kümmerte sich der Mann jedoch mehr um eine andere Frau.
Um sie.
»Sie müssen die Doktorin sein, von der mir so viel berichtet wurde. Es freut mich, Sie auch hier begrüßen zu dürfen«, sagte er mit einer sehr tiefen Stimme und hielt ihr seine rechte Pranke hin.
»Das Vergnügen ist auf meiner Seite«, hörte Carola sich sagen, fragte sich aber gleichzeitig, was für ein Teufel sie ritt.
So einen säuselnden Ton kannte sie nicht von sich.
Halt, den Ton kannte sie nur an sich, wenn sie etwas erreichen wollte. Doch was meinte ihr Verstand, hier erreichen zu wollen?
Ferner entließ ihre Hand aus seiner Pranke.
»Sehen Sie, Frau Doktor, ein paar Tage hier in ‚Sachsenglück‘ und auch Sie werden sich wie neu geboren fühlen.«
Carola fühlte die Blicke der beiden Schwimmerinnen wie Messer in ihren Rücken gebohrt.
»Ich habe in der Tat sehr gut geschlafen«, säuselte sie. Doch innerlich dachte sie: Carola, zügele dich!
Die zwei verschmähten Schwimmerinnen rauschten an ihnen vorbei. Mit arrogantem Blick, die Köpfchen in den Nacken geworfen, straften sie Ferner mit Nichtbeachtung. Er wiederum bekam das gar nicht mit.
Sie gingen ebenfalls los.
»Ich mache Ihnen heute ein Versprechen, Frau Doktor. Binnen einer Woche fühlen Sie sich, als könnten sie Bäume ausreißen. Haben Sie schon unsere Quellen genossen? Wenn nicht, kann ich Ihnen nur dazu raten. Unser Kurort gründet seine Geschichte darauf, wussten Sie das?«, fragte er.
Carola musste zugeben, dass sie auf der Internetseite der Klinik Sachsenglück über die Geschichte gelesen hatte. Aber sie hatte die Quellen schnell wieder vergessen.
»Doch, doch«, log sie, »Natürlich habe ich davon gehört. Aber ist das denn für Herzpatienten auch angesagt?«
Sie bogen in den erleuchteten Korridor, in dem Ferners Büro lag. Er grüßte im Vorbeigehen einen Kollegen, der gerade dabei war, sein Büro zu verlassen.
Er schaute auf seine Uhr. »Ich bin untröstlich, Frau Doktor«, sagte er, »Leider habe ich einen Termin, aber ich kann Ihnen am Montag gerne mehr erzählen, wenn wir uns wieder beim Schwimmen sehen. Sie geben mir doch wieder die Ehre?«
In den letzten Worten hörte man ein ganz klein wenig den Dialekt des Wieners durchkommen. Man konnte über diesen Bademeister mit den Armen eines Preisboxers sagen, was man wollte, einen gewissen Charme hatte er und Manieren auch.
»Sicher, das werde ich mir doch nicht entgehen lassen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Bis Montag. Ich freue mich.«
Sie wollte sich abwenden, doch er hielt ihr zum Abschied die Hand hin. Sie schlug ein.
Carola musste sich eingestehen, dass sie mit dem letzten Satz die Wahrheit gesagt hatte. Der Gedanke, wieder mit einem Mann flirten zu können, machte ihr bei genauem Hinsehen keine Angst. Eher genau das Gegenteil. Es gefiel ihr. Sie sagte sich, das hast du jahrelang nicht gemacht. Jetzt hast du auch das Recht dazu. Hätte sie die Blicke der beiden Schwimmerinnen bemerkt, die sie und den Bademeister aus einer Ecke beobachteten, sie wäre tot umgefallen.
Mit beschwingtem Schritt ging sie auf ihr Zimmer und wusch sich das Chlor aus den Haaren.
*
Die Zeiger der Uhr in der Eingangshalle standen auf zwölf Uhr und sie verspürte keine Lust, sich zum Essen zu begeben. Mittlerweile hatte es leicht angefangen zu schneien. Carola Pütz wickelte sich ihren Schal um den Hals, zog ihre Mütze auf den Kopf, zupfte sie mit einem Schmunzeln keck zurecht und ging hinunter in die Empfangshalle. Dort bemerkte sie einen uniformierten Polizisten, der an der Rezeption stand. Er unterhielt sich mit Franziska Eichhorn. Sicher ist er wegen des Diebstahls hier. Sie konnte sich eben noch zurückhalten, zu lauschen. Stattdessen trat sie hinaus. Sofort fühlte sie die Kälte. Sie betrachtete die wirbelnden Flocken. Schnee in Frankfurt war immer gleichbedeutend mit Verkehrschaos, Verspätungen und genervten Menschen. Hier bedeutete es für sie an diesem freien Tag ohne Anwendungen Freiheit. Freiheit, sich den Ort genauer anzusehen. Zart und leise rieselten die Kristalle auf ihr Gesicht. Ohne ein Ziel zu haben, ging sie durch den kleinen Park, der zur Klinik gehörte. Auf der Straße hielt sie inne, entschied sich, den schon bekannten Weg einzuschlagen. In Richtung König-Albert-Theater.
Obsolet. Nichts schien hier obsolet. Alles kam ihr hier stimmig vor. Die Gärten, die Häuser. Trotz des Winters konnte sie sich vorstellen, wie prächtig manche Gärten in voller Blüte aussehen würden. Sie ließ ihren Blick weiterschweifen. Vorbeifahrende Autos zauberten zarte Schneegespenster auf die Straße. Tiefes Einatmen. Zu ihrer Linken lag ein großer Parkplatz, auf dem nur wenige Fahrzeuge standen.
Ein Ort wie aus einem tschechischen Märchenfilm.
Sie ging weiter, bis zu einem mit roten Ziegeln überdachten Häuschen, dort fand sie einen Stadtplan. Ein Pfeil wies den Standort aus. Sie schaute genauer hin. Nummerierte Kreise bezeichneten die Standorte der beherrschenden Gebäude in der Stadt. Im Handumdrehen hatte sie den Plan in seiner Ganzheit erfasst.
Eine Legende half ihr dabei, die Ortschaft in Windeseile zu erkunden. Sie erfuhr, dass die wichtigsten Gebäude in Bad Elster im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden.
Das Königliche Kurhaus wurde 1888–1890 nach einem Entwurf des Landbaumeisters Trobsch errichtet. Das Gebäude war ein architektonisches Beispiel der Neorenaissance und ein eindrucksvolles Zeugnis für die Wertigkeit des Staatsbades, seine internationale Bedeutung und seine Akzeptanz durch die Badegäste Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Albert-Bad wurde um 1908 nach einem Entwurf der renommierten Dresdner Architekten Rudolf Schilling und Julius Graebner erbaut.
Das König-Albert-Theater, das auch als Kurtheater bezeichnet wird, wurde 1913/1914 nach einem Entwurf der Chemnitzer Architekten Alfred Zapp und Erich Basarke errichtet. Es ersetzte einen Vorgängerbau aus dem Jahr 1888 und wurde nach 1989 umfassend renoviert.
Das Theater stand unter der Schirmherrschaft von Alexander Prinz von Sachsen. Aufgrund des ganzjährigen Spielplans war das König-Albert-Theater zur bedeutendsten Veranstaltungsstätte der Region avanciert, die dem Kulturleben des Vogtlandes entscheidende Impulse verlieh.
Das 1911 eröffnete Naturtheater befand sich in einem Waldstück und gilt als die älteste Freilichtbühne Sachsens. Im Jahr 2007 wurde es an Open-Air-Erfordernisse angepasst und festlich wiedereröffnet. Seitdem gibt es jährlich von Mai bis September ein Programm aus Oper, Operette, Schauspiel, Konzerte, Kino und Folklore.
Es gab auch eine erwähnenswerte Kirche im Ort. Die 1892 geweihte evangelisch-lutherische St.-Trinitatis-Kirche in neugotischem Stil besaß im Innern einige Kunstgegenstände aus der Vorgängerkirche, so z. B. zwei gotische Figuren: Der Apostel Petrus und Paulus aus dem Jahre 1490.
Das ehemalige Palasthotel Wettiner Hof wurde 1908 von den Architekten Zapp und Basarke erbaut, nach 1945 wurde es als Sanatorium Karl-Marx-Hof genutzt. Das Gebäude stand unter Denkmalschutz und wartete seit der Wende auf eine dringend notwendige Renovierung. Das zuletzt stark baufällige Gebäude wurde, da sich kein Investor für die Renovierung finden ließ, im Frühsommer 2011 abgerissen. Dr. Pütz sah sich das Bild des Hotels an und empfand es als schade, dass es abgerissen wurde.
Außerdem gab es eine Reihe von Kleindenkmälern, wie zum Beispiel die Kursächsische Halbmeilensäule von 1724 und das Schillerdenkmal.
Sie entschied sich für das Albert Bad. Das Schneetreiben war stärker geworden, die Flocken größer, sie benetzten ihr Gesicht. Sie blinzelte. Das Albert Bad war nicht weit entfernt. An der nächsten Kreuzung lag zu ihrer Rechten das Königliche Kurhaus. Im Schneetreiben sah das alte, wunderschöne Gebäude äußerst romantisch aus. Sie orientierte sich. Sie stand in der Bahnhofstraße. Auf der anderen Seite der Bahnhofstraße befand sich das hochherrschaftliche Gebäude. Eine kleine Brücke führte über die Weiße Elster, sie überquerte sie und schon stand sie vor dem alten, noblen Badehaus.
Der Mittelteil des rosa gestrichenen Gebäudes hatte einen steinernen Vorbau. Dort befand sich der Haupteingang. Darüber gab es einen Balkon mit einem verschnörkelten Gitter. In goldenen Lettern stand über dem Balkon ‚Albert Bad‘ geschrieben. Auf der kupfernen Haube, die auf dem Dach des Hauptgebäudes saß, lag jetzt ein wenig Schnee auf der grünlichen Patina des Kupfers.
Rechts und links des mit einem Walmdach gekrönten Mittelgebäudes schlossen sich niedrigere, langgezogene Bauten an. Hier dominierten die blau gestrichenen Schlagläden, die jedes der sechzehn Fenster rahmten. An den Eckpunkten saßen viereckige, dreistöckige Gebilde. Auch im Obergeschoss sah Carola große Fenster mit einem Balkon.
Der Wind peitschte ihr die Schneeflocken heftig ins Gesicht. Sie fing zu blinzeln an und senkte den Kopf. Sie ging am Albert Bad vorbei in Richtung der Marienquelle weiter. Sie beschleunigte ihren Schritt. Das flache Gebäude besaß großflächige Glasflächen. Eine verglaste Rotunde saß mittig über dem Brunnen mit seiner Schale, aus der das Quellwasser floss. Auf diesem Dach stand, von Weitem sichtbar, eine vergoldete Statue einer Kugelträgerin.
War das die Quelle, von der der Bademeister gesprochen hatte?
Sie öffnete die Eingangstür. Carola war froh, dem Schneetreiben entfliehen zu können. Niemand außer ihr hielt sich in dem Quellengebäude auf. Sie setzte sich auf eine Bank und lauschte in die Stille, die nur von dem Plätschern des Quellwassers gestört wurde, auf eine sehr angenehme Art. Sie schloss ihre Augen. Horchte in sich hinein. Sie liebte das Geräusch von fließendem Wasser, es beruhigte sie. Ihre Macke hatte Pause. Seit dem unseligen Streit mit Lara Kaiser fühlte sie sich ruhiger. Es gab keine Reize. Weder von außen noch von innen.
Was sie nie für möglich gehalten hätte: Der Aufenthalt in der Kurklinik tat ihr gut. Bislang war nicht viel mit ihr passiert, also schrieb sie es der veränderten Umgebung und der Ruhe zu, dass sie sich besser fühlte. Mit einem Strahlen öffnete sie ihre Augen.
Neben der Schale mit der Quelle stand ein schlanker Mann mit dem Rücken zu ihr. Er trug einen langen schwarzen Mantel, der die leicht grauen Haare wirkungsvoll zur Geltung brachte. Carola Pütz nahm ihn nicht wahr, obwohl er die einzige Person weit und breit war. Bis er sich herumdrehte und sich ihre Blicke trafen. Sie erschrak.
An wen erinnerte sie dieser Mann? An wen erinnerten sie diese Augen?
Blau, intensiv, aber nicht stechend.
Sie konnte den Blick nicht von ihm lassen. Sein Kinn zierte ein kleiner, zierlicher Bart, wie ein flüchtiger Pinselstrich eines Malers. Ebenfalls grau.
Jetzt fingen seine Augen an zu lächeln. Eher etwas verwirrt als selbstsicher, lächelte sie zurück. Er ging an ihr vorbei und flüsterte ein »Guten Tag«, als wolle er die Stille des Ortes nicht stören. Ein Dialekt. Offensichtlich Schweizer. Sie antwortete mit einem gehauchten Gruß. Schließlich schlenderte er weiter. Carola schaute ihm nach, schüttelte den Kopf.
Was ist denn los mit dir?
Erst flirtete sie ungeniert mit dem Bademeister, jetzt ließ sie sich auf einen Augenflirt mit einem Fremden ein. Seit ihrer Scheidung vor über einem Jahr hatte sie so etwas nicht mehr zugelassen. Etwas in ihr hatte Nachholbedarf. Sie schmunzelte. Wohin wird es dich noch führen? Sie blickte sich erneut um. Der Fremde war aus ihrem Blickfeld verschwunden.
*
Nachdem sie nach ihrer Rückkehr völlig verfroren einen Kaffee zum Aufwärmen getrunken hatte, verbrachte sie eine Stunde in einer heißen Badewanne.
Unwillig verließ sie die Wanne und trocknete sich mit einem riesigen Badetuch ab. Sie knotete sich das Tuch um, rubbelte sich die Haare trocken.
Mit der linken Hand wischte sie den beschlagenen Spiegel frei. Dabei fiel ihr Blick auf die Narbe in ihrer Handfläche. Eine bleibende Erinnerung an den Tag, der ihr Leben so schicksalhaft verändert hatte. Als sie in Bonn für ihre Kollegin Dr. Beisiegel eine forensische Zeichnung anfertigte, hatte sie die bislang grauenvollste Zählattacke erlitten. Sie rettete sich in völlige Dunkelheit. Dabei hatte sie aus Wut über ihre körperliche Verfassung einen Instrumentenwagen umgestoßen. Im Dunkeln nach einem Skalpell tastend, hatte sie sich die Handfläche aufgeschnitten.
Sie hielt inne und sah sich etwas verstört im Spiegel an. War das eine Erinnerung aus ihrem Leben?
Wäre nicht die Narbe auf ihrer Hand ein Beweis dafür, sie hätte es für ein Bild aus einem Roman halten können. Sie nahm sich ein Handtuch und wischte den Spiegel blank. Carola Pütz dachte schnell nach. Diese Narbe würde sie immer an diesen Tag erinnern. Es gab keine Alternative. Überhaupt keine. So einfach erschien das Leben manchmal.
Sie legte das Handtuch zurück und begann, sich zu schminken. Was sie auch selten tat. Carola Pütz hatte eine natürliche Schönheit. Sie trug etwas Rouge auf ihre hohen Wangenknochen, die ihr einen leicht slawischen Einschlag gaben. Dabei hatte sie keine Wurzeln im Osten. Ihre Eltern kamen aus dem Rheinland, verzogen später aus beruflichen Gründen ins Rhein-Main-Gebiet. Nach ihrem Studium hatte sie an verschiedenen Orten gelebt, um nach ihrer Heirat erneut in Frankfurt ansässig zu werden. Nachdem sich ihr Mann von ihr trennte, hatte sie überlegt, der Main-Metropole den Rücken zuzukehren. Weil sie sich jedoch ihrer Universität zugehörig fühlte, blieb sie dort. Durch ihre Lehrtätigkeit und die häufigen Vortragsreisen hatte sie genug Zerstreuung. Die Villa, die sie zusammen mit ihrem Mann bewohnt hatte, wurde verkauft.
Die Verletzung, die dieser Mann, mit dem sie beinahe zwanzig Jahre zusammengelebt hatte, ihr zugefügt hatte, lag schwer auf ihrer Seele.
Sie bezog eine Eigentumswohnung, stürzte sich noch mehr als bisher in die Arbeit.
Ab und zu hatte sie sich eine Auszeit genommen. Nicht oft genug, wie sie leidvoll erfahren musste.
Fang jetzt nicht an, frustig zu werden.
Sie sprach laut vor sich hin, lächelte.
Und bitte auch keine Selbstgespräche.
Wie sie feststellen musste, hatte ihr Abendkleid auf der Reise gelitten, obwohl sie es in einem Kleiderschutzbeutel gelagert hatte. Sie hängte es auf einen Bügel und glättete die entstandenen Falten mit der Hand. Ohne Erfolg. Sie griff zum Telefon und fragte an der Rezeption nach, ob sie das Kleid zum Bügeln abgeben könnte.
»Aber selbstverständlich«, erhielt sie zur Antwort. Sie legte sich das Kleid über den Arm und machte sich auf den Weg zum Empfang.
Der Schneefall hatte nachgelassen. Das fiel ihr auf, als sie den Gang durchquerte. Draußen war der Hausmeister damit beschäftigt, den Weg mit einem Fahrzeug vom Schnee zu befreien. Sie hielt kurz inne und sah, wie er den Schnee zu einem Haufen auftürmte. Das Fahrzeug sah aus wie ein kleiner Bagger, vorne mit einer Schaufel versehen.
Nachdem man ihr am Empfang versichert hatte, sie könne ihr Kleid am späten Abend abholen, ging sie zum Speisesaal. Warum auch immer. Möglicherweise, weil die Tür einen Spalt offenstand. Es war viel zu früh für das Abendessen, selbst die Angestellten waren noch nicht mit den Vorbereitungen zugange.
Sie öffnete die Tür und ging hinein. Ohne Menschen hatte der Speisesaal etwas von einem Theatersaal. Stellte man die Bestuhlung anders auf und entfernte die Tische, so hatte man ein wunderbares Auditorium. Die schweren Kristalllüster in Verbindung mit der hohen Decke verliehen dem Speisesaal das Aussehen eines ehrwürdigen Theaters. Sie stellte sich vor, wie auf der Bühne ein Theaterstück aufgeführt wurde, als sie plötzlich Stimmen hörte. Sie kamen aus einem kleinen Raum, der sich rechts neben der Bühne befand, dort stand ebenfalls die Tür offen. Carola Pütz ging vorwitzig näher. Die Stimmen klangen aufgeregt, aber trotzdem gedämpft.
War das ein Streitgespräch?
Sie stieg leise die Stufen zur Bühne hoch und ging auf Zehenspitzen in Richtung Tür. Siebzehn Parkettfliesen bis zur Tür. Sie blieb stehen, lauschte.
»Wir müssen vorsichtig sein. Jetzt, wo die Polizei hier herumschnüffelt, können wir nicht so weiter machen«, flüsterte die eine Stimme.
Weiblich.
»Ich habe meine Aufträge, ich kann jetzt nicht plötzlich aufhören. Es war klar, dass die Frau Doktor die Polizei einschaltet. Das war dir auch vorher schon klar«, antwortete ein Mann mit zischender Stimme.
Das kann nicht wahr sein!
Carola Pütz erstarrte. Wie es aussah, standen jetzt, keine vier Meter entfernt, nur durch die Tür von ihr getrennt, die mutmaßlichen Diebe. Ein Mann und eine Frau. Sie versuchte sich den Tonfall und die Klangfarbe der Stimmen einzuprägen.
»Und ich sage dir noch einmal, du hörst auf damit. Wenigstens so lange, wie die Polizei ermittelt. Ich habe keine Lust, wegen dir meine Anstellung zu verlieren.« Sie klang sehr aufgeregt, ihre Stimme überschlug sich.
Die Frau war angestellt. Sie sprach nicht von einem Job. Sie war hier in der Klinik also nicht nur als Aushilfe beschäftigt. Carola Pütz zog sich zurück. Einerseits war sie neugierig, andererseits bekam sie Angst. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Kriminelle erlebt, doch waren diese in der Regel tot. Mausetot. Diese beiden aber waren quicklebendig.
Und vielleicht gefährlich.
Auf leisen Sohlen schlich sie die Treppe herunter. Fünf Stufen. Zwanzig Meter bis zur Tür. Geschickt umkurvte sie die Tische, die schon für den Abend eingedeckt waren. Noch zehn Meter bis zur Tür. Dann würde niemand sie bemerkt haben. Sie war sich sicher, die Stimme im Laufe der Zeit zu erkennen.
Plötzlich ertönte von der Bühne eine laute, ungehaltene Stimme: »Der Speisesaal ist noch nicht geöffnet. Wie kommen Sie denn hier rein?«
Carola Pütz hielt in der Bewegung inne.
Mist. Wenn ich mich jetzt umdrehe, sehe ich eine Diebin.
Die Frau sprach zu ihr. Ganz langsam drehte Carola Pütz sich herum, blickte zur Bühne herüber.
Herzklopfen.
Auf der Bühne stand eine Frau mit in die Hüften gestemmten Armen. Mit dem Blick, den sie Carola Pütz zuwarf, hätte man Tote erwecken können. Sofern das machbar war.
Es war Franziska Eichhorn.
»Entschuldigung«, sagte Pütz, »Die Türe stand offen. Ich finde den Raum so unvergleichlich, da bin ich hineingegangen. Ich wusste nicht, dass das verboten ist.«
Sie versuchte, ein normales, unbeteiligtes Gesicht zu machen.
Franziska Eichhorn wurde in dem Moment bewusst, dass sie einen Kurgast nicht so anfahren konnte. Ihr war der Schreck in die Glieder gefahren, als sie Carola dort im Speisesaal sah. Normalerweise waren die Türen bis eine Viertelstunde vor Beginn der Essenszeit geschlossen. Eine der Putzfrauen hatte sie wohl nicht abgesperrt.
»Nein, sicherlich ist es nicht verboten. Schauen Sie sich nur um«, sagte sie und fragte sich, ob die Frau wohl etwas gehört hatte. Ihre Stimme war nun nicht mehr so barsch.
»Vielen Dank, aber ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte«, sagte Carola vielsagend und ließ die Frau auf der Bühne stehen. Sie drehte sich um und verließ schleunigst den Speisesaal. Franziska Eichhorn warf ihr einen misstrauischen Blick hinterher.
Während Carola Pütz zurück zu ihrem Zimmer ging, überlegte sie, was sie tun sollte. Die Polizei informieren? Die Klinikleitung informieren? Wer weiß, vielleicht steckten noch mehrere Angestellte mit diesen beiden unter einer Decke. Sie verwarf den Gedanken.
Abwarten.
Vielleicht war ja auch alles ganz anders.
Der Mann könnte ja auch etwas total harmloses gemeint haben. Wäre da nicht das Wort ‚Auftraggeber‘ gewesen.
Egal. Sie würde abwarten. Zu gegebener Zeit konnte sie mit ihrer Entdeckung vielleicht punkten.
Zurück in ihrem Zimmer, spürte sie eine innere Erregung. Beinahe so wie bei einer plastischen Rekonstruktion. Ganz am Anfang. Wenn noch nichts geklärt war. Wenn der nackte Schädel vor ihr stand. Forschergeist. Fühlte sich so ein Detektiv? Ihr gefiel der Gedanke.
*
Über Nacht taute der Schnee. Auch war es nicht mehr so kalt wie am Vortag. Carola Pütz öffnete das erste Mal, seitdem sie ihr Zimmer bezogen hatte, die Tür und trat hinaus auf den kleinen Balkon.
Man konnte nicht sagen, es sei mild, aber die Luft schien einmal komplett ausgetauscht worden zu sein. Heute war der erste Advent. Ein wenig Schnee hätte dem Tag gut zu Gesicht gestanden.
In der Eingangshalle brannte die erste Kerze an dem riesigen Adventskranz, der seit dem gestrigen Abend unter der Decke hing. Echte Kerzen wären stilvoller gewesen, doch seit einem Adventskranzbrand Ende der Achtzigerjahre war mit dieser Tradition gebrochen worden. Seitdem gab es täuschend echt aussehende elektrische Kerzen.
Diese waren sogar der neuesten Generation angehörend und reagierten auf ein Signal der Fernbedienung. Keine lästigen Kabel mehr. Den meisten Gästen der Klinik fiel dieser Unterschied nicht auf. Man brach in der Klinik nicht gerne mit althergebrachten Traditionen, aber in diesem Fall setzte sich der damalige Hausmeister, unterstützt von der Feuerwehr, gegen die Verwaltung durch.
Auch im Speisesaal befanden sich ein paar kleinere Adventskränze.
»Hätte der Schnee nicht liegen bleiben können?«, fragte Frau Schmitt-Wienand mit einem Anflug von gekünstelter Trauer in der Stimme.
»Ja, da muss ich Ihnen recht geben. Ein Advent ohne Schnee ist nicht schön. Gerade, wo man doch hier in der Nähe des Erzgebirges ist. Die Gegend gilt doch langläufig als schneesicher.«
Dieser Satz kam von Frau Silvia Schleisieck, einer sportlich aussehenden Mittdreißigerin, die sich am gestrigen Abend zu ihnen an den Tisch gesellt hatte. Als Dr. Pütz erfuhr, dass sie als leitende Managerin eines Industriegiganten aus dem Rheinland einen Herzinfarkt erlitten hatte, musste sie zweimal schlucken. Herzinfarkt mit Mitte dreißig. Da kam sie mit ihren Mitte vierzig ja noch gut weg.
»Ich vermisse den Schnee nicht. Ich bin ein Sommerkind«, antwortete sie und legte ihren Löffel beiseite. An diesem Morgen hatte sie das erste Mal Müesli gegessen, so wie es auf ihrem Diätplan stand.
Wieso?
Das konnte sie sich selbst nicht beantworten. Wider Erwarten schmeckte das Müesli lecker.
»Ja, aber zum Advent oder auch allgemein zur Weihnachtszeit gehört doch Schnee. So habe ich das gern«, sagte Frau Schleisieck.
»Also ich brauche kein‘ Schnee. Is doch eh immer alles bloß Matsche«, sagte Herr Krawuttke, der bisher an diesem Morgen noch kein Wort gesagt hatte.
»Guten Morgen, der Herr«, sagte Frau Schmitt-Wienand mit einem ironischen Unterton. Krawuttke grinste bloß. »Is doch wahr«, fügte er noch an.
Bald kam das Gespräch wieder auf das Thema Konzert am Abend. Frau Schleisieck horchte auf. Nachdem Carola Pütz ihr erklärt hatte, welches Stück gespielt würde, stand sie sofort auf und eilte hinüber zum Empfang. Strahlend kam sie wieder zurück. Sindy Partsche hatte direkt im König Albert Theater angerufen.
»Dann würde ich mich freuen, wenn wir zusammengehen könnten. Nehmen Sie mich mit, Frau Pütz?«
»Aber sicher«, antwortete Carola Pütz, die froh war, nicht alleine zu dem Konzert gehen zu müssen. Die junge Frau erschien ihr zudem außergewöhnlich sympathisch.