Читать книгу Die ANKUNFT der Raumsiedler - Michael Wächter - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеJenis blickte in den Spiegel. Seine Kopf-Federn waren grau geworden, sein Schnabel spröde. Das Nasenbein über dem Schnabel bekam Falten, und seine Bewegungen wurden langsamer. Er fand, dass seine Flügel zu schlaff herabhingen, wenn sie seine Arme bedeckten, und sein linkes Bein schien sich an der Prothese zu reiben, die sein rechtes Bein ersetzte.
Er sah alt aus. Jahrzehnte waren vergangen, seit sie ihr Heimatsystem verlassen hatten. Es war Annu 28 d’IPO, das achtundzwanzigste puntirjanische Jahr des Fluges ihrer Flotte durch den endlosen, toten Raum. Das größte Projekt in der Geschichte ihrer Zivilisation. Oft hatte ein Scheitern gedroht, doch sie waren noch immer unterwegs. Drei der anfänglich sieben Raumstationen waren noch bewohnbar.
Jenis erblickte hinter dem Spiegel ein altes Kärtchen. Er zog es hervor und betrachtete es neugierig.
„Das steckt aber schon lange hier“, dachte er. Beiläufig las er den Text. Es war eine Funkbotschaft, die er sich damals ausgedruckt hatte.
Sehr geehrter Kommandantenkollege! Ich beglückwünsche Sie ausdrücklich und im Namen der Altakolia VII zur Beseitigung des feigen Attentäters Ssefaru Xing, stand da, Unterschrift: General Fazzuwär.
Erinnerungen kamen auf. Die Glückwunsch-Funkbotschaft – ob sie ehrlich gemeint war? Auch die Crew der Altakolia I unter Kapitän Jenis hatte den Tod Ssefaru Xings mit Beruhigung zur Kenntnis genommen. Sie hatte einige Überlebende seines Terror-Anschlags auf die Altakolia IV geborgen und in die Crews der Altakolia I, VI und VII integriert. Die Flüchtlinge hatten Xings Anschlag zufällig überlebt, weil sie dabei in größerer Entfernung auf Außeneinsätzen waren. Und sie waren in Raumanzügen, bevor der Terroranschlag alle elektrischen Anlagen mit einem nuklearen elektromagnetischen Impuls (EMP) zerstört hatte. Die Überlebenden hatten den Bergungsteams monatelang geholfen, alles noch brauchbare Gerät aus den zerstörten Raumstationen zu bergen, auch viele Habseligkeiten der Crew und Rohstoffe – Treibstoffreste, Sauerstoff- und Trinkwasser-Reste. Dann hatte die Kälte des Raumes die dunklen Stationsreste ergriffen. Kondenswasserreste erstarrten zu steinhartem Eis. Es glitzerte im Licht mitgebrachter Akku-Leuchten, und selbst Reste von Atemluft kondensierten in den Wohnzylindern sofort zu tiefkaltem Nebeln, die sich verflüssigen wollten.
Auch auf der Altakolia I hatte der Anschlag viele Solarzellen und Sonnensegel zerstört. Die Verbindungstunnel, Reaktoren und Wohnzylinder mit ihren Ökosystemen hatten den EMP zwar überstanden, aber die Raumsiedler hatten viele Annus lang kämpfen und Schäden reparieren müssen, die die Explosionstrümmer verursacht hatten. Hunderte von Quadratkilometern an Solarfolie und –paneelen waren zu kontrollieren gewesen, etliche Quadratkilometer zu reparieren. Die Mechatroniker-Teams hatten auf Hochtouren gearbeitet, um jede erdenkliche Ersatzkraft verstärkt. Sie hatten die Energie-Zusatzversorgung über die Solarzellen nicht mehr vollständig wiederherstellen können. Sie hatten vorher zwar noch ganz schwache Reste von Versorgungsstrahlen aus der Heimat empfangen können, doch es war ohnehin klar, dass diese Energiequelle bald versiegen würde. Schließlich hatten sie auf ihrer interstellaren Reise inzwischen über die Hälfte der Strecke zum Altakol-System zurückgelegt. Auf der anderen Seite hatten sie nun aber auch zusätzliche Rohstoffe in Reserve – geborgen von den unbewohnbar gewordenen Schwesterschiffen. Und die Rümpfe der toten Raumstationen, die neben ihnen herflogen. Einige Mechatronik-Roboter hatten sie inzwischen umgebaut. Es hatte sogar Versuche gegeben, einen der Wohnzylinder wieder mit einem Lebenserhaltungssystem auszustatten, doch es fehlte an Elektronik-Bauteilen. Zu viele davon hatte der Terroranschlag vernichtet.
Trotzdem: Jenis konnte sich im Spiegel anschauen, dankbar und stolz. Sie hatten überlebt. Gleich zu Expeditionsbeginn hatten sie die Altakolia II verloren. Ihre Ökosysteme waren kollabiert. Auch ihr Rumpf befand sich noch im Geschwader. Die durch den Anschlag unbrauchbar gewordenen, ausgeräumten Reste der Raumstationen III bis V waren noch im Gefolge. Und sie hatten noch immer drei bewohnbare Altakolia-Stationen zur Verfügung: Die I, die VI und die VII. Sie würden überleben und ihr Ziel erreichen.
Jenis wischte die Erinnerungen fort. Heute war ein guter Tag. Eine Feier stand an. Er hatte eine Feiertags-Einladung auf die Altakolia VI. Das erste Tringo-Erntedankfest. Nach irre langem Wachstum und hingebungsvoller Pflege hatte der Tringo-Baum im Wohnzylinder der Altakolia VI erste Früchte hervorgebracht. Von nun an würde es Annu für Annu eine immer reichere Ernte an Früchten geben, und das war wahrlich ein Grund zum Feiern!
Das Armband-smartphone auf der Spiegelkonsole ertönte. Jenis fluchte. Ein Eilsignal. Gerade jetzt, wo er seine Feder- und Schnabelpflege vornehmen wollte, erreichte ihn so eine lästige Eilnachricht. Er öffnete sie und las.
Bitte, mich auf der Altakolia VI zu entschuldigen. Arbeite an neuen Strategien zur Wahrung der Sicherheit der Raumflotte. General Fazzuwär.
Der General. Er kommandierte die militärische Raumstation der Altakolia-Flotte. Er war Sarkarier, und Jenis mochte ihn nicht. Damals auf Puntirjan hatte Fazzuwär im Krieg als junger Leibgardist auf Seiten der Sarkarier gekämpft. Nach dem Sturz seines Kaisers hatte er den Siegern plötzlich erklärt, er habe eigentlich schon immer eine demokratische Gesinnung vertreten. Er sei nur Mitläufer gewesen. Das Gericht sprach ihn frei. Er wurde Kommandant einer Militärstation. Schließlich wurde er von der I.P.O., der interplanetarischen Organisation der Puntirjaner, im Rahmen des Friedensabkommens als Expeditionsteilnehmer anerkannt – dem IPO-Megaprojekt der ersten interstellaren Reise von Raumsiedler-Kolonien. Jenis musste das akzeptieren. Aber er traute ihm nicht.
„Auch gut“, murmelte Jenis, „soll er doch.“ Doch als er wieder in den Spiegel sah und seinen Schnabel öffnete, um ihn zu reinigen, hielt er vor Schreck den Atem an. Schnabelfäule! Er starrte auf den pelzigen, weißgelben Belag, der sein Schnabelinneres befallen hatte. Daher das Kribbeln. Er war dabei, eine deftige Schnabel- und Halsinfektion auszubrüten. Für die langlebigen Vogelmenschen von Puntirjan war das ein ernstes Warnsignal. Über IPO-Interfunk rief er Dr. Keush an und ließ sich einen Arzttermin geben. Jetzt konnte er also nur noch eine weitere Absage hinterherschicken und den Schiffsarzt aufsuchen. Sein Raumflug hinüber zur Altakolia VI war beendet, noch bevor er begonnen hatte. Er war sauer. Er hatte nicht einmal mehr Lust, seinen Stellvertreter zur Altakolia VI zu entsenden. Verdammte Schnabelinfektion! Missmutig begab er sich in die Krankenstation.
An Bord der Altakolia VI lief Festmusik im Hintergrund, als die Crew und ihre Gäste zusammenkamen. Eine volle Festbeleuchtung verzauberte den gesamten Wohnzylinder. Die Schiffskommandanten und weitere, höhere Repräsentanten der Altakolia VI und VII waren voller Freude zusammengekommen, um das erste Tringo-Erntedankfest zu feiern. Kapitän Jenis von der Altakolia I war erkrankt, hörte man, und die Station befand sich momentan in zu großem Abstand von den Schwesterschiffen, um kurzfristig eine Ersatz-Delegation zu entsenden. Auch General Fazzuwär vom Militärschiff Altakolia VII ließ sich entschuldigen – er arbeite an neuen, dringenden Strategien zur Wahrung der Sicherheit der Raumflotte. Die Feierstimmung jedoch trübte das nicht.
Die gesamte Crew der Altakolia VI war auf dem Agrarfeld des Wohnzylinders angetreten. Kapitän Barloff flog zum Rednerpult. Die Festmusik verstummte und es wurde leise.
„Werte Offiziere, geehrte Mannschaftsmitglieder, sehr geehrte Gäste von der Altakolia VII: Der Kommandant der Altakolia VI!“, kündigte ihn sein Schiffsstabschef an.
„Sehr verehrte Anwesende!“, eröffnete Kapitän Barloff die Festrede. „Wir haben uns hier versammelt, um einen großen Erfolg zu feiern und die Züchterin zu ehren! Wir begrüßen die Züchterin der ersten an Bord geernteten Tringo-Frucht unserer Altakolia-Mission, Leutnant Leydi Lilli!“
Die Anwesenden jubelten, erhoben sich und klatschten. Viele zwitscherten und flatterten freudig auf. Ihre Begeisterung war echt. Dann wurde es wieder ruhiger. Leutnant Leydi Lilli flog auf das Podium neben den Kapitän, eine Tringo-Frucht auf einem silberglänzenden Tablett präsentierend. Die Tringo war in den alten puntirjanischen Ökosystemen ebenso wie in den Ökosystemen der Cosmocity-Wohnzylinder von zentraler Bedeutung: Genau wie die großen Ravrokyl-Pflanzen spendete sie nicht nur Sauerstoff, sie lieferte auch noch Bauholz (wenn sie alt genug war) und Nahrung. Tringo-Früchte gehörten neben Ravrokylkörnen und Flugechsenkeulen zu den wichtigsten, naturnahen Nahrungsmitteln der Crew. Als der Jubel und der Beifall endlich verstummten, lobte Kapitän Barloff den Erfolg seiner Schiffsbiologin. Ihr war schon kurz nach dem Expeditionsstart ein erster Saaterfolg geglückt: Aus den Tringo-Kernen wuchsen Sämlinge. Viele Annus lang hatte sie die Sämlinge auf der Altakolia VI gehegt und gepflegt, gedüngt und begossen, belichtet und belüftet. Dann endlich war der Puntirjanday gekommen, da sie erstmals die ersten Früchte von dem mannshohen, jungen Bäumchen ernten wollten.
„Dieses Erntedankfest wollen wir heute feiern!“, schloss der Kapitän, „wir eröffnen die Zeremonie!“
Die Früchte wurden in kleinste Portionen zerteilt, und jedes Crewmitglied bekam ein Tringo-Stück Marke Eigenanbau-Altakolia-VI.
„Ein Lob dem Schöpfer, eine Ehrung der Züchterin!“, sprach der Kapitän, hob das erste Stück Fruchtfleisch in die Höhe und führte es zum Schnabel. Die Anwesenden taten es ihm gleich. Gerade als sie die Stücke ehrfürchtig verkosten wollten, erschütterte ein lauter Knall den Wohnzylinder. Eine Art Lichtblitz folgte. Dutzende Anwesende begannen zu kreischen und zu flattern – andere waren zu Boden gefallen durch die Erschütterung. Nebel kondensierte. Atemluft aus dem Wohnzylinder entwich in den leeren Raum.
„Verdammt!“, schrie einer der Offiziere in das Chaos, „Ein Impakt!“
„Hilfe! Wir dekomprimieren!“, kreischte eine Kadettin.
„Atemmasken!“, schrie ein Anderer, „Masken anlegen! Raumanzüge!“
Von da an ging alles rasend schnell: Alarmsirenen ertönten, alle Crewmitglieder hasteten zu den Atemgeräte- und Raumanzug-Depots. Das Bereitschafts-Notfallteam jagte im Shuttle um den Zylinder, um das Leck zu suchen und schnellstmöglich abzudichten. Es waren zwei Lecks. Ein Meteorit hatte den Wohnzylinder durchschlagen – wohl ein Brocken aus der vor ihnen liegenden Kometenwolke. Er hatte die zentrale Versorgungsachse erwischt. Die Stromzufuhr zu den Xenonleuchten war unterbrochen, es wurde dunkel. Die Beregnungsanlage war getroffen, die Leitungen entleerten sich. Die aufgescheuchten Crewmitglieder, die Raumanzüge oder Atemmasken hatten greifen können, flatterten im Dunkel aufgeregt umher, und sie wurden nass. Der Unterdruck ließ das Wasser verdampfen und es wurde kalt. Der Sog wurde immer heftiger. Das Notfallteam hatte nur eines der Löcher rechtzeitig schließen können. Als das Reparaturshuttle am anderen Ende ankam, ein Zweites war nicht rechtzeitig startklar gewesen, schoss mittlerweile eine richtige Fontäne aus dem Inneren des rotierenden Zylinders. Die Luftfeuchtigkeit kondensierte beim Austreten blitzartig zu Schnee, dessen Flocken ins All abtrieben. Sie bildeten Spiralen um den leckgeschlagenen Wohnzylinder, der zur Erzeugung künstlicher Schwerkraft noch immer rotierte. Der Druck der Gasfontäne stieß das Abdeckmaterial, das die Notteams des Feuerwehrshuttles außen befestigen wollten, jedoch jedes Mal gleich wieder fort. Die Zentrifugalkraft tat ein Übriges hinzu. Also mussten sie ins Innere des Wohnzylinders dringen. Dieser aber war schon fast evakuiert. Als sie dort Titan- und Graphen-Platten anbringen wollten, kamen sie in ihren Raumanzügen kaum voran. Ein Bagger musste Ackerboden-Substrat um die Einschlagstellen wegräumen, damit sie an die Wandteile kamen, wo sich die Platten befestigen ließen. Der Sekundenkleber aus den Stahlspritzflaschen hielt aber nicht schnell genug. Die Platten drohten, sich seitlich zu verschieben. Als sie dann endlich hielten, war es zu spät. Der Wohnzylinder frei von Wasser und Atemluft. Die Crew hatte sich in Notkabinen gerettet – die Bepflanzung jedoch und die tierischen Mitbewohner konnten das nicht. Der Meteoritentreffer hatte das Ökosystem der Altakolia VI vernichtet. Wieder war ein Wohnzylinder unbewohnbar geworden. Wieder musste eine Station evakuiert werden. Und wieder galt es, Überlebende auf der Altakolia I unterzubringen.
Kapitän Jenis trug plötzlich die ganze Verantwortung. Kapitän General Fazzuwär ließ sich von der Altakolia VII aus entschuldigen. Ein weiterer, angeblicher Notfall. Eine sofortige Neuprogrammierung der vorausgesandten Raumsonden sei nötig. Jenis begann, ihn zu verfluchen. Sicherlich hätte er noch weit mehr getan als nur das, wenn er gewusst hätte, was der General in diesem Moment tat. Er hatte sich wieder seinen heimlichen Plänen zugewandt – der Inbesitznahme des Zielplaneten ihrer Mission für das Militär. Sariah war bewohnbar. Theoretisch könnte es dort schließlich sogar intelligentes Leben geben, eine Zivilisation. Für diesen Fall, dachte Fazzuwär, ist deren Vernichtung erforderlich. Auf Puntirjan hatte man darüber nachgedacht, ob spätere Raumsiedler gegenüber etwaigen Bewohnern des Altakolsystems friedlich auftreten sollten. Oder sollten sie den Zielplaneten „Sariah“ lieber gleich gewaltsam besetzen? Letzteres wurde damals von sarkarischen Militärs befürwortet. Sie schlugen vor, eine eventuelle technisierte Zivilisation dort präventiv anzugreifen. Zum Beispiel Interfunk in deren Cyberspace. Über nukleare elektromagnetische Impulse, die Xing eingesetzt hatte. Oder über gentechnisch manipulierte Mikroben, die ihr Ökosystem infizieren und destabilisieren. Die IPO-Gremien daheim verhandelten noch immer. Symbiose oder Okkupation, das war die Frage. Für Fazzuwär jedoch war sie schon entschieden. Jenis aber ahnte nichts davon.