Читать книгу Alexandra - die Geschichte eines ungewöhnlichen Lebens - Michael Wolfgang Geisler - Страница 7

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Auf dem Weg

Seit sechs Monaten wächst Alexandra im Bauch ihrer Mutter. Wie umfassend hat sich in dieser Zeit ihr Dasein verändert!

In den ersten Wochen der irdischen Existenz schien es ihr, als hätte sie in einem unüberschaubar weiträumigen Reich Platz gefunden. Warm, wohlgenährt und ganz aufgehoben schwebte sie in ihrem Zuhause. Noch vollkommen gegenwärtig schienen ihr in jenen Tagen die leuchtenden Sterne ihrer Heimat in der Weite des Alls. Wie verzaubernde Musik hatte sie dort das rhythmische Schwingen der Gestirne sanft bewegt. Weiterhin verbunden mit dem Ort ihrer Herkunft erlebte sie die umwälzende und alles verändernde Entwicklung ihres menschlichen Körpers.

Große Zufriedenheit stellt sich bei Alexandra ein. All das, was geschah, hat sie gewollt! Sie weiß: Mensch auf der Erde zu sein ist etwas Besonderes! Als irdisches Wesen lässt sich das Leben in einer Weise erfahren, wie es die geborgene Existenz bei den glitzernden Sternen niemals ermöglichen kann. Sicher, keinesfalls ist es möglich, im Voraus zu erkennen, was die Erdenwirklichkeit bringen mag. Sie würde von ihrer Intensität vollkommen erfasst, ja überwältigt werden. Doch ihr ist bekannt, zu welchem Ziel sie strebt und warum sie das Menschsein suchte.

Verblasst waren während ihrer Existenz in den himmlischen Gefilden die Erinnerungen aus früheren Tagen an das Leben auf Erden. Das Sein im Himmel hatte ihre Gedanken mit reinen und vollkommen wahren Ideen erfüllt, geboren aus einem alles umfassenden Bewusstsein. Doch wie konnte sie diese begreifen, wie sie besser verstehen? Ein Verlangen zu lernen meldete sich mit Macht. Es bedarf der irdischen Erfahrung, gab sie sich selbst zur Antwort. Sie war ja in dieser geistigen Existenz nicht die Alexandra, die nun im Bauch der Mutter heranwächst, sondern von ganz anderer Gestalt und Art.

Als Wesen des Sternenhimmels hatte sie sich vorgenommen, auch als Mensch der Erde mit dem Ort ihrer Herkunft in ständigem Kontakt zu sein. Die Einheit von allem, was ist, sollte erhalten bleiben. Ein forderndes Unterfangen! Sie kannte den Ursprung von Wahrheit, Licht und Vollkommenheit. Niemals wollte sie sich davon trennen. Sich dessen bewusst strebte sie hinab auf die Erde mit ihrer Vielfalt an Formen und Dingen, in der die vollkommenen Ideen sich in Gegensätze aufspalten und eine Wirklichkeit größter Spannung erschaffen, die in Empfindungen, Gefühlen und Gedanken gelebt werden muss.

»Ich schaue auf mich«, sprach sie zu sich selbst. »Ich weiß, dass ich bin, und ich weiß von dem Einen, das in der irdischen Welt so ganz verloren scheint. Doch ebenso – und das lässt mich zögern – sehe ich, wie ich eine vielfarbige Schleppe nachziehe, die zu mir gehört. Es sind meine Aufgaben, die ich mit in das irdische Dasein trage. Denn stets soll im irdischen Sein fortgeführt und zu einem Abschluss gebracht werden, was einst in anderen Zeiten begonnen wurde.«

Natürlich, das helle Licht, welches sie zuvor umgeben hatte, fehlte nun im Mutterleib. Doch dafür schaukelten sie die weichen Bewegungen des Wassers, in dem sie frei schwebte. Unendlich schien es sich um sie auszudehnen.

Allmählich bildet sich eine Ordnung mit klaren, fassbaren Strukturen heraus. Diese festen Formen sind nun für sie deutlich zu spüren. Ihre Arme und Beine stoßen auf entschiedenen Widerstand. Zu erkunden, was dies bedeutet, schenkt ihr eine völlig neue Erfahrung. Je mehr ihr Körper wächst, desto enger werden die Begrenzungen um sie, und immer fester verbindet sich die Seele mit dem Leib. Ein gleichmäßiges Pulsieren und Rauschen lässt sich vernehmen. Auch hört sie unterscheidbare Töne und Stimmen aus einer fernen Welt. Voller Interesse lauscht sie dem Geschehen.

»Ein schönes Kind, eine schöne Mutter«, spricht Dr. Christiansen, die Ärztin, mit einem Lächeln. Eine Weile schaut sie versonnen auf den sich rund wölbenden Bauch. Das Stethoskop, ein kleines, häufig gebrauchtes und entsprechend abgenutztes Hörrohr aus Buchenholz, hält sie in ihrer Hand. Soeben hat sie den Herztönen des Ungeborenen gelauscht, die sich regelmäßig und in schneller Abfolge vernehmen lassen. Sie ist erfahren und seit vielen Jahren begleitet sie Schwangere und ihre Kinder. Doch immer noch erfüllt sie der intime Augenblick mit großer Freude, wenn sie ihr Ohr an das Hörrohr legt und in Kontakt mit dem Kind im Bauch tritt. Meist schließt sie dann für einen Moment die Augen, um sich dem, was sie vernimmt, andächtig hinzugeben.

Hören berührt den Menschen auf vollkommen andere Weise als sehen. Die Ärztin weiß, es ist der erste Sinn, den der Embryo entwickelt und der ihn nun mit der ihn umgebenden Welt verbindet. Sie möchte sich auf der gleichen Ebene wie das Ungeborene befinden. Es scheint ihr, als öffne sie mit ihrem hölzernen Stethoskop ein kleines Fenster und das Kind begänne zu ihr zu sprechen: »Ich wachse, ich bin da, ich erzähle dir von mir. Mein kleines Herz schlägt schnell und Blut durchströmt meinen Körper. Hörst du mich? Was ich erlebe, ist fern und nah zugleich. Ich möchte es verstehen! Meist fühle ich mich geborgen. Dann lebe ich in Harmonie als Teil eines großen Ganzen. Fast vergesse ich mich in solchen Augenblicken. Aber es existieren auch andere Momente. Es kann laut sein, unangenehm laut, oder es fehlt mir an Versorgung und ich bemerke, wie mein Körper sich verkrampft. Gefühle der Angst und die Vorstellung von einer Trennung steigen dann in mir auf. Meist klingt diese Beunruhigung schnell wieder ab. Trotzdem, sie findet Zugang zu mir. Sie lässt mich die große Forderung erahnen, die an mich herantritt.«

Voller Faszination lauscht die Ärztin dem Pulsieren des Herzens, dem Rauschen des zirkulierenden Blutes, und blickt auf das, was sie in ihren inneren Bildern wahrnimmt. Vor ihrem geistigen Auge gewinnt das Kind Gestalt. In Gedanken spricht sie zu ihm. »Du bist beschützt, du bist sicher. Genieße deine Zeit im Bauch! Deine Mutter liebt dich, die Welt erwartet dich, denn du hast hier eine bedeutsame Aufgabe zu erfüllen! Du bist wichtig für uns!« Manchmal scheint es ihr, als antworte das Ungeborene auf ihre Gedanken, indem der Herzschlag sich leicht wandelt. Stets empfindet sie in solchen Augenblicken tiefe Liebe.

Nun wendet sie sich wieder der Mutter zu. »So viel Ruhe strahlen Sie aus! Es ist schön, dies zu sehen.«

Eine kurze Pause tritt ein.

»Es ist alles in bester Ordnung«, fährt sie dann in einem ein wenig formelleren Tonfall fort. »Das Kleine hat sich gut entwickelt.«

Dr. Christiansen betrachtet freundlich die Mutter.

»Was kann ich noch für Sie tun?«, fragt sie schließlich.

In der folgenden Unterhaltung kommt das Gespräch auf Frédérick Leboyer, den bedeutenden französischen Gynäkologen, den die Mutter auf einem Workshop kennenlernen möchte.

Die Ärztin schaut leicht versonnen, als sie diesen Namen hört.

»Leboyer, er richtet den Blick auf das Kind«, meint sie. »Dem Kind soll es gut gehen! Sein Wohl steht im Mittelpunkt. Was es erlebt während der Schwangerschaft und schließlich bei der Geburt, ist von so großer Bedeutung. Wenn es dem Kind gut geht, dann gilt das ebenso für die Mutter … und natürlich auch umgekehrt.«

Die Mutter nickt zustimmend. Gelassen sitzt sie auf ihrem Stuhl im Sprechzimmer.

»Jetzt kommt eine Zeit für Ihr Kind, in der es in der Gebärmutter enger wird. Ich kann den kleinen Körper gut durch die Bauchdecke spüren. Der erste Kontakt zu dem, was außen existiert, findet statt – vielleicht auch ein Impuls, diese noch unbekannte Welt zu erkunden.«

Wieder tritt eine kleine Pause ein.

»Möglicherweise beschäftigen Sie sich nun mehr mit der bevorstehenden Geburt oder es kommen Ihnen Erinnerungen an Ihre eigene. Genießen Sie solche Augenblicke!«

Dr. Christiansen wirft einen intensiven Blick auf die Mutter, bevor sie fortfährt.

»Sie strahlen eine solche Ruhe aus!«, wiederholt sie sich und spricht dann weiter. »Manchmal erzählen mir Schwangere, dass sie erleben – oft so wie Sie um den sechsten Monat –, dass die Außenwelt immer stärker in den Hintergrund tritt und sie mehr zu sich selbst kommen. Das ist gut so! Freuen Sie sich auf das Treffen mit Leboyer!«

Alexandra lebt voller Empfindungen, Wollen, Gefühle und Gedanken in ihrer Welt. Sie möchte sich mitteilen und wahrgenommen werden. Ihr Dasein ist beschützt im Bauch der Mutter und vollkommen verbunden mit dem, was sie in ihrem Inneren erlebt. Mutter und Tochter tauschen sich mit großer Intensität aus. Alexandra schaut voller Zuversicht auf sich und ihre Umwelt. Oft richten sich ihre Gedanken an ihre Eltern: »Mama, Papa, euch habe ich als Eltern gewählt. Mit euch möchte ich dieses irdische Leben verbringen! Ich liebe euch und ihr liebt mich. So vieles verbindet uns.«

Noch vernimmt die Mutter ganz unbewusst die Gedanken ihres Kindes. Sie bestimmen in vielem ihr Handeln, aber sie ahnt dies mehr, als dass sie davon weiß. Allerdings: Im Laufe des Zusammenlebens mit Alexandra werden die Eltern immer mehr lernen, ihre Tochter ohne Worte zu verstehen.

Jens, der Vater, hält sich an seinem Arbeitsplatz auf, während seine Frau, Sofía, die Ärztin besucht. Er freut sich auf sein Kind. Er sitzt vor seinem Rechner und bereitet eine Programmieraufgabe für die Ausbildung seiner erwachsenen Schüler vor. Doch heute fällt es ihm schwer, sich auf diese Tätigkeit zu konzentrieren. Seine Gedanken schweifen fortwährend ab. Er erinnert sich: Gemeinsam mit ihrer kleinen, fast dreijährigen Tochter, Patricia, im Buggy unternahmen sie einen Spaziergang. Er weiß nicht mehr, über was sie alles sprachen. Aber der Weg und die Landschaft um sie herum, als seine Frau ihm von ihrer Schwangerschaft berichtete, sind ihm noch vollkommen gegenwärtig. Sie waren auf einem unbefestigten, kaum drei Meter breiten Pfad unterwegs, der am Waldrand vorbeiführte. Es war ein warmer Samstag im Mai. Rechts von ihnen lagen Wiesen und Felder, links begannen sich die Berge hin zum Schwarzwald zu erheben. Kleine Täler führten zwischen gleichmäßig ansteigenden Hügelketten zu abgelegenen Bauernhöfen und Häusern. In dieser Gegend hatten sie früher, als sie noch in der Nähe wohnten, häufig kleinere Ausflüge unternommen. Zwischenzeitlich nennen sie ein größeres Appartement ihr Zuhause – auch am Stadtrand, aber in einer anderen Himmelsrichtung gelegen.

Vielleicht war der Umzug dorthin bereits von der Idee getragen, Platz für ein weiteres Kind zu haben.

»Ich bin schwanger«, sagte Sofía unvermittelt zu ihm.

Jens war überrascht, dies zu hören, und zugleich klang es selbstverständlich. Seit Längerem spürte er den Wunsch nach einem zweiten Kind. Er hatte auch mit Sofía des Öfteren hierüber gesprochen. Ihre Reaktion darauf war eher zurückhaltend gewesen. Daher schaute er sie ein wenig ungläubig an, nachdem er ihre Worte vernommen hatte. Doch seine Augen zeigten große Freude.

»Wirklich? Bist du sicher?«, fragte er zurück.

Sofía nickte und ein wenig Stolz lag in ihrem Blick.

»Das freut mich total! Wie schön.« Jens legte kurz seinen Arm um sie und gab ihr einen Kuss. »Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet«, fügte er nachdenklich hinzu.

Sofía hatte sich in eher kleinen Schritten mit der Idee eines weiteren Kindes angefreundet. Es war erfüllend, Mutter zu sein! Sie empfand darüber eine tiefe Gewissheit und Ruhe. Andererseits existierte in ihr gleichfalls das Verlangen nach Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Anerkennung jenseits ihrer Aufgabe als Mutter. Doch jetzt schien es ihr, als hätte das Kind selbst den Wunsch nach seiner Geburt geweckt. Sie konnte dieses Gefühl nicht in klare Gedanken oder gar Worte fassen. Allein sie spürte es.

Jens und Sofía unterhielten sich auf ihrem Spaziergang darüber, was nun auf sie zukommen mochte, wann die Geburt wohl stattfinden würde und welche Ärzte die Schwangerschaft begleiten sollten. Dies geschah in einer Stimmung erwartungsvoller Freude. Sie würden alles gut hinbekommen, da waren sie sich sicher.

Auf dem Weg zurück nach Hause gingen sie schweigsam und in Gedanken vertieft nebeneinander her. Patricia im Buggy summte zufrieden vor sich hin. Jens überlegte, wie sehr sich doch Ereignisse im Voraus ankündigen können. Wie eine sanfte Erinnerung aus der Zukunft hatte sich in den vergangenen Monaten die Vorstellung von einem weiteren Kind immer wieder in ihm gemeldet.

Nun sitzt er hier an seinem Schreibtisch und muss sich der Erstellung einer Programmieraufgabe widmen. Doch innerlich beschäftigt ihn anderes. Das Familienleben erfüllt ihn. Seine Tochter bringt er morgens mit dem Fahrrad zum Kindergarten, der gleich neben seiner Arbeitsstelle liegt. Mittags holt er sie wieder ab, um dann nach einer schnellen Mahlzeit sofort zurück zur Arbeit zu radeln. Am Wochenende ist die Familie meist gemeinsam unterwegs. Der Tagesablauf ist gut organisiert und alles bereit, den neuen Erdenbürger zu empfangen. Sofía und Jens sind zufrieden und ebenso ihre kleine Tochter. Ihre Eltern erzählen ihr oft von dem Baby, das bald geboren werden soll. Sie freut sich darauf. Sie kennt andere Kinder mit Geschwistern.

Patricia spürt die Anwesenheit ihrer Schwester, ohne dass ihr dies bewusst wird. Vollkommen selbstverständlich erlebt sie diesen Kontakt. Alles ist in guter Ordnung. Ihr kleines Geschwisterchen gehört zu ihrer Welt! Und Alexandra weiß gleichermaßen von ihr. »Du bist meine Schwester«, sprechen ihre Gedanken. »Schwestern müssen zusammenhalten.«

Es ist Sommerzeit. Wie jedes Jahr fährt die Familie in die Ferien. Sie haben einen zum Campingbus umgebauten Bulli gemietet, und in kurzen Tagesabschnitten geht es durch Frankreich bis in den Norden Spaniens. Ihr Weg führt zuerst nach Burgund. Hier finden sie abseits gelegene Campingplätze, eine Landschaft mit sanften grünen Hügeln, Bauernhöfe und beschauliche Dörfer. Patricia thront erhöht in ihrem Kindersitz, lässt sich von der Mutter Geschichten vorlesen, singt hin und wieder ein Lied und genießt die Zeit in dem fahrenden Zuhause. Das Dach des Bullis wird am Abend hochgeklappt. Dann öffnet sich eine bequeme Schlaffläche, und die verwandelt das Gefährt in ein richtiges Heim.

Alexandra ist stets anwesend. »Ich spreche zu euch«, wendet sie sich an die Familie. »Ich gehöre dazu! Ich freue mich so sehr, dabei zu sein. Ihr genießt die Schönheit dieser Erde. Ich möchte euch etwas fragen: Werdet ihr für mich da sein? Ich werde euch benötigen, eure Fürsorge und Liebe. Könnt ihr sie mir vollkommen geben – Schwester, Mutter, Vater?«

Ihre Eltern und ihre Schwester spüren diese Fragen, auch wenn ihr Verstand nichts darüber weiß. Ihr Herz gibt Alexandra Antwort.

»Werdet ihr wirklich für mich da sein?«, fragt Alexandra mit großer Dringlichkeit. Ein tiefes Verlangen nach Sicherheit bricht sich Bahn. Spräche sie diese Worte mit menschlicher Stimme, dann wäre ein leichtes Zittern zu vernehmen.

Über das Rhonetal bis zur Ardèche führt die Ferienreise. Einige Tage verbringt die Familie am Ufer des Flusses. Vater und Tochter erforschen auf ihre Weise diese Welt. Sie waten durch das Wasser zu trockenen Kiesbänken. Patricia sucht Kiesel, die ihr besonders gefallen. Sie übergibt sie ihrem Vater, und er zerbricht die Steine durch einen gezielten Schlag mit einem größeren. Eine bunte und faszinierende Schönheit zeigt sich im Inneren jedes zerbrochenen Kiesels. Für Patricia tut sich eine Zauberwelt auf. Von außen ist ja nur zu ahnen, was die graue, abgeschliffene Oberfläche verbergen mag, und plötzlich offenbart das Innere eine bunte Pracht. Grüne, braune, rote Farbtöne und weiße kristalline Schichten, zierliche Muster wie erstarrtes Werden, Fenster zur Herkunft und Abstammung eröffnen sich mit einem kräftigen Schlag. Ich bin und lasse mich doch nicht so leicht erkennen, scheint das Gestein zum Betrachter zu sprechen. Wie ein Gleichnis wirke ich auf euch und berichte davon, dass die äußere Erscheinung stets nur ein Abbild der Wirklichkeit sein kann, auch wenn ihr sie für die Realität haltet.

Patricia saugt dieses Erleben in sich auf und trägt einen Stein nach dem anderen herbei. Als ihre Neugier zufriedengestellt ist, verlangt sie energisch, dass der Vater sie an beiden Händen festhält, während sie sich in die Strömung des Wassers legt. Voller Vertrauen spürt sie seinen festen Griff an ihren Handgelenken und die mächtige Kraft des Wassers, das sie fortziehen möchte. Doch ihr Vater ist stärker.

Sofía sitzt oft im Schatten eines Baumes am Ufer und schaut auf den schnell vorbeiströmenden Fluss. Sie hat auf einem Felsen Platz genommen und taucht ab und an ihre nackten Füße in das Wasser. Meist streift eine kühle Brise, die ihren Weg das Tal hinab sucht, ihren Körper. Dann hängt sie ihren Gedanken nach und träumt.

Alexandra erlebt all dies auf ihre Weise. Sie nimmt nur ganz am Rande am Geschehen teil, welches aus der Ferne zu ihr dringt. Doch wenn ihre Mutter träumt, dann reist sie mit ihr. In solchen Augenblicken ist sie ganz mit dem Sternenhimmel verbunden. Manchmal rufen sie allerdings Bewegungen oder Geräusche unsanft zurück in das irdische Sein.

Gerne spricht sie mit ihrer Mutter. »Mama, ich fühle mich dir nah und brauche dich. Aber ich bin auch ein eigenes Wesen.« Dann wartet sie, was ihre Mutter in ihren Gedanken antwortet. »Mein Kind, ich freue mich so sehr, dass du bei mir bist!«

Alexandra liebt es, mit ihrer Schwester in Kontakt zu sein. »Wir sind Zwillinge!«, wendet sie sich an sie. »Wir werden gemeinsam durch das Leben gehen.«

»Ich weiß«, antwortet ihr Patricia.

Ebenso sucht sie den Austausch mit ihrem Vater. »Ich benötige deine Unterstützung. Du sollst mir Halt in diesem Leben sein!«

Und ihr Vater erwidert ihr: »Ich bin für dich da!« Dann kann Alexandra wieder beruhigt ihren Blick auf die Sternenheimat richten.

Die Reise geht weiter ins Tal der Gardon mit der die Landschaft überragenden Pont du Gard, die in einem großen Bogen das Tal überspannt. Vor acht Jahren ist Jens mit einem Freund bereits einmal hier gewesen. Damals waren sie in luftiger Höhe, 50 Meter über dem Fluss, auf der nur gut einen Meter breiten Außenmauer der Wasserleitung über das Tal gegangen. Das würde er heute nicht wieder wagen. Zu sehr fühlt er sich in Verantwortung.

Der schöne Brückenbau, die weißen Felsen um das Flussbett, die grünen Hügel, all das hinterlässt einen Eindruck, als wollte sich das irdische Leben in seiner Schönheit und Größe unübersehbar zeigen. Die eigene Stellung in einer langen Abfolge von Generationen drängt sich geradezu dem Betrachter auf, wenn seine Gedanken sich damit befassen, wie dieses imposante Bauwerk entstanden ist und was sich alles in seinem Umfeld in vergangenen Jahrhunderten ereignet haben mag.

Bald darauf ist das Mittelmeer erreicht. In fortwährend anderer Erscheinung zeigt sich die Natur. Weit reicht der Blick zum Horizont der sich ausbreitenden Wasserfläche. Weißer Sand begrenzt das Blau von Himmel und Meer. Patricia badet im warmen Wasser, und mit Schaufel und Eimer formt sie den Sand. Die Eltern schauen von ihrem Platz unter einem Sonnensegel zu. Alexandra bedankt sich: »Auf dieser Reise lerne ich die Vielfalt der Erde kennen, denn eure Gefühle und Gedanken sind bei mir«, spricht sie. »Ich werde dies in meiner Erinnerung behalten!«

An Frankreichs Mittelmeerküste entlang geht es weiter in Richtung Spanien. Weite Bereiche des Landes sind nun verbaut. Die großen Hotelkomplexe, Feriensiedlungen und Appartementhäuser stören die Schönheit der Natur. Es ist kaum noch möglich, direkt zum Meer zu gelangen. Erst kurz vor der spanischen Grenze ändert sich dies und kleine Städte und Dörfer bestimmen nun das Landschaftsbild.

Die Reise geht weiter durch die Pyrenäen, sie übernachten an abgelegenen Orten in der Natur, entdecken kleine Bergbäche und Seen. Die hohen Gebirgsgipfel bilden einen grandiosen Rahmen für ein Gefühl der Geborgenheit.

Dann führt der Weg zurück. Es folgen lange Stunden auf der Autobahn. Gleichmäßig fährt der Bulli Kilometer um Kilometer. Patricia verbringt die Zeit geduldig mit Spielen, Erzählen und dem Lauschen der Geschichten, die ihr die Mutter vorliest. Mit ihrer Schwester im Bauch der Mutter teilt sie in Gedanken ihre Eindrücke: »Schau, liebe Schwester. So ist die Welt. Das ist deine Familie.«

Und Alexandra antwortet: »Ich weiß. Ich bin bei euch. Ich spreche mit euch – immerzu. Ihr hört mich auch. Aber ihr wisst dies nicht. Schwester: Ich möchte euch auch vieles zeigen. Es war mein Wunsch, mit euch diese Reise zu unternehmen. Unsere Eltern haben mich verstanden.«

Zahlreiche Gespräche finden auf diese Weise zwischen Alexandra, ihren Eltern und ihrer Schwester statt. Schließlich erreicht die Familie ihr Zuhause.

Alexandra wächst und der Bauch ihrer Mutter wird immer größer. Die Geburt rückt näher.

»Mama, du darfst dich nicht beugen. Ich helfe dir, dein Bauch ist groß und schwer.« Voller Anteilname und Liebe erlebt Patricia mit, wie es ihrer Mutter geht.

Zwei Wochen nach der Ferienreise findet die Begegnung mit Leboyer statt. Alexandra hört die Musik der indischen Sitar – Teil des Workshops des großen Geburtshelfers –, die sich mit dem Rauschen und Pulsieren in der Gebärmutter mischt. Sie fühlt sich gestärkt. »Ich gehöre dazu«, spricht sie. »Ich werde mit Liebe empfangen.« Gleichmäßig schlägt ihr Herz, während sie die Musik vernimmt.

Der Gesang ihrer Mutter versetzt Alexandras Körper in Schwingung, berührt tiefe Sehnsucht und trifft gleichfalls auf Furcht vor der Trennung sowie der Ungewissheit des Kommenden. Manchmal erscheint mir die irdische Aufgabe zu groß, und vielleicht gelingt sie mir nicht, denkt sie. Doch die Musik heilt!

Leboyer wendet sich an Sofía. Nachdenklich ist sein Blick, als er zu ihr spricht. »Es ist ein außergewöhnliches Kind, ein besonderes Wesen, das hier auf die Erde kommt … und eine besondere Mutter. Schauen Sie gleichfalls auf sich. Leben zu schenken ist wie selbst geboren zu werden, eine große Reise auch zur eigenen Herkunft. Erinnern Sie sich, wie Sie geboren wurden, an Ihre Gefühle und vielleicht auch Ängste. Sie haben es geschafft. Die Schwangerschaft ist eine Pilgerfahrt zu den Ursprüngen des Lebens.«

Leboyer denkt nach. »Ein Kind zu gebären bedeutet zu sterben und wiedergeboren zu werden. Die Reise zurück zu den eigenen Ursprüngen bereitet Sie darauf vor.« Seine Augen blicken in die Weite des Raums und er fährt fort. »Die Geburt eines Kindes ist etwas Heiliges, etwas Mysteriöses. Etwas, das wir nicht mit dem Verstand erfassen oder mit dem Willen steuern können. Etwas, das stärker ist als wir und auch Angst machen kann. Doch zugleich eine Geburt ist normal, natürlich, alltäglich, gesund. Bleiben Sie in Ihrem Vertrauen!«

Regelmäßig besucht Sofía von nun an die Sitarspielerin. Während Alexandra den Tönen lauscht, zieht die zurückliegende Zeit an ihr vorbei. Sie erinnert sich an den starken Wirbel, der sie erfasste und unbändig zur Erde zog. Seiner Kraft musste sie sich hingeben und dies wollte sie auch. Das Unwiderstehliche des Geschehens hat sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Mit der Ankunft auf der Erde trat etwas Endgültiges ein!

Es gibt Augenblicke, da meldet sich bei ihr ein Impuls, doch wieder zu ihrem Herkunftsort zurückkehren zu wollen. Der Himmel lockt! Auf Erden muss die eigene Existenz voller Beschwernis aufgebaut werden. Hier im Irdischen ist es notwendig, immerfort zu lernen. Über eine lange Zeit gilt es, einen Körper auszubilden und sich ganz mit diesem zu verbinden. Wie viel einfacher war alles in der Heimat. Dort ist, was ist! Die Gedanken sind, ohne darüber befinden zu müssen. Bei den Sternen existiert das Eine. Kein Gut und Böse wollen verstanden werden.

Eine große Sehnsucht nach Vollkommenheit lebt in Alexandra. Doch nicht allein mit dieser steht sie in Kontakt, sondern gleichfalls mit dem Wunsch nach Entwicklung. Es ist nicht die Last des noch Unerfüllten, die sie zur Erde zieht. Nein, Alexandra ist bewegt von dem Streben zu erkennen, zu verstehen und vorwärtszuschreiten und gleichfalls auszugleichen, was unversöhnlich die Menschen trennt. Dies ist die große Macht, die sie zur Erde zwingt.

Schon lange vor der Zeugung ihres Körpers war sie geistig auf der Erde anwesend gewesen, sie hatte sich bei ihrer Mutter aufgehalten, ihren Vater begleitet und ihre Schwester besucht. Doch diese Anwesenheit geschah noch ohne die Unabänderlichkeit, mit der der Wirbel sie dann in die irdische Existenz zwang. Da war sie noch frei von Last und verlangender Pflicht gewesen. Es existierte in diesen Momenten, als sie sich in großer Unabhängigkeit bei ihrer Familie aufhielt, kein Zweifel, dass sie geboren werden wollte. Hingabe soll ihr zukünftiges Dasein bestimmen. Annehmen möchte sie ihr Leben. All das wusste sie in jenen Augenblicken!

Du starker Mensch

Du, starker Mensch, bist tief verbunden

mit der Erde und wirst gefunden

von den Menschen, die dich rufen,

weil in vielen hohen Stufen

sie dich brauchen, um zu sein

im Leben frei für sich allein.

Ein Widerspruch liegt nicht darin,

dass Freiheit sucht in Bindung Sinn.

Wer du bist, hab du Vertrauen,

auf dich lässt sich das Leben bauen.

Schenk Halt den Menschen dieser Welt,

wer sich in Begegnung mit dir stellt,

soll auch erhalten, nach dem er trachtet,

die Freiheit stets die Bindung achtet.

Ruh du in dir,

dann sagen wir:

Die Einsamkeit ist nun vergangen,

zu neuem Leben wir gelangen.

Alexandra - die Geschichte eines ungewöhnlichen Lebens

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