Читать книгу Alexandra - die Geschichte eines ungewöhnlichen Lebens - Michael Wolfgang Geisler - Страница 9
ОглавлениеDie ersten Monate
Es ist Winter, draußen ist es kalt, doch in der Wohnung herrscht warme Geborgenheit. Alexandra gehört dazu! Wie selbstverständlich fühlt sich das an.
Die Eltern teilen sich ihre Aufgaben. Jens schläft nachts im Kinderzimmer bei Patricia, Alexandra bei Sofía im Ehebett. Sie ist ein verständiges Kind, trinkt gut, schläft nachts und tagsüber beteiligt sie sich zufrieden am Geschehen. Schaut man in ihre schönen Augen, dann scheint es, als begegne man großer Weisheit.
Vom ersten Lebenstag an muss Alexandra lernen. Es umgibt sie das Irdische, das immerfort wird und vergeht, das nie vollendet, nie vollkommen sein kann. Stets muss sich der Mensch, will er auf Erden leben, mit Tatsachen auseinandersetzen. Beständig ist er gefordert, sein Dasein zu bewältigen. Alexandra möchte all das, was sie jetzt erfährt, so schnell wie möglich verstehen: Wie funktioniert mein Körper, was höre ich, was fühle ich, was schmecke ich, was kann ich sehen? Ihr ganzes Sein ist darauf ausgerichtet, dies zu begreifen.
»Es ist eine unglaubliche Welt, der ich hier begegne«, spricht sie zu ihren Eltern. »Eine schöne Welt. Alles ist anders als dort, woher ich komme. Ich bin neugierig, was es noch zu entdecken gibt. Vater, Mutter, Schwester, ich kannte euch zuvor. Doch nun berühren wir uns, können uns hören und sehen. Das ist etwas Besonderes!« Alexandras Augen strahlen.
Die Weihnachtszeit steht bevor. Am Nachthimmel zeigt sich der Mond in voller Größe, während der kürzeste Tag des Jahres bereits vergangen ist. Von nun an wird das Licht der Sonne wieder länger scheinen.
Die Oma ist in den Tagen vor Weihnachten zu Besuch gekommen. Natürlich möchte sie Alexandra kennenlernen und freut sich ebenso, ihren Sohn, Patricia und Sofía zu sehen. Sie wird bald weiterfahren und die Feiertage bei der Familie ihrer Tochter, Jens älterer Schwester, verbringen, die ganz in der Nähe Urlaub im Schwarzwald macht.
Patricia liebt ihre Großmutter und es gibt derart vieles, was sie zusammen unternehmen können. Sofort nach der Ankunft der Oma besteht sie darauf, dass sie sich in den Hof begeben. Das kleine Mädchen zeigt, wie gut sie mit dem Dreirad fahren kann. Und die Oma lobt ihre Enkelin. In engen Kurven radelt Patricia, so schnell wie es geht, über den Asphalt, bremst dann abrupt vor der Oma, indem sie beide Füße gegen den Boden stemmt. Sie lacht, wenn ihre Großmutter erschrocken zurückweicht.
Aber natürlich wendet sich die Oma gleichfalls Alexandra zu. Sie nimmt das Neugeborene vorsichtig auf den Arm, betrachtet die dunklen Haare und die großen, tiefen Augen. Alexandra spürt die Zuwendung und Liebe. In Gedanken spricht sie: »Du bist meine Oma. Ich bin Teil dieser Familie. Schau auf deine Liebe, Oma!« Die Großmutter trägt Alexandra durch das Wohnzimmer und spricht mit ihr.
Am 24. Dezember steht der Weihnachtsbaum schön geschmückt im Wohnzimmer. Unter ihm liegen die Geschenke. Aus der Stereoanlage klingen leise Weihnachtslieder. Patricia ist aufgeregt. Die Lichter am Baum, die Geschenke und die Feierlichkeit des Augenblicks machen einen tiefen Eindruck auf sie.
Vor einigen Tagen hat sie zusammen mit ihren Eltern einen Urlaubsfilm angeschaut. Da rennt sie durch die engen Gassen einer kleinen Stadt in Südspanien. Neugierig und voller Faszination bleibt sie vor einem Straßenverkäufer stehen, der Luftballons, kleine Spielzeuge, Windräder und Ähnliches anbietet. Ihre Hand deutet auf all das Bunte. Ihr Blick geht zu den Eltern. Sie erhält eine Plastiktrompete, an der bunte Bänder befestigt sind, die mit jeder Bewegung in der Luft flattern. Voller Freude läuft sie weiter. Sie bläst auf ihrer Trompete.
Diese Welt ist schön und sie zu entdecken bereitet Freude. In Südspanien hat sie eine Puppe mit zum Strand genommen und mit den Füßen in das Wasser gehalten. Auf dem Film ist zu sehen, wie sie, ganz in dieses Spiel vertieft, von einer Welle überrascht und nass gespritzt wird. All das geschah für sie vor unendlich langer Zeit.
Heute an Heiligabend packt sie außer ihren Geschenken gleichfalls die ihrer Schwester aus. Die Begeisterung darüber, was für Alexandra bestimmt ist, ist ebenso groß wie bei den eigenen Weihnachtsgaben. Sie zeigt ihren Eltern alles und freut sich über deren bewundernde Bemerkungen. Morgen will sie ihre Freundin in der Nachbarwohnung besuchen. Bestimmt spielen sie mit ihren neuen Puppen. Darauf freut sie sich schon heute.
Es gibt am Weihnachtsabend auch ein festliches Essen. Sofía hat sich viel Arbeit damit gemacht. Doch für Patricia geht das in dem Trubel des Augenblicks unter. Sie ist voller Aufregung darüber, eine Schwester zu haben, mit der sie all ihr Erleben teilen kann. Wenn sie die Gaben für Alexandra auspackt, macht sie sich Gedanken, ob dies ein geeignetes Geschenk ist und erklärt ihr seine Bedeutung. »Schau mal Alexandra, das ist für dich«, erzählt sie ihrer Schwester. »Das ist eine Jacke zum Anziehen, damit du es warm hast!« Manchmal muss sie allerdings vorab die Eltern fragen. Sie hat Alexandra auch ein Bild gemalt. Auf diesem sind ihre Eltern, Alexandra und sie selbst zu sehen. Sie ist größer als die anderen. Ihre Schwester ist noch ganz klein.
In der Nacht schläft Patricia unruhig. Der Weihnachtsbaum, die Kerzenlichter, das bunte Geschenkpapier, ihre Eltern und natürlich Alexandra sind in ihren Träumen. Sie unterhält sich im Traum auch mit ihrer Schwester. »Schau, Alexandra, so ist diese Welt«, sagt sie. »Du erhältst viele in glitzernd buntes Papier eingewickelte Geschenke. Es gibt einen Weihnachtsbaum. Wenn du größer bist, spielen wir miteinander und ich erkläre dir alles. Dann hast du auch Freundinnen und bist in einer Kindergruppe so wie ich.« Dies und vieles andere erzählt sie ihrer Schwester. Sie spürt, dass Alexandra gleichfalls zu ihr spricht, in weisen Worten, denn noch ist sie ganz mit der Sternenwirklichkeit verbunden.
»Schwester«, sagt Alexandra. »Schön, dass du mir alles erklärst und von Weihnachten erzählst. Ich bin gerade erst geboren und noch nicht mit der Erde vertraut. Weihnachten ist ein besonderes Fest. Davon weiß ich bereits. Es ist ein Fest, das berichtet, dass das Leben auf der Erde und im Himmel zusammengehören. Nichts ist wirklich getrennt! Wenn der Mensch das eine, das immer ist, mit dem anderen, das stets wird und vergeht, verbinden möchte, dann muss er von beiden wissen. Wenn er von beiden Welten weiß, Schwester, dann verliert er sich nicht in der Bewertung von Gut und Böse. Dann ist die Welt, wie sie ist, richtig! Weihnachten erinnert daran. Weißt du, Schwester, du sollst groß werden und stark sein! Du bist du! Immer!« Diese Worte erreichen das kleine Mädchen als Bilder in ihrem Traum in der Nacht. »Der Mensch ist all das, was existiert«, fährt Alexandra fort und ihre Worte sind nun nicht allein an Patricia gerichtet. »Doch wie soll er dies verstehen? Im Himmel ist er es ohne Widersprüche. Fragen dazu ergeben sich nicht! Er muss nicht streben. Er muss nicht erkennen.
Das wahre Ich aller Menschen ist dasselbe, es ist das Ich der Welt. Kommt der Mensch auf die Erde, kann er ein Außen wahrnehmen, welches nicht zu ihm zu gehören scheint. Er bezeichnet das als etwas Fremdes.« Alexandra legt eine kleine Pause ein.
»Oft meinen die Menschen, es existiere nur, wovon sie wissen. Das muss für sie ja so sein. Tatsächlich erleben sie viel mehr, als sie bemerken. Wem ist schon bewusst, was er alles denkt? Wer ist in der Lage zu erfassen, was alles an Eindrücken und Einflüssen seine Gedanken gebildet hat? Doch am Ende zwingt das irdische Sein zur Erkenntnis der Wahrheit.«
Patricia weiß nichts von ihrem Traum, als sie aufwacht, und trotzdem hat sie ihn erlebt. Sie fühlt sich ein wenig erschöpft, als wäre sie die ganze Nacht unterwegs gewesen. Aber schnell legt sie die Müdigkeit ab. Immer noch ist sie aufgeregt über all das, was sich ereignet hat. Ihr Vater schläft über ihr im Stockbett. Gleich als sie wach ist, legt sie sich zu ihm, und sie erzählen einander Geschichten.
Am späten Vormittag besucht sie ihre Freundin aus der Nachbarwohnung. Ganz in ihr Tun versunken spielen sie mit ihren Puppen und berichten sich gegenseitig, was die Puppen erleben. Beide lieben es, in solchen Momenten in einer Weise zu sprechen, als ereignete sich tatsächlich all das, was sie sich in Gedanken ausmalen.
Am Nachmittag unternimmt Patricia mit ihrem Vater einen Spaziergang in die Umgebung. Kurz verweilen sie am Spielplatz in der Nähe, der neben einem Ententeich liegt. Kleine Eisschollen bedecken das Wasser. Die Enten kommen auf sie zugeschwommen, watscheln über das Gras und schnattern aufgeregt, als sie ihnen ein paar Brocken Brot zuwerfen. Patricia schaukelt und wippt, läuft zum Rondell und lässt sich anschieben. Dann freut sie sich, wieder nach Hause zu ihrer Mutter und Schwester zu kommen. Sie trinkt eine warme Milch mit Honig und isst ein Stück vom Kuchen, den die Oma mitgebracht hat.
Die Tage vergehen schnell und Silvester steht an. Die Familien mit Kindern aus dem Haus feiern um fünf Uhr, wenn es bereits dunkel ist, mit einem kleinen Silvesterfeuerwerk im Hof. Sofía und Jens wechseln sich dabei ab, Patricia vor die Tür zu begleiten. Alexandra ist noch zu klein, um mitzukommen. Mit Silvester endet das alte Jahr.
Am Abend sitzen die Eltern beieinander. Beide Kinder schlafen. Sie sehen, wie in der dunklen Nacht vereinzelt Feuerwerk kurz den Himmel erhellt und farbige Bilder vor den schwarzen Hintergrund malt. Sie hören ab und an lautes Böllern. Es ist ein kurzer Augenblick der Zweisamkeit. Der Beginn des neuen Jahres fällt auf einen Sonntag und was dieses bringen wird, liegt im Ungewissen.
Die Eltern warten nicht die Mitternachtsstunde ab, sondern gehen zuvor zu Bett. Als um zwölf Uhr der Himmel von Silvesterraketen erleuchtet wird und das laute Knallen durch die Fenster dringt, sind sie beide kurz wach. Die Mutter stillt Alexandra, die sich vom Lärm nicht stören lässt. Patricia schläft tief.
Kurz darauf fährt die Familie zu den Verwandten in den Schwarzwald. Patricia wird dort einige Tage verbringen. Sie freut sich. Als sie ankommen, tobt sie sofort mit ihren zwei Vettern herum. Hier oben in den Bergen können die Kinder im Schnee spielen und Schlitten fahren.
Sofía und Jens halten sich nur kurz an diesem Ferienort auf. Alexandra ist ja noch ganz klein. Sofía hält sie in einem Tragetuch an ihrem Körper. Dort bleibt sie versteckt und geborgen in der Wärme. Angesichts des Trubels mit Cousins, Tante, Onkel und Oma tritt Alexandra etwas im Hintergrund. Doch beim Abschied spricht sie in Gedanken zu ihrer großen Schwester. »Schwester, ich finde es wunderbar, dich spielen zu hören und deine Freude zu erleben. Ich liebe dich sehr! Mein Weg ist ein anderer. Trotzdem, wir gehören zusammen.«
Patricia genießt das Zusammensein mit der Großmutter, den Vettern, der Tante und ihrem Mann. Trotzdem kommt sie nach dieser Ferienzeit gern zu ihrer Familie zurück. Ein wenig fehlte ihr doch das Zuhause. Es ist eine kurze Fahrt durch eine verschneite Landschaft. Die Oma erzählt von der Zeit, als ihre Kinder – Jens und seine beiden Schwestern – noch klein waren, während sie den Wagen über die kurvigen Straßen steuert. So vergeht die Zeit wie im Flug und sie erreichen bald das elterliche Zuhause. Die Oma will noch ein paar Tage bleiben.
Gleich bei der Ankunft läuft Patricia ungestüm in die Wohnung. Sie ist ganz zappelig, und erst als sie vor Alexandra steht, die in ihrer Wiege liegt, kehrt Ruhe ein. Andächtig betrachtet sie ihre Schwester und diese scheint zu lächeln. »Alexandra, ich war mit der Oma weg. Jetzt bin ich wieder da«, sagt sie und erzählt einiges von dem, was sie erlebt hat. Alexandra hört zu. Dann kommt auch die Oma hinzu und wendet sich gleichfalls an ihre kleine Enkelin. Und diese antwortet in ihren Gedanken. »Oma, ich höre, was du mir von der Welt erzählst. Es existieren Schmerz, Trennung, Freude, Einsamkeit, Zusammengehörigkeit … Was bedeutet das in Wahrheit? Warum sind wir Menschen?« Nachdenklich steht die Oma neben Alexandra und sanft streicht ihre Hand über die dunklen Haare des Säuglings. Dann bringt sie ihr Gepäck ins Wohnzimmer. Am Abend kocht sie ein Essen für die ganze Familie.
Am nächsten Tag fühlt sich die Oma krank. Sie hat Fieber. Sofía meint zwar, sie solle sich bei ihnen in Ruhe auskurieren. Doch sie möchte zurück in ihr vertrautes Zuhause.
Zum Abschied wendet sie sich an Alexandra. »Du bist wirklich ein hübsches Mädchen«, sagt sie zu ihr. »Deine Haare, deine Haut, deine Augen sind so schön.«
Alexandra schaut aufmerksam zu ihrer Großmutter.
»Und du hast eine ganz, ganz liebe Schwester und sehr liebe Eltern, die gut auf dich aufpassen. Wir sehen uns bald wieder.«
Die Oma schaukelt Alexandra und ein wenig Traurigkeit erfasst ihr Herz.
»Weißt du, Oma«, antwortet ihr Alexandra in Gedanken, »ich komme von der Welt der Sterne, ich möchte mich immer daran erinnern. Du lebst hier auf dieser Erde. Ich weiß. Es ist wichtig, was hier geschieht. Doch ich möchte dir auch von der Wirklichkeit unserer Heimat berichten, weil die Menschen dadurch viel besser verstehen, was in ihrem irdischen Sein geschieht. Sie sind dann glücklicher, Oma, und ich möchte, dass du glücklich bist.« Alexandra schaut mit großen Augen. Ihre Oma streichelt ihr vorsichtig über den Kopf.
Jens und Patricia begleiten die Oma zum Parkplatz. Auf dem Weg dorthin sind die Gedanken der Großmutter bei ihrer neu geborenen Enkelin. Alexandra verwirrt sie ein wenig. Sie wirkt derart stark und entschlossen. Dieser kleine Mensch scheint etwas von ihr zu verlangen. Sie weiß nicht, ob sie dies erfüllen kann.
Lange nehmen sich Oma und ihre Enkelin zum Abschied in den Arm. »Du kommst bald wieder, Oma?«, fragt Patricia ihre Großmutter. Diese nickt zustimmend. Schließlich setzt sich die Oma auf den Fahrersitz ihres Autos und fährt los. Sie fühlt sich krank und spürt eine Bürde, die auf ihr zu lasten scheint. Bewusst kann sie allerdings nicht verstehen, was sie so beschäftigt. Vielleicht ahnt sie, dass noch schwierige Zeiten kommen werden.
Die Tage werden länger, die Sonne scheint häufiger und es ist wärmer. Alexandra unternimmt Ausflüge im Kinderwagen. Sie hat kräftig zugenommen, trinkt gerne und versucht ihre Fähigkeiten. Im Frühjahr kommt ihr Opa zu Besuch. Jedes Jahr führt ihn der Weg zur Familie seines Sohnes. Er bleibt nur einige Stunden, denn er möchte weiter nach Südtirol, wo er seit Langem seinen Urlaub verbringt. Er hat Geschenke mitgebracht und natürlich darf Patricia auch die für Alexandra auspacken. Das kleine Mädchen ist stolz, ihrem Opa ihre Schwester zeigen zu können. Sie nimmt den Opa bei der Hand und erklärt ihm alles, erzählt vom Kindergarten, ihren Freundinnen und was Alexandra schon gelernt hat. Der Opa hört geduldig zu. Er bemerkt sogleich, welch starken Willen Alexandra besitzt. Ihn erfasst eine leichte Unsicherheit. Seine neugeborene Enkelin wirkt derart reif. Nachdenklich macht er sich wieder auf seinen Weg. Er hat noch eine lange Fahrt vor sich.
Die Familie der Mutter wohnt in Mexiko. Über Briefe und Fotos ist sie am Geschehen in Deutschland beteiligt. Dass Alexandra an einem der höchsten religiösen Feiertage des Landes geboren wurde, den die Mexikaner mit unendlicher Leidenschaft und tiefer Gläubigkeit begehen, der Erscheinung der heiligen Jungfrau Maria von Guadalupe, wirft ein besonderes Licht auf dieses Kind. Die Basilika der Maria von Guadalupe ist das bedeutendste Heiligtum in Mexiko. Das Bild der Jungfrau in ihrem türkisfarbenen Umhang, von dessen wundersamer Herkunft die Legenden erzählen, half, die Menschen des alten Mexiko in ihrem Glauben zu versöhnen. Denn auch das göttliche Paar Ometecuhtli und Omecihuatl der aztekischen Götterwelt trug solch einen Poncho in Türkis. Ein Herrscher der Dualität, weiblich wie männlich, dem Polarstern zugehörig, ein allumfassender Gott wurde verehrt.
Die mexikanischen Verwandten kennen Patricia von Besuchen und haben sie in ihr Herz geschlossen. Sie möchten gerne mehr über Alexandra wissen. Immer wieder merken sie in ihrer Post an, wie besonders schön dieses Kind ist.
Alexandra ist jetzt über ein halbes Jahr alt. Sie versucht zu stehen und hält sich dabei geschickt an Stühlen oder Tischen fest. Sie entdeckt die Welt – im Buggy spazieren fahren, essen, lachen. Nun begibt sie sich in ihren ersten Urlaub. Es geht zum Lago Maggiore – eine Autofahrt von gut vier Stunden. Die Eltern haben eine Ferienwohnung gemietet.
Alexandra planscht mit ihrer Schwester in einem kleinen, aufblasbaren Schwimmbecken, das auf der Terrasse der Ferienwohnung aufgestellt wurde. »Wir sind wie Zwillinge«, spricht Alexandra. »Schwester, ich sehe das Bild von zwei Sternen, die sich umkreisen – zwei helle Sonnen im Dunkel des Alls. Die Bewegung der einen bezieht sich auf die der anderen und es existiert ein gemeinsamer Mittelpunkt, den sie umlaufen. So ist auch unsere Zusammengehörigkeit, Schwester!«
Patricia versteht ihre kleine Schwester – zwar nicht bewusst, aber sie erlebt es trotzdem. »Erzähl weiter«, antwortet sie in ihren Gedanken. »Berichte mir, was du siehst.«
Alexandra fährt fort: »Vor langer Zeit wurden im Süden Englands Zwillinge als Töchter reicher adeliger Gutsherren geboren. Man erzog sie wie Jungen – in großer Freiheit. Schon früh lernten sie zu reiten und gemeinsam erkundeten sie die Natur auf dem Rücken der Pferde. Stets bestand große Einigkeit zwischen ihnen, sie genügten und sie unterstützten sich. Miteinander zu sein schien ihnen, als hätten sie eine Form der Vollkommenheit erreicht. Platz für Dritte gab es in dieser Beziehung nicht.
Indes als sie älter geworden waren, da gehörte es zu den Pflichten ihres Standes zu heiraten. Aus diesem gesellschaftlichen Zwang gab es für sie kein Entrinnen. Die Heirat trennte sie, und auf ihr Leben legte sich ein dunkler Schatten.
Doch auch dieses Unglück fand ein Ende. Als sie beide älter waren, bereits selbst fast erwachsene Kinder hatten, sorgten sie gemeinsam für Arme und Bedürftige. Sie richteten Häuser ein, in denen den Menschen in Not mit Nahrung, Wohnung und medizinischer Versorgung geholfen wurde. Die Armen nannten ihre Namen voller Hochachtung. Die Schwestern fanden ihren Lebenssinn.«
Patricia hält ihre Schwester fest in den Armen, während sie sich beide in der geistigen Welt austauschen. Aneinandergeschmiegt sitzen sie im warmen Wasser des Planschbeckens, neben ihnen am Rand hält die Mutter die Hand von Alexandra.
»Was bedeutet das?«, melden sich die Gedanken der Älteren. »Warum mussten sich die Zwillinge trennen? Das zu hören macht mich unendlich traurig. Es fühlt sich wie ein riesiger Verlust an.« Weiterhin sitzen sie an die Umrandung des Beckens gelehnt in der Sonne.
»Weißt du, Schwester«, spricht Alexandra. »Es geht darum, trotz der äußeren Trennung glücklich zu sein; zu lernen, dass man auch dann miteinander verbunden bleibt!«
»Du meinst, das muss ich lernen? … Das ist schwer, kleine Schwester, das ist unbeschreiblich schwer!«
»Hab keine Angst, du kannst das. Du wächst und ... es wird nicht leicht, aber es wird gelingen. Dann bist du ganz bei dir und trotzdem gehören wir zusammen!«
»Und du, Schwester? Was ist mit dir? Du sprichst, als wolltest du mich verlassen.«
»Nein. Ich verlasse dich nicht, auch wenn es so scheinen mag. Hab Vertrauen, hab keine Angst! Es kann sein, dass du es mal so empfinden wirst, als wären wir getrennt. Aber das ist nicht wahr. Wir sind immer zusammen! Dennoch geht jede von uns ihren Weg!«
Jetzt plantscht Alexandra laut mit beiden Händen in das Wasser und lacht dabei. Ihre Schwester drückt sie noch enger an sich. Sie spürt zugleich Freude und Schmerz. Doch nach einer Weile lacht auch sie.
An einem Tag unternimmt die Familie einen Ausflug mit dem Schiff. Neugierig schaut Alexandra über das blaue Wasser. Sie spürt die Schönheit dieser Welt. »Mama, es erinnert mich an die Zeit in deinem Bauch. Nur scheint jetzt die Sonne hell. Doch auch in deinem Bauch gab es Licht für mich. Ich war zugleich bei meinen Sternen. Wenn die Seele sich in Verbindung mit der Erde begibt, dann hält sie sich auch bei den Gestirnen auf. Mama, ich weiß, du verstehst gut, was ich sage. Ich kenne deine Träume, die dich in die Weite des Alls führen. Wie oft haben wir während der Schwangerschaft gemeinsam solche Reisen unternommen. Ganz tief in deinem Innern weißt du davon.«
Sofia hält Alexandra fest auf ihrem Schoß. Sie schaut in ihre Welt versunken auf die Oberfläche des Sees, wie sie an ihnen vorbeizieht. Ein leichter Fahrtwind streicht durch ihr Haar. In Gedanken antwortet sie ihrer Tochter. »Mein schönes Kind. Ich liebe die Sterne. Die irdische Wirklichkeit ist mir oft fremd. Sie kann schön sein so wie jetzt, ich weiß. Aber es existieren auch Augenblicke, da verlangt sie zu viel, ist sie zu hart … Seit du bei mir bist, reisen wir zusammen in die Ferne.« Sofia ist sich nicht bewusst, was sie erlebt und kennt ihre Gedanken nicht, während sie leicht an die Reling des Schiffes angelehnt auf das Wasser schaut. Der äußere Betrachter würde meinen, dass sie Tagträumen nachhängt.
»Mama«, spricht Alexandra. »Es existiert auch noch eine Wirklichkeit jenseits der Sterne, jenseits des Himmels, jenseits aller Vorstellung. Denn der Himmel ist für die Seele eine Entsprechung der Erde. Auch heute noch bin ich ebenso im Himmel wie auf Erden. Doch unsere wahre Herkunft befindet sich jenseits der Orte, der Zeiten und Dinge. Dort ist alles und alles ist das Eine.«
Die Mutter träumt und spürt die Gleichzeitigkeit allen Seins. Doch dann durchläuft sie ein kurzer Angstschauer.
»Tochter«, spricht sie. »Ich fürchte mich vor dem Abschied!«
»Die Trennung ist nur Schein. Als Schein schmerzt sie, ich weiß«, antwortet ihr Alexandra.
Einige Stunden verbringt die Familie auf dem Schiff. An vielen Anlegestellen kommen sie vorbei. An einer gehen sie an Land, spazieren am Ufer entlang, ruhen auf einer Bank mit Blick auf den See und die Berge. Die weißen Segel der Boote sehen sie über das Wasser fliegen. Am späten Nachmittag kehren sie in ihre Wohnung zurück. Sofia bereitet ein kleines Abendessen.
Oft unternimmt Jens früh am Morgen, bevor die Sonne die Luft zu stark erwärmt, einen Spaziergang mit Alexandra. Im Laufe des Tages breitet sich meist eine schwüle Hitze aus, doch jetzt ist die Temperatur angenehm. Alexandra sitzt in ihrem Buggy und genießt es, über enge und oft steile Wege gefahren zu werden. Schweiß tropft vom Gesicht des Vaters, als er den Wagen zügig bergauf schiebt.
In ihren Gedanken entspinnt sich ein Dialog.
»Papa, sorgst du für mich?«, fragt Alexandra. »Wirst du für mich da sein, auch wenn es von dir viel verlangt?«
Jens vernimmt bewusst diese Fragen.
»Ja, ich bin dein Vater«, antwortet er. »Ich sorge für dich, ich bin für dich da – unter allen Umständen! Ich verspreche dir das.«
In diesem Augenblick wird zwischen Vater und Tochter ein Pakt geschlossen, der für alle Zukunft gelten soll!
Das tägliche Leben geht weiter. Als die Familie wieder zu Hause ist, beginnt eine entspannte Sommerzeit. Gemeinsam unternehmen sie Ausflüge in den Schwarzwald. Der Kindergarten hat noch Ferien. Jens muss noch nicht wieder arbeiten. Sie können die Tage miteinander verbringen.