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Sklaverei – eine sehr alte Schlange
Оглавление»Welche neue Form wird dieses alte Monster annehmen, in welcher neuen Haut wird diese alte Schlange daherkommen?« (Frederick Douglass, 1865).1
Der Mensch sei frei geboren, aber überall liege er in Ketten, sagte Jean-Jacques Rousseau im ersten Kapitel seines Gesellschaftsvertrags.2 Sklaverei, der Besitz von Menschen, ist heute weltweit verboten, aber es gibt sie immer noch als globales Phänomen, heute genauso wie durch die ganze Weltgeschichte hindurch.3 War ›der Mensch‹ je frei geboren?
Sklaverei bedeutet Gewalt von Menschen über den Körper anderer Menschen, es bedeutet in den allermeisten Fällen körperlichen Zwang zu schwersten und schmutzigsten Arbeiten oder zu Dienstleistungen sowie Mobilitätseinschränkung. Dazu kommen alle Formen und Folgen von Statusdegradierung, wie besonders der entwürdigende Kauf und Verkauf von Menschen. Einzelne der genannten Dimensionen, auch in Kombinationen, existieren weiterhin. Heute sind sie oft nicht mehr begründet mit der falschen, aber wirkungsvollen Theorie von eingefrorener ›äußerer‹ Statusdegradierung, d. h. Rassismus, sondern eher durch andere soziale oder ethnische Rangzuschreibungen. Sexuelle Verfügung ist sogar noch immer verbunden mit einem der Hauptmerkmale formeller Sklaverei – dem Kauf und Verkauf sowie der Kommodifizierung menschlicher Körper, oft im Rahmen irgendeiner Art illegaler Verschleppung oder Entführung. Aber Sklaverei bedeutet nicht nur sexualisierte Gewalt; auch die schlicht durch exzessive Gewalt erzwungene Arbeit für die jeweiligen Halter macht die Opfer zu Sklaven – heute ist das meist keinen Medienbericht mehr wert. Was hingegen nicht mehr existiert, ist die Legitimierung und Institutionalisierung durch formale Rechtssysteme sowie der Anspruch, ein einmal erworbenes Eigentum über das Mutterrecht (»Sklavenbauch gebiert Sklaven«) sozusagen legal zu verewigen. Aber selbst das gilt in Bezug auf Gebräuche weltweit nur bedingt.
Sklavenstatus und Sklaverei (oder besser: Sklavereien) sind offenbar ein nicht-evolutionäres Phänomen der Welt- und Globalgeschichte. Ich komme auf dieses fundamentale Problem noch mehrfach zurück. Hier gilt es zunächst festzuhalten, dass Sklaverei zwar in bestimmten Gesellschaften eine stärkere Einbindung in vorherrschende Wirtschaftssektoren (wie Hauswirtschaft, Bergbau oder Plantagen), Institutionalisierung und Verrechtlichung erfahren hat in Form von sogenannten »hegemonischen Sklavereien«, aber nicht-institutionalisiert oder in anderen Formen der Institutionalisierung in allen Gesellschaften bis heute existiert hat und weiterhin existiert. Sklavereien und unfreie Arbeit treiben eher, wie ein Motor aus menschlichen Körpern, die Dynamiken von Wirtschaft und Reichtum an. Es gibt insofern keine evolutionistische Epoche der »Sklavereigesellschaft«; es gibt nur Gesellschaften mit mehr oder weniger ausgeprägten, mehr oder weniger institutionalisierten Sklavereien. Oder eben mit Sklavereiplateaus, wie ich es in vorliegendem Buch vorschlage. Besagte Plateaus setzen in der Welt- und Globalgeschichte irgendwann einmal ein; sie hören aber nicht auf und existieren auch unterhalb oder neben den jeweils späteren Plateaus (mit Ausnahme des weiter unten behandelten dritten Sklavereiplateaus). Ich bin auch nicht ganz sicher, ob wir nicht besser immer im Plural von Sklavereien sprechen sollten. Bei den Gesellschaften mit stärker ausgeprägten Sklavereien handelt es sich, möglicherweise seit der Bronzezeit, aber einigermaßen sicher seit der Uruk-Zeit im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, jeweils um staatlich oder imperial organisierte Gesellschaften oder um solche, die sich gegen Expansionen wehren bzw. auf Raub und Menschenjagd spezialisiert sind (räuberische Gesellschaften oder militaristic slaving societies).4 Erst seit dem 14. Jahrhundert verbanden sich Sklavereien, zuerst in Weltregionen, die mehr und mehr als »Westen« bezeichnet wurden, mit Institutionen und Firmen, deren Gesamtheit seit 1900 als »Kapitalismus« bezeichnet wird (siehe das dritte Plateau unten).
Sklaverei ist nur scheinbar tot. Bei näherem Hinsehen wird schnell klar, dass die großen und klar erkennbaren Sklavereien sich zu illegalen, meist kleinen und getarnten Sklavereien gewandelt haben. In diesem Wechsel des Aggregatzustandes der Sklaverei von groß und fest zu eher flüssig und klein sowie oft opportunistisch liegt der Bruch, den ihre formalen Abschaffungen im »Westen« oder auf seinen Druck hin 1792–1970 weltweit langfristig bewirkt haben. Die große Mehrzahl anderer, sagen wir ›kleinerer‹, verdeckter und mobiler Sklavereien, existiert weiter oder entwickelte sich neu. Prozesse der Versklavung und Zwangssysteme haben, vor allem seit dem ambivalenten Prozess von Abolitionen und Abolitionsdiskursen, zwar einen anderen historischen Aggregatzustand angenommen. Alle Sklavereien sind heute, wie bereits gesagt, illegal, aber es gibt mehr Versklavte als je zuvor in der Geschichte (zumindest was die geschätzten, bekannten und absoluten Zahlen betrifft).
Um das Rätsel der sich immer wieder häutenden Schlange Sklaverei zu lösen, will ich zunächst auf der Ebene von Welt- und Globalgeschichte Definitionen von Sklaverei darstellen und analysieren. Danach folgen, in einer sehr weiten historischen Perspektive, die Plateaus oder Stratifikationen von Sklaverei auf diesem Globus. Im Grunde ist dies ein anthropologisch-historischer Versuch, die genannten Aggregatzustände von Sklavereien in chronologische Schichten zu ordnen. Es wäre auch eine räumliche Ordnung von Sklavereitypen möglich, dann würden sich aber zu viele chronologische Sequenzen innerhalb einzelner Räume wiederholen. Die übergreifende räumliche Ordnung ist an Ozeanen und Hemisphären ausgerichtet.
Für mich gibt es eine relativ simple Zäsur zwischen Welt- und Globalgeschichte – ohne dass ich damit sagen will, dass bestimmte Imperien, Staaten, Kulturen oder gar Individuen nicht auch heute noch Weltgeschichte schreiben, dafür sorgt schon die sogenannte New Imperial History (die natürlich von britischen Historikern lanciert worden ist). Die Zäsur ist 1522. In diesem Jahr kehrte eines der Schiffe, mit denen Fernão de Magalhães, spanisch Fernando de Magallanes (dt. Magellan), 1519 aus Sanlucar bei Sevilla aufgebrochen war, nach fast genau drei Jahren im September 1522 nach Spanien zurück. Das Schiff hatte den Erdball umrundet. Damit war der Beweis für die Theorie des Globus erbracht. Im 16. Jahrhundert beginnt Weltgeschichte, die den Globus umfasst – reale Globalgeschichte. Und es entsteht der enge historische Zusammenhang von europäischem Kolonialismus, Massensklavereien, Imperien und Kapitalismus, verbunden und vorangetrieben durch neues Wissen, die Massenproduktion (von Nahrungs- und Genussmitteln wie Zucker, Kakao, Kaffee, Tabak, Drogen, Opium, Farben, Gewürzen, Kautschuk, Trockenfrüchten), Technologien (wie dem Schiffbau und Transport) sowie Transkulturationen. Seit die Spanier 1565 Manila auf Luzón gegründet hatten, waren alle vier großen, bis dahin in Europa bekannten Landmassen (Amerika, Asien, Afrika und Europa) durch Segelschiffe verbunden. Auf all diesen Kontinenten existierten lokale und indigene Formen von Sklaverei. Damit begann die globale Phase der Weltgeschichte, die bis heute anhält. Nur Australien wurde erst durch britische Sträflingstransporte Ende des 18. Jahrhunderts einbezogen. Das sind Fixpunkte der wirklichen Globalisierung, natürlich nicht des ideellen Raumsphären- und Globendenkens (da sei Peter Sloterdijk vor).
Die Weltgeschichte vor und nach dem 16. Jahrhundert sowie die Globalgeschichte seit dem 16. Jahrhundert sind durch Sklavereien geprägt, oft unter dem Dach von Imperien oder räuberischer Regimes bzw. militaristischer Menschenjagdgesellschaften. Meist aber, und das dürfte für viele neu sein, verbirgt sich Sklaverei in der Tiefe der Geschichte in Häusern und Gebäuden, d. h. die sogenannte Haussklaverei konnte und kann auch in Tempeln, Jurten, Hausbooten, Zelten oder Palästen stattfinden.
Was war Sklaverei? Zunächst sollten wir uns darüber klar sein, dass das deutsche Wort ›Sklaverei‹ für eine Institution steht, ein bereits existierendes Gewaltsystem, das in einer Gemeinschaft mit herausragenden Anführern oder einer Gesellschaft mit Staatsstrukturen (sozialen Hierarchien, Herrschaft, Armee, Recht, Bevölkerung, Territorium) durch Rechtsregeln und Gewohnheit der Mitglieder der Gesellschaft abgesichert ist, meist sogar durch Religion. Wenn also nach Sklaverei als Institution gefragt wird, ist die antike Sklaverei im römischen Imperium und Sklaverei in der Tradition des »römischen« Rechts wahrscheinlich die am besten definierbare Sklaverei der Welt- und Globalgeschichte. Auf jeden Fall aber ist sie die am häufigsten in der Geschichtsschreibung dargestellte Sklaverei. Sklaverei als voll entwickeltes soziales System bedeutet aber mehr – sie besteht mindestens aus den sozialen Elementen Versklavte (die absolute Mehrheit), Sklavenhalter, ›Sklavenproduzenten‹ und -jäger sowie Sklavenhändlern und ihren jeweiligen Hilfskräften (Bewacher, Matrosen/Ruderer, Ärzte/Heiler, Köche, Übersetzer, Schreiber/Notare, Priester).
Um diese Elemente in der Breite der Globalgeschichte und der Tiefe der Weltgeschichte zu erforschen und darzustellen, reicht es nicht, die Rechtsregeln und -texte einer Institution in einer gegebenen Gesellschaft und deren geschichtliche Entwicklung und Rezeption anzuschauen. Sklaverei als Institution war und ist ein rechtlich erlaubtes System der Gewalt (coercion/violence), der Nutzung menschlicher Körper als Kapital und der Herrschaft einer Person über den Körper einer anderen Person, meist zum Zweck der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und/oder ihres Körpers.5 Die sehr lakonische Kurzform einer Definition des Verhältnisses von Gewalt und Kontrolle menschlicher Körper stammt von Peter Kolchin: »Born in violence, slavery survived by the lash«6. Das erfasst nachgerade paradigmatisch auch das Ubiquitäre und Alltägliche von Gewalt. »Ubiquitär« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Sklaverei und Gewalt immer und überall anzutreffen waren und auch heute noch zusammengehören.
Ich spreche lieber von Sklavereien, weil eine Sklaverei immer das innere Bild eben dieser gerade skizzierten »römischen« Sklaverei evoziert. Um die sprachliche Konstruktion von etwas Festgefügtem und Unveränderlichen zu vermeiden, bezeichne ich mit Joseph Miller »slaving als historischen Prozess«7. Im Kern geht es um die Verfügbarkeit der Körper von Menschen oder von Teilen der Körper von Menschen. Diskursiv umhüllt und repräsentiert waren diese verfügbaren Körper in der meisten Zeit, indem man ihnen niedrigste Ränge der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe (Verwandtengemeinschaft) zusprach oder sie sogar ganz ausschloss (Orlando Patterson nennt das social death).8 Das ist für die bisherigen, eher rechts- oder wirtschaftshistorisch ausgelegten Geschichten der Sklaverei eine völlig neue Herangehensweise an Sklavereipraktiken.
Sklavereien und, mehr noch, slaving als Strategie hat es in der Welt- und Globalgeschichte bei allen Clans, Völkern, Stämmen und Gruppen gegeben, vor allem um und in Feuer- und Wohnstätten, Siedlungen, Häusern, Tempeln sowie Palästen. Die frühen Sklavereien existierten lokal und weltgeschichtlich zugleich in dem Sinne, dass es sie überall in der Welt gegeben hat, sie aber nur in ihren lokalen Sinnzusammenhängen zu verstehen sind und keine Verbindungen miteinander aufwiesen, also beispielsweise kein Sklavenaustausch stattfand. Bis zu den großen Wissensrevolutionen der Neuzeit, die mit dem Beweis der Globalität zusammenhingen, waren Sklavereien selten global in dem Sinne, dass Versklaver oder gar Versklavte gewusst hätten, dass sie auf dem Erdglobus operieren; oder dass es übergreifenden Sklaventransport und -austauschstrukturen gegeben hätte. Lokale Gruppen fanden es die meiste Zeit der Weltgeschichte auch völlig legitim, Mitglieder anderer Gruppen (›Fremde‹) zu töten oder zu versklaven.
Die extrem lokale Fokussierung erweiterte sich – mit Vorläufern in anderen expansiven Imperien (wie Assyrien, Rom oder China) – vor allem seit der arabisch-berberischen Expansion, der mongolischen Expansion im 13. Jahrhundert und seit der europäischen Atlantikexpansion im 15. und 16. Jahrhundert. Die im 16. Jahrhundert einsetzenden Transporte von Massen Versklavter auf iberischen Schiffen über den Atlantik von Afrika nach Amerika haben sogar entscheidend zur Erkenntnis dieser Globalität beigetragen: Die erste Süd-Süd-Globalisierung, wenn ich das in modernen Begriffen ausdrücke, fand zwischen Afrika (sowie bald auch Asien über Manila und Macau) und Amerika statt.
Als Hypothese datiere ich die Anfänge von lokalen, aber weltweiten Sklavereien wegen ihrer Bedeutung für Arbeiten, Dienstleistungen, Viehhüten und Vorratshaltung auf die Anfänge der Landwirtschaft. Diese begann vor rund 10 000 bis 3000 Jahren in voneinander unabhängigen Gebieten – im Vorderen Orient, in der Ost-Sahara, in China, im Industal, in Neu-Guinea, Peru und Mittelamerika. Diese Sklavereien differenzierten sich auch chronologisch und breiteten sich von den Entstehungszentren in unterschiedlichen chronologisch-räumlichen Dynamiken aus (u. a. nach Europa). Es könnte angenommen werden, dass es günstige Gelegenheiten zur Haltung erster ›Sklavinnen ohne Institution‹ schon in der Zeit der Cro-Magnon-Menschen (Jungpaläolithikum), besonders in der Phase des Magdaléniens (um 18 000–10 700 v. Chr.) mit seinen Feuerstätten, Lagerplätzen und ersten Siedlungen gab. Damals taten sich einerseits erfolgreiche Jäger als dominante Persönlichkeiten und sozusagen erste Eliten (volkstümlich große Männer, big men, genannt; später auch Häuptlinge, Priester usw.) hervor. Andererseits waren Brennstoffbeschaffung, Abfallbeseitigung, Verletztenpflege sowie andere »schmutzige« und geringer geachtete Nebenarbeiten zu erledigen (knüpfen, flechten, Seile drehen, Felle schaben – sogenannte »geringe Arbeiten«, d. h., gering geschätzte menial works). Möglicherweise hatten auch Frauen als Heilerinnen und Spezialistinnen für Beobachtung und Übersinnliches eine besondere Stellung, sodass neue Mitglieder von Gruppen (meist Frauen und Waisen) entweder unter deren Kontrolle oder die von »großen Männern« kamen. Eventuell existierte eine eher opportunistische Art der Sklaverei schon in den präneolithischen Opferritualen, die es 400 Generationen lang geben sollte. Auf jeden Fall sollten Opfersklaverei und Menschenopfer sowie Anthropophagie und Rituale mit lebenden oder toten Körpern bedacht werden, wenn es um die Entstehung von ›Zivilisation‹ (Ackerbau; städtische Siedlungen), Religion, Landbesitz, Kontrolle von Sexualität, Herkunftsbewusstsein sowie die Legitimierung von Eigentum (Ahnen) und die Herrschaft von Priestern ging.
Wichtig für eine Globalgeschichte der Sklaverei ist, dass die ›kleinen‹ Sklavereien des ersten Plateaus bis in die Gegenwart reichen und von den reinen Zahlen her gar nicht mehr so klein erscheinen. Es gibt noch heute viele Individuen, vor allem Frauen und Kinder, im Sklavenstatus: Laut einem Bericht der International Labour Organisation (ILO) von 2014 betrifft das weltweit 21 Millionen Menschen (eine konservative Schätzung), drei Viertel davon Frauen und Kinder. Ein ILO-Bericht für die Periode von 2002 bis 2011 hatte Zahlen von 19,5 bis 22,3 Millionen genannt, der Global Slavery Index zählt 45,8 Millionen Menschen als Sklaven – heute, jetzt. In absoluten Zahlen ist das die größte Menge an Versklavten in der Weltgeschichte, bei einer Weltbevölkerung von rund 7,5 Milliarden Menschen dennoch relativ wenig. Was es aber heute wirklich nicht mehr gibt, ich wiederhole das, sind große Wirtschaftskomplexe wie Plantagen- und Bergwerkssklavereien in Gesellschaften, die auf Sklaverei beruhen, also die sogenannten Sklavereigesellschaften. Alle Sklaverei ist heute illegal, aber trotzdem »da«.
Damit ist auch gesagt: Wenn das Thema dieses Buches die Welt- und Globalgeschichte der Sklaverei ist, kann es sich nicht nur um die mehr oder weniger ›bekannten‹ und in legislativen Texten relativ trennscharf definierten Sklavereien der Antike, Roms oder um die Sklaverei im Süden der USA drehen. Von dazu forschenden Historikern höre ich am häufigsten Kritik an meiner allgemeinen Definition von Sklaverei als Verfügung über Körper auf der Basis von realer Gewalt gegen eben diese Körper und Statusminderungen, aber auch an der Definition von Sklaven als Kapital menschlicher Körper. Dabei geht es mir gar nicht um eine unbedarfte Überdehnung des Begriffes Sklaverei. Im Sinne von slaving als historischer Strategie beabsichtige ich, Welt- und Globalgeschichte eben nicht aus der Perspektive von »Freiheit« als normativer Kategorie zu interpretieren. Es geht vielmehr darum, die tiefenhistorischen Prozesse der Versklavung, des Handels mit Menschen nachzuzeichnen und die jeweilige Stellung von Versklavten in der sozialen Ordnung unterschiedlichster Gesellschaften zu bestimmen. Es geht mir auch nicht einfach nur um Arbeit und Verkauf von Menschen, sondern um realgeschichtliche Verfügung über Körper. Eben diese verwischt die Trennschärfe legaler Definitionen.
Mit »weit« ist sowohl der gesamte Globus als auch die zeitliche Tiefe, d. h. von ungefähr 8000 v. Chr. an (oder gar 20 000–18 000 v. Chr.) gemeint. Ich beschränke mich nicht auf Griechenland von etwa 800 v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert, Rom vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis ins 6. Jahrhundert oder den Süden der USA von 1820 bis 1865. Ich nenne diese ›bekannten‹ Sklavereien, die mit relativ klaren Chronologien und Rechtsregeln verbunden waren, die uns noch heute eingängig erscheinen, weil sie auf die eine oder andere Art auch noch unsere Gesellschaften prägen (etwa durch das Eigentumsrecht oder die traditionell akzeptierte Spaltung in arm und reich), »hegemonische Sklavereien«.9 Aus der Perspektive dieser Sklavereien scheint es, als existiere nur »a single archetypal image of slavery«10, wie Andrea Major in ihrem Buch über Sklavereien, Abolitionen und das Empire in Britisch-Indien schreibt. Würde sich eine Menschheitsgeschichte der Sklaverei lediglich auf diese Sklavereien fixieren (wie es die meisten Geschichten der Sklaverei tun), wäre sie eben keine Welt- und Globalgeschichte. Eine Globalgeschichte dieses Zuschnittes muss zumindest den Anspruch erheben, das ganze Rund des Globus und eine große zeitliche Spanne der Weltgeschichte bis heute zu behandeln; eben als eine Art globaler Menschheitsgeschichte. Anders würden die Anfänge nicht in den Blick kommen. Es würde nicht deutlich werden, dass solche ›kleinen‹ Sklavereien informell heute noch existieren. Und räumlich gesehen würden weite Gebiete des Globus (indigene und vorkoloniale Amerikas / Karibik, Afrika, Mittelasien, Indien, China, Japan, Südostasien, Philippinen, Indonesien, Russland/Sibirien, Australien, Kanada, die Gebiete im und am Indischen Ozean sowie die Gebiete im und am Pazifik) im Dunkeln bleiben, nämlich fast die ganze Welt. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass eine solche Geschichte gerade für Historiker, die auf Quellen angewiesen sind, schwierig ist.
Niemand spricht gerne über Sklaverei. Da, wo es heute noch Sklavereien gibt, ist es sogar gefährlich, darüber zu sprechen. Oft wissen die wenigsten, dass Menschen in der Nachbarschaft eigentlich Sklavinnen, d. h. versklavte Menschen, sind. All das ist kompliziert und hängt mit der erwähnten Fokussierung auf die antike Sklaverei in »römischer« Rechtstradition zusammen. Es gab seit der Spätzeit des römischen Reiches im 6. Jahrhundert unter Kaiser Justinian (schon mit dem Zentrum Konstantinopel) eine relativ klare rechtliche Definition des »Sklaven« und der »Sklavin« sowie einer »Sklaverei«, fokussiert auf das Eigentumsrecht, aber auch auf das Zivil-, das Völker- und das Naturrecht sowie gewisse Rechtsrituale. Der Codex Justinianus (später: Corpus Iuris Civilis) war es auch, der zwei Grundtypen von Sklaverei definierte: zum einen »Privatsklaven« in der Rechtsfigur Herr/Sklave, d. h. »ein Herr, ein Sklave«, und zum anderen eine kollektive Sklaverei von Menschen, die an ein bestimmtes Besitzterritorium (gleba) gebunden sind (oder auf Territorien angesiedelt werden). Letztere können nur gemeinsam mit dem Territorium Besitz sein und Eigentumstransaktionen (wie Verkauf, Vererbung, Geschenk oder Tausch) unterworfen werden; das ist die rechtliche Konstruktion des glebae adscriptus (meist übersetzt mit »an die Scholle Gefesselter«) oder des Halbfreien. Der Codex Justinianus benutzte als Bezeichnung für Versklavte noch nicht den Begriff »Sklave«, sondern »römische« Namen wie etwa servus und ancilla oder colonatus – das Wort »Sklave« verdankt der »westliche« Kulturbereich erst der Transkulturation zwischen islamischen, christlichen und osteuropäischen Eliten während expansiver Imperien- und Staatsbildung.
Ganz genau weiß noch niemand, was die »Halbfreien« und an »die Scholle Gefesselten« sein sollen. Sie werden fast immer im Zusammenhang mit Sklavenkategorien debattiert, meist aber von »richtigen« Versklavten differenziert; ich interpretiere den Kolonat und die der Rechtsfigur der glebae adscripti Unterworfenen als Subjekte kollektiver Sklavereiformen, auch in Hinsicht auf andere Räume der Globalgeschichte – siehe regelrechte Sklavensiedlungen im alten Ägypten, bei germanischen Gruppen, deren Bewohner schon Tacitus an colonati erinnerten, oder Russland im zweiten Sklavereiplateau. Der wohl beste Kenner in Deutschland, Klaus-Peter Johne, beschreibt den Kolonat nach dem 3. Jahrhundert als »Alternative zur Wirtschaft mit Sklaven«11. Johne sagt weiter:
»Die Fesselung der Kolonen an den von ihnen bearbeiteten Boden steht am Ende eines langen Weges […]. Durch die Schollenpflichtigkeit der Arbeitskräfte ließen sich die Einnahmen der Grundherren sicherstellen und über diesen Umweg durch regelmäßige Steuereingänge die Staatsfinanzen zumindest in gewissem Umfange sanieren«.12
Zudem ließen sich in Krisenzeiten höherer Mobilität rurale Arbeitskräfte eben besser fixieren. Der Versuch der Stabilisierung eines
»durch Barbareneinfälle und Bürgerkriege zerrütteten Reiches bestand somit auf dem Agrarsektor in einem Arrangement zwischen dem militär-bürokratischen Staatsapparat auf der einen und der Aristokratie der großen Grundeigentümer auf der anderen Seite. Die Lasten dieses Arrangements hatten die kleinbäuerlichen Kolonen zu tragen […]. Die Gesetzessprache hat dafür den im Jahre 342 erstmals belegten Ausdruck colonatus geprägt«.13
Miroslava Mirković sagt, nachdem sie einen ganzen Artikel lang über Kolonen als »Nicht-Sklaven« argumentiert hat: »Es gibt aber Beispiele, die zeigen, daß die abhängigen coloni sich selbst, im Bewußtsein ihrer realen Lage und ökonomischen Abhängigkeit, als Sklaven des Landbesitzers bezeichneten«.14
Die Sklaven, die wir heute innerlich vor uns sehen – junge Männer aus Afrika, die in den Plantagenökonomien Amerikas schufteten –, entsprechen nicht so sehr dem »römischen« Bild der kollektiven Sklaverei, sondern der chromatisierten Rechtsfigur »ein Herr, ein Sklave«. Es hat diese Sklaven gegeben, zweifelsfrei, aber das Bild ist erst zwischen 1550 und 1700 entstanden und hat seine weite Verbreitung durch die europäische Expansion seit um 1650 sowie die Aufklärung und die Abolitionsdiskurse (seit 1770) gefunden.
Die Sklavereien, die westliche Seemächte auf dem Atlantik und in den Amerikas in der Neuzeit zwischen 1440 und 1888 organisierten, konnten auf diese »römische« Tradition der Rechtsdefinition der Sklaverei und des »Privatsklaven« als absolutes Eigentum in beiden Hauptdimensionen (totale Kontrolle und Weggabe/Verkauf an Fremde) zurückgreifen, eben in der Tradition des Corpus Iuris Civilis. Die wichtigsten rechtlichen Aspekte, die eher direkt als indirekt in der Tradition des »römischen Rechts« stehen, sind erstens die »Befugnis«, mit einem Menschen zu machen, was der »Halter« für richtig ansieht (bis hin zur Tötung), und zweitens, einen versklavten Menschen auch an Fremde wegzugeben, d. h., zu verkaufen und zu kaufen (die Rechtspapiere/Notariatsprotokolle sind immer aus Sicht des Verkäufers formuliert), woraus sich drittens die lebenslange Kondition der Versklavung sowie Ortfixierung (Mobilitätsbeschränkung) sowie viertens die Vererbung dieser Kondition in weiblicher Linie (mittels des Mutterrechts nach der Regel »Sklavenbauch gebiert Sklaven«) ergeben.
In vielen anderen Sklavereien gibt es aber diese römische Rechtstradition nicht, vor allem die formale Dimension der Veräußerung des Eigentums (»Weggabe an Fremde«) und die Dimension biologischer Weitergabe des Sklavenstatus (»Sklavenbauch gebiert Sklaven«) fehlen. Stattdessen existieren andere, in Europa weniger geläufige Formen – u. a. das Herausreißen aus einer Herkunftsgruppe, die Weggabe von Kindern der eigenen Gruppe oder auch die Ansiedlung oder Übernahme von bäuerlichen Bevölkerungen in kollektive Sklavereien oder expansive Imperien (Staat) als Arbeitstributsbeschaffer und Sklavenrazzienbetreiber (das Wort razzia/ghazzia: ›Überfall, Raubzug/Versklavung‹, stammt aus dem Arabischen). Das Kriterium der Verfügung über Körper von Menschen ist allemal wichtiger in Bezug auf die Definition individueller Sklavereien à la »ein Herr, ein Sklave«. Es gibt andere Aushandlungssituationen, doch sie sind alle von Gewalt und von kastenartigen Differenzierungen in Gute und Schlechte, Ehrbare und Entehrte, Eroberer und Eroberte oder Eigene und Fremde geprägt.
Deshalb kann man in einer Welt- und Globalgeschichte, wie ich sie verstehe, Sklaverei als Realität und Sklave oder Sklavin als Status nicht nur nach römischen Rechtsregeln definieren. Ob überhaupt Rechtsregeln einer Kultur (darauf bezieht sich meist das caveat hinsichtlich des Rechts), eines Staates oder eines Wirtschaftssystems, einer Zivilisation Sklavereien in der Realität ihrer Entwicklungen sowie in weltgeschichtlicher Tiefe und in globaler Breite erfassen und definieren können, lasse ich dahingestellt. Eine kategoriale Trennung ergibt nur Sinn in einem relativ engen zeitlichen und räumlichen Rahmen – Ausgangspunkt ist fast immer die neuzeitliche Plantagensklaverei (weltweit etwa 1500–1950), d. h. eine globale »hegemonische« Sklaverei meist unter Kontrolle von christlichen Europäern und ihren Nachkommen in europäischen Kolonien.
Neben dieser eher strukturellen Definition von Sklaverei gibt es, wie bereits erwähnt, auch eine prozessuale, die von dem jeweils unterstellten historischen ›Sinn‹ der Sklaverei ausgeht. Joseph Millers Begriff slaving beschreibt
»[…] eine Strategie, die Menschen [Versklaver und Sklavenhändler] in historischen Positionen der Marginalität seit jeher mit bedeutenden Konsequenzen für sich und andere um sie herum verfolgt haben, ohne Beachtung der Leiden, die diese Versklavungspraxis den Menschen, die sie versklavten, auferlegte«15.
Dem möchte ich die Verfügbarkeit von Körpern als Voraussetzung dieser Strategie und Hauptcharakteristikum von Sklavereien hinzufügen. Innerhalb dieser langfristigen Perspektivierung ist die kategorische Trennung etwa zwischen Sklaverei, Schuldknechtschaft (debt bondage) und anderen bondage-Formen, wie sie in englischsprachiger Forschung vorgenommen wird, kaum sinnvoll, vom Begriff ganz abgesehen – im Grunde sind damit Abhängigkeiten außerhalb der rechtlichen Scharfzeichnung »Herr und Sklave« im »römischen« Recht gemeint. Zudem geben sie sich bei näherem Hinsehen meist als Übergangsformen zu Sklavereien zu erkennen; da ist das Konzept der Schuldsklaverei (debt-slavery, James Warren16) allemal besser.
Mein eigenes Spezialgebiet umfasst die kubanische Sklaverei und Sklavereien in der Karibik sowie die Atlantic slavery (Sklavereien und Sklavenhandel) auf und am Atlantik. Zwischen 1830 und 1880 war Havanna die Zuckermetropole der Welt und im etwa gleichen Zeitraum auch die Metropole des Menschenschmuggels. Dieser Versuch einer Globalgeschichte steht in der Tradition des kubanischen Intellektuellen José Antonio Saco (1797–1879), der ein Rassist war, ganz ähnlich wie sein Vorläufer Francisco de Arango y Parreño (1765–1837), und sich zudem als Adam Smith der Plantagensklaverei und »guter« Sklavenhalter profilierte (weil er seinen Mitsklavenhaltern empfahl, die Versklavten gut zu behandeln).17 Den weitgespannten analytischen und weltgeschichtlichen Ansatz dieser Autoren nehme ich an; den funktionalen Rassismus verweigere ich, analysiere ihn aber als Hauptform der Statuszuschreibung für Versklavte und ihre Nachkommen. Saco publizierte eine der ersten umfassenden Weltgeschichten der Sklaverei auch außerhalb der »römischen Tradition«. Freilich schrieb Saco seine Geschichte aus ganz anderen Gründen – weil er Rassist war und die Sklaverei erhalten wollte. Ich dagegen tue es, weil ich meine, Sklaverei und Rassismus sollten, nach dem eher diskursiven Hiatus der liberalen Abolitionen, endlich wirklich beendet werden.
Kuba, vor allem die Cuba grande der technologisierten Plantagenwirtschaft im Westen der Insel, war die ›modernste‹ Sklaverei des 19. Jahrhunderts. Deshalb findet sich die globalhistorisch erste Visualisierung einer Sklavereiwirtschaft nach den Regeln der Modernität im Werk eines Akteurs der Sklaverei: Justo Canteros Los Ingenios – aus diesem Buch stammen noch heute fast alle ›authentischen‹ Illustrationen in Büchern über Plantagensklaverei.18
Die erste wirkliche Kulturgeschichte der Sklaven, nicht so sehr der Sklaverei, erwuchs aus reichlich dubiosen kriminalethnologischen Ansätzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Cesare Lombroso). Die erste ›postkoloniale‹ Geschichte einer Gesellschaft wiederum, die ihren welthistorischen Aufstieg Sklavinnen und Sklaven, Menschenhandel und der Sklaverei verdankt, die Ex-Sklaven allerdings mehr oder weniger alle als »Hexer« und Verbrecher verunglimpft, stammt aus der Feder von Fernando Ortiz (1881–1969), dem Schöpfer des heute wieder so wichtigen Konzepts der transculturación (Transkulturation).19
In einer Linie der verborgenen Transkulturation folgte ihm der Literat Miguel Barnet 1966 mit seinem weltweit erfolgreichen Prototypus der Testimonio-Literatur unter dem Titel Biografía de un Cimarrón (dt. Der Cimarrón). Darin spricht ein weißer Autor für einen Ex-Sklaven (span. cimarrón), eine Technik der realhistorischen Transkulturation, die es auch im 19. Jahrhundert schon gegeben hatte. Heute würde man das wahrscheinlich im Postkolonialismus als Mimikry-Subjektivierung bezeichnen.20 Barnets »authentische« Geschichte wurde geschrieben vor dem breiten Hintergrund der Arbeiten von José Luciano Franco, Pedro Deschamps Chapeaux und Juan Pérez de la Riva.21 Sie bezieht sich aber auch auf die wichtigste Struktur- und Sozialgeschichte einer konkreten Sklavereigesellschaft El Ingenio22 (im Grunde wird darin nur die Entstehung um 1790 bis etwa 1860 behandelt), deren erster Band 1964 von Manuel Moreno Fraginals (1920–2001) publiziert worden war. Moreno Fraginals gehörte einer der Schulen kubanischer Sklavereiforschung an, die im Unterschied zu Fernando Ortiz auf Strukturen und Demografie setzte. Diese Historiografie war vor allem verbunden mit dem Namen Ramiro Guerra y Sánchez, der auch das englisch-karibische und französisch-karibische Konzept der Sugar Revolution einbrachte. Sein Schüler war Raúl Cepero Bonilla; in gewisser Weise gehören auch die Sklavereihistoriografie sowie Wirtschaftsgeschichte Puerto Ricos und der Dominikanischen Republik dazu.23 Die ›große‹ Sklaverei hat längst auch eine substanzielle Sklavereigeschichtsschreibung hervorgebracht, die ›kleinen‹ Sklavereien hingegen nicht.
Weltsklavenhandel 1500–1900
Sollte nach Lektüre des vorliegenden Buches der Eindruck entstehen, es gebe »überall Sklaverei«, obwohl uns bisher immer erzählt wurde, mit »der« Abolition der Sklaverei sei alles in grauen Vorzeiten vorbei gewesen, so ist er nicht ganz falsch. Es war nicht »überall Sklaverei«, aber es gab viel mehr und viel länger unterschiedlichste Sklavereien, als wir glauben. Sklaverei ist Teil der Menschheitsgeschichte, und dies ist ein Buch, das sich auf Versklavte und Sklaverei konzentriert. Es zeigt, dass es viel mehr Versklavte gab, als wir uns möglicherweise vorstellen können oder wollen – und es gibt sie vor allem heute noch. Versklavte sind bis auf einige heutige Formen von »moderner« Sklaverei vor allem im »Westen« auch in der Weltgeschichte meist und klar ersichtlich von jedem und jeder erkennbar gewesen. Ein von Aristoteles inspirierter römischer Sklavenbesitzer würde bei einem Besuch (per Zeitmaschine natürlich) eines durchschnittlichen »westlichen« Gebiets wahrscheinlich uns alle für Sklaven halten – weil wir alle oder zumindest die übergroße Mehrheit für andere Menschen arbeiten.