Читать книгу Herzblut - Michaela Neumann - Страница 3
Eins
ОглавлениеLogan Reynolds wachte vom »Ping« des Anschnallzeichen auf – der Flieger war im Landeanflug. Man konnte die Anspannung der Passagiere spüren, wie bei jedem Start oder jeder Landung. Das unbehagliche Gefühl, ob alles glatt laufen wird. Logan hatte keine Probleme beim Fliegen. Sollte er je abstürzen, würde er beim Aufprall sowieso nichts spüren und sollte bei der Landung etwas schief gehen, könnte er sich voll und ganz auf das Sicherheitspersonal des Flughafens verlassen, dass sie ihren Job richtig machen würden.
Es ging nicht schief, der Pilot landete die Maschine sanft auf dem Rollfeld und fuhr zum Gate. Die erleichterten Passagiere drängten sich wie immer aus dem Flugzeug, wie Ameisen aus ihrem Bau. Logan ließ sich Zeit. Erst, als alle anderen an ihm vorbei waren, stand er auf, holte seine Tasche, die erstaunlich leicht für einen geplanten Aufenthalt von zwei Wochen war, aus dem Fach über seinem Sitz und zwang sich Richtung Ausstieg zu gehen. Die hübsche Stewardess im roten, engen Kleid, das nichts zum Fantasieren übrigließ, zwinkerte ihm zu und wünschte ihm einen angenehmen Aufenthalt. Normalerweise hätte er sie zu einem Drink in ihrem Hotel eingeladen und wäre im Verlauf des Abends für alles offen gewesen. Doch an diesem Tag ging es um etwas Anderes.
Sein Bruder wartete bereits mit einem breiten Grinsen am Gate auf ihn. Er winkte Logan zu, als er ihn entdeckte. Logan hatte seinen Bruder seit fünf Jahren nicht mehr gesehen und er war sich noch nicht sicher, ob es eine gute Idee war, ihn zu besuchen. Am liebsten wäre er im Flieger sitzen geblieben und wieder zurück nach Los Angeles geflogen, um sich seinem Job zu widmen und einen Mordfall aufzuklären. Diese Angelegenheit wäre wahrscheinlich angenehmer, als das, was ihm bevorstand. Logan hatte lange Abstand von seinem Bruder genommen, hatte aber dann doch ein schlechtes Gewissen bekommen.
Logan hatte seine letzte Chance verpasst, doch noch umzudrehen, denn James kam schon mit ausgebreiteten Armen auf ihn zugelaufen. Galant schlängelte er sich zwischen den Menschenmassen, die zum Kofferband marschierten, vorbei und blieb, kurz bevor er Logan erreicht hatte, vor ihm stehen. Er musterte ihn von oben bis unten und sagte mit einem ehrlich gemeinten Lächeln: »Gut siehst du aus, Bruder.« James schloss Logan in die Arme und drückte ihn fest an sich.
Obwohl Logan sich vor dem Antritt der Reise so dagegen gewehrt hatte hierher zu kommen, fühlte es sich gut an, seinen kleinen Bruder nach langer Zeit wieder in den Armen zu halten.
»Ich bin so froh, dich zu sehen, Mann«, sagte James und löste sich aus der Umarmung.
Logan nickte langsam und antwortete: »Dito.«
James nahm ihm seine Reisetasche ab und führte ihn in Richtung Parkhaus an Cafés vorbei. Logan hielt kurz inne und genoss den Geruch von frischen Plunderstücken und heißem Kaffee. Er entschloss sich einen Coffee to go zu bestellen. Mit dem angenehm warmen Becher in der Hand gingen sie weiter. Auf dem Weg dorthin begrüßte James gefühlte hundert Sicherheitsleute und stellte ihnen allen seinen Bruder aus Los Angeles vor. Sein kleiner Bruder war in Boston bekannt wie John Travolta in L A. Er hatte vor ungefähr drei Jahren einen psychopathischen Serienkiller hinter Gitter gebracht und wurde jetzt von allen gefeiert. Sogar vom Präsident höchstpersönlich. Logan würde mit dieser Aufmerksamkeit nie zurechtkommen. Er hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, deshalb zog er sich meistens zurück, sobald er einen großen Fall abschloss.
Ja, die Liste der Dinge, die er hasste, war eindeutig länger als die der Dinge, die er mochte. Das war schon in seiner Kindheit so gewesen. Deshalb versteifte er sich darauf, perfekte Leistungen in der Schule und in seiner Polizeiausbildung zu erbringen, anstatt sich Freunde zu machen. Seine Leistungen und ein paar alte Kontakte seines Vaters erbrachten ihm dann den langersehnten Job als Captain – als einer der Jüngsten die je zu einem Captain ernannt worden waren. Damals, angetrieben von dem Willen, Gerechtigkeit herrschen zu lassen, dachte er, er könnte etwas bewegen in dieser dreckigen Stadt und den grausamen Mord am damaligen Chief of Police des LAPD John Reynolds, seinem Vater, aufzuklären. Heute wusste er es besser. Das Lächerliche war, er hoffte immer noch, die Welt in ein gutes Licht rücken zu können.
James hingegen hatte das Glück, durch den Serienmörderfall die Karriereleiter sprichwörtlich hinauf zu fliegen. Logan gönnte seinem Bruder den Aufstieg zum Lieutenant, denn er wusste, dass er genauso hart arbeitete wie er selbst. Harte Arbeit lag in der Familie.
Als sie zum Auto schlenderten, musterte Logan seinen Bruder. Er war sportlicher geworden, muskulöser seit sie sich das letzte Mal gesehen hatte. Natürlich lag es im Auge des Betrachters, ob man schon fünf Jahre oder erst fünf Jahre. Logan betrachtete es aus der Schon-fünf-Jahre-Sicht und so musste er sich eingestehen, dass er den kleinen Bruder anders in Erinnerung hatte. Im Nachhinein konnte Logan sich über die Tatsache, dass James eine sanfte Persönlichkeit und ein Muttersöhnchen war, nur glücklich schätzen, denn so baute sich die enge Bindung zwischen ihm und seinen Vater John auf, der auf Logans Seite stand. Sie waren immer in den Park gegangen, wo ihm John beibrachte, wie man Baseball spielt, er lernte ihm, wie man Rad fährt und als Belohnung gab es Logans Lieblingsschokoladeneis. Aber er hatte ihn auch auf seine Zukunft vorbereitet, hatte ihm sein ganzes Wissen dargeboten, ihn mit auf das Revier mitgenommen, um ihn ein paar kleine Polizeiarbeiten machen zu lassen, wie Papierstapel sorgfältig alphabetisch abzuheften. John hatte immer gesagt, Polizeiarbeit sei nicht nur Verbrecher zu schnappen, sondern ebenso den lästigen Papierkram zu erledigen. Ihr Vater war noch von der alten Schule gewesen. Er drillte seine Jungs zu gutem Benehmen und Standhaftigkeit, wie er als Chief of Police es mit seinen Police Officer auch tat, vergaß aber nie, seine beiden Jungs in den Arm zu nehmen und bei Schularbeiten zu helfen. Logan hatte schon früh wichtige Taktiken aus der Polizeiarbeit gelernt und viel über das Verhalten von Menschen. James hatte sich immer zwischen das John-Logan-Gespann drängen wollen und John hatte es erlaubte – ganz zum Missfallen von Logan, denn er hatte seinen Vater für sich allein beansprucht, sein Bruder hatte schließlich ihre Mutter. Er wollte derjenige sein, der in die Police Academy ging und in die Fußstapfen seines Vaters stieg. Doch nach dem Tod ihres Vaters war alles anders gekommen. Beide hatten mit aller Macht den Fall ihres Vaters aufklären wollen. James hatte schon früher die Hoffnung als Logan verloren. Er war seiner großen Liebe nach Boston hinterher gezogen, ließ alles und jeden hinter sich und baute sich ein komplett neues Leben auf. Logan hatte nicht einfach neu starten können., er hatte seinen Vater, den einzigen Mensch, den er je geliebt hatte, nicht hinter sich lassen, nicht im Stich lassen können. Seine Lebensaufgabe war es, den brutalen Mord an seinem Vater aufzuklären. Doch sein Vater hatte ihn auch gelehrt, seine Familie nicht zu vernachlässigen und so war er nach Boston angekommen. Zu seiner Familie.
»Wie geht’s deiner Ex-Frau?«, fragte Logan.
»Sie wohnt jetzt in einem Trailer Park mit ihrem Hippie Lover und zieht sich Zeug rein, von dem wir wahrscheinlich noch nie etwas gehört haben.« James lachte.
Doch Logan konnte einen Unterton erhaschen, den er aber nicht so richtig deuten konnte.
Ein Jahr, nachdem James aus LA weggezogen war, ging seine Ehe mit seiner Traumfrau Kerry in die Brüche. Logan hatte es lediglich durch einen Bekannten erfahren, dass James immer mehr dem Alkohol verfiel und zunehmend den Boden unter den Füßen verlor. Soweit Logan wusste, war nur eine Kollegin von James für ihn da gewesen, hatte ihn wieder auf die richtige Bahn brachte.
Auch wenn sie wenig Kontakt gehabt hatten, hätte James den Verstand besitzen müssen, sich bei Logan melden. Er wäre sofort zu ihm nach Boston geflogen. Doch dazu war James vermutlich zu stolz und das nahm er James immer noch übel.
James zögerte mit seiner Frage, stellte sie aber dann doch: »Und wie läuft’s mit Mam?«
»Es hat sich nichts verändert. Du bist immer noch ihr Liebling und solltest sie mal wieder anrufen.« Logan zwinkerte ihm zu.
»Ich weiß.«
Sie stiegen in James` orangefarbenen 69er Chevy Camaro. James krempelte sich die Ärmel hoch und entblößte einen komplett tätowierten linken Arm.
»Wann hast du denn das machen lassen?«, fragte Logan erstaunt.
»Schon vor drei Jahren. Sieht toll aus, oder?«, antwortete James mit einem stolzen Lächeln.
»Steht dir.«
Nach dem kurzen Smalltalk vergiftete Schweigen die Luft, als würde Gas aus den Lüftungsschlitzen strömen, weil keiner der Beiden wusste, über welches Thema sie sprechen sollten. Die halbe Stunde zu James‘ Wohnung fühlte sich an, als wären es Tage. James Smartphone klingelte und löste die komische Stimmung im Wagen auf.
James drückte die Lautsprecher-Taste auf seinem Smartphone, welches in einer Halterung am Armaturenbrett angebracht war.
»Reynolds«, sagte er mit einer rauen Stimme. Doch kaum hatte der Anrufer seinen Namen und etwas von Fund gesagt, nahm James das Telefon in die Hand und schaltete die Freisprechanlage aus. Logan versuchte ein paar Worte zu erhaschen, aber James hatte sein Telefon fest ans Ohr gepresst. Seine Fingerknöchel liefen kalkweiß an, als würden die blanken Knochen aus der Haut stechen.
»Ich bin sofort da.«
James sah Logan einen kurzen Moment an, bevor er den Blick wieder starr auf die Straße richtete. Verwirrtheit und rasende Wut flackerte in seinen Augen auf.
»Alles in Ordnung?«
»Unser Familientreffen wird wohl anders, als wir uns das vorgestellt haben.«
Riskant wendete er an einer starkbefahrenen Kreuzung, welches mit lauten Hupen getadelt wurde und raste in Richtung Innenstadt.
*
Der Boston Public Garden erstrahlte in den zahlreichen Rot- und Brauntönen, die er im Herbst zu bieten hatte. Unter der dicken Blätterdecke am Boden konnte man die satten Rasenflächen nur erahnen. Die Vögel zwitscherten lautstark und suchten Nahrung unter Baumrinden. Im See spiegelten sich die großen Bäume und ließen die Szenerie wie ein Ölgemälde wirken. Manche Menschen würden Millionen für ein Bild wie dieses bezahlen, obwohl es doch viel eindrucksvoller war, es sich direkt in natura anzusehen. Eine laue Brise wehte um Logans Gesicht. Er beobachtete die verliebten Pärchen, die kichernd mit Schwanenbooten auf dem See tuckerten und die Grausamkeit der Realität, die nur wenige Meter von ihnen entfernt war. Logan zündete sich eine Zigarette an und schüttelte in Anbetracht der geliebten Naivität der Menschen den Kopf. Die Glut knisterte, als er einen langen Zug nahm. Er atmete den Rauch tief ein und ließ ihn ein paar Sekunden in seinen Lungen, bevor er ihn wieder ausstieß.
Er folgte James zu dem weit abgesperrten Tatort. Ein paar Beamte versuchten, den Schaulustigen die Sicht zu versperren und baten sie weiterzugehen. Die Routine der Polizei und dem forensischen Team trug eine seltsame Stille in sich. Sie funktionierten ohne Worte miteinander, wie ein Schweizer Uhrwerk. James wechselte ein paar Worte mit dem Beamten, der an der Absperrung stand und duckte sich dann unter dem Band hindurch. Der Beamte nickte Logan zu und ließ ihn ebenfalls die Absperrung passieren. Eigentlich hatte er an einem Tatort, welcher sich nicht in seinem Zuständigkeitsbereich befand, absolut nichts zu suchen, doch anscheinend hatte
James durch sein positives Ansehen einen Vertrauensbonus und konnte Entscheidungen treffen, die nicht erst von ganz oben abgesegnet werden mussten.
Logan folgte James zum Tatort und bemerkte, dass er seinen kleinen Bruder noch nie so erwachsen gesehen hatte, wie in diesem Moment.
Er sah eine junge nackte Frau, die mit angewinkelten Beinen an einen Baum gelehnt saß. Sie sah aus, als würde sie ein Buch lesen oder einfach nur die Natur genießen, wenn sie bekleidet gewesen wäre.
James kniete sich neben die Gerichtsmedizinerin, und betrachtete die Leiche.
»Logan, das ist Dr. Mathilda Murphy. Dr. Murphy, mein Bruder Logan Reynolds, Captain des LAPD, Abteilung Homicide.«
Sie richtete ihren Oberkörper auf und sah nach oben. Graue Ringellocken umrahmten ihre eher jugendlichen Gesichtszüge und ihre makellose schwarze Haut. Es war der harte Ausdruck in ihren Augen, der dem Gegenüber verriet, über welch große Erfahrung sie im Gebiet er Gerichtsmedizin hatte.
»Die Ähnlichkeit ist verblüffend«, stellte Dr. Murphy nach ausgiebiger Musterung Logans fest.
Das war mehr als sarkastisch, denn schließlich hatten sie überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander. Aber Logan hatte den Verdacht, dass sie etwas komplett Anderes andeutete.
»Die Freude ist ganz meinerseits.«
»Was haben wir?«, fragte James.
Sie schob ihre große Hornbrille auf die Nase.
»Unser Opfer ist weiblich, weiß, zwischen 20 und 25 Jahre, Todeszeitpunkt wahrscheinlich vor 14 bis 18 Stunden, da die Leichenstarre schon komplett eingesetzt hat und sich durch die Zersetzungsvorgänge noch nicht wieder gelöst hat. Sie wurde wahrscheinlich misshandelt und gefoltert, wenn man die Striemen und Blutergüsse an ihrem Körper betrachtet. Zudem hat sie eine Kopfverletzung und mehrere Einstichstellen am Hals. Todesursache ist vermutlich ein hypovolämischer Schock. Das bedeutet: Sie ist verblutet. Genaueres kann ich aber erst sagen, wenn ich sie auf meinem Tisch habe.«
Logan betrachtete die Leiche genauer. Der nackte Körper der Frau war mit klebrigem Blut verschmiert. Ihre Finger und Zehen waren eingekrallt und ihre Haut war so blass, dass man die blauen Adern hindurch scheinen sah. Die Fußsohlen waren voller Schrammen. Dunkle Blutergüsse und tiefe Schnitte zierten ihren schlanken Körper. An ihrem linken Unterarm waren tiefe Kratzspuren und ein großes Stück Fleisch war herausgebissen worden. Die Wunde war so tief, dass man Sehnen und Knochen erkennen konnte. Es sah aus, als hätte sich ein wildes Tier an ihr zu schaffen gemacht. Die Augen der Frau waren weit aufgerissen, die Angst in ihren großen Pupillen sprach Bände. Genau wie die verzerrten Gesichtszüge. Alles an ihr wirkte verkrampft.
»Unter den Fingernägeln, von denen sie nur noch drei hat, habe ich Blut und Reste von Haut gefunden. Nach dem DNA-Test kann ich sagen, ob es Fremdmaterial oder ihr eigenes ist. Und jetzt zum unerfreulichen Part.« Sie zögerte und wartete James‘ Reaktion ab. Als sie keine Veränderung feststellen konnte, holte sie tief Luft. »An ihrem rechten Schulterblatt wurden die Initialen »MB« eingebrannt.«
James‘ Augen verengten sich und eine tiefe Falte zog sich über seine Stirn. Er ballte die Fäuste. Logan war sofort klar, was das bedeutete. MB. Matthew Boyed.
Aber das konnte nicht sein, denn Boyed war seit seiner Verurteilung in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. Und das ohne Aussicht auf Entlassung. Zudem war die Anstalt gesichert wie Fort Knox. Das war damals James‘ größter Fall, der ihm die Beförderung zum Lieutenant einbrachte. Logan versuchte James die Anspannung zu nehmen und sagte: »Das kann etwas ganz Anderes bedeuten.«
»Ich muss telefonieren«, knurrte James und ging davon.
Logan schaute ihm hinterher.
»Ist so ein Tatort Neuland für Sie?«, fragte Dr. Murphy.
Aus seinen Gedanken gerissen antwortete er verwirrt: »Nein, nein … ich versuche alle Einzelheiten sinnvoll zusammenzufügen. Es gibt nur ein offensichtliches Problem an meiner Theorie. Und zwar des…«
Dr. Murphy unterbrach ihn abrupt.
»Logan, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Sie sind zwar Captain in LA, aber hier sind Sie nicht handlungsbefugt. Sie können also nicht erwarten, dass ich irgendwelche Informationen mit Ihnen teile. Halten Sie sich besser aus der Sache raus und überlassen sie die Ermittlungen Ihrem Bruder.«
Logan nickte, rieb sich dabei die Stirn. »Ich weiß, Sie haben Recht.«
Trotzdem konnte er nicht anders, als sich in den Fall einzumischen oder zumindest seinen Bruder zu unterstützen, denn das war er ihm nach der langen Funkstille schuldig. Sein Gehirn lief auf Hochtouren und war im Ermittlungsmodus, seine Gedanken rasten. Er versuchte alle Aspekte, die er kannte, zu ordnen und eine realistische Antwort zu finden. Doch wie man es drehte und wendete, es ergab alles keinen Sinn. Er betrachtete wieder die Leiche. Irgendetwas schien nicht ins Bild zu passen. Vielleicht lag es an ihrem Aussehen – sie war eine schöne Frau gewesen. Eine Stupsnase, geschwungene Wangenknochen und volle Lippen, die jetzt allerdings spröde und eingerissen waren. Logan fiel bei seiner Betrachtung etwas Anderes auf. Da war ein Hauch von Ungleichheit in ihrem Gesicht. Die linke Backe war dicker als ihre Rechte.
»Dr. Murphy, könnten Sie bitte den Mund des Opfers öffnen?«
»Ich habe Ihnen doch soeben gesagt, dass …«
Logan winkt ab. »Ja, ich weiß, aber ich vermute, dass da … öffnen Sie doch bitte einfach den Mund.«
Sie betrachte ihn einen Moment schweigend, dann nickte sie. »Halten Sie sich die Ohren zu. Diese Geräusche sind nichts für zarte Männerseelen.«
Dr. Murphy fasste mit beiden Händen in den leicht geöffneten Mund und drückte mit starker Kraft gegen den Widerstand den Kiefer nach unten. Es verlangte all ihr Kraft, um den Kiefer zu öffnen.
Ein Übelkeit erregendes Knacken durschnitt die Luft, als die Knochen unter dem Druck brachen. Ihr Kinn hing jetzt schlaff nach unten und brachte Ekelerregendes zum Vorschein. Murphy nahm eine lange Pinzette und brachte einen Brocken Fleisch aus dem Mund des Opfers zum Vorschein. Sie nahm einen Beweismittelbeutel und ließ das Fleisch in die Tüte fallen. Logan spürte, wie sein Magen rebellierte. Er holte tief Luft und riss sich zusammen. Er schaute noch einmal genauer hin. »Was ist das Weiße in ihrem Mund?«
Dr. Murphy führte erneut die Pinzette hinein. Sie zog einen kleinen Fetzen Papier heraus, entfaltete ihn und hielt ihn Logan entgegen.
»Ich bin zurück«, las Logan laut vor. Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. »Das ist gar nicht gut.«
Dr. Murphy packte den Zettel in einen durchsichtigen Beweismittelbeutel.
»Dr. Murphy, bringen Sie die Leiche in die Autopsie, ich möchte den Bericht so schnell wie möglich haben«, sagte Logan nun.
Dr. Murphy musste lachen. »Logan, haben Sie es schon vergessen? Das ist nicht Ihr Tatort. Hier darf nur ein Reynolds Anweisungen geben.«
Logan bekam sofort ein schlechtes Gewissen. »Tut mir leid. Es ist einfach mit mir durchgegangen.«
Murphy nickte, kehrte ihm den Rücken zu und widmete sich wieder der Leiche.
Logan hasste es, wenn er nicht agieren konnte, wie er wollte. Er versprach sich, dass dies die letzte Einmischung in den Fall war, und nahm einen Officer beiseite. »Lassen Sie die Spurensicherung die komplette Umgebung absuchen, wir müssen einen Hinweis finden. Und befragen Sie die Leute, vielleicht hat irgendjemand etwas gesehen.« Der Officer nickte, stellte ihn und seine Anweisungen nicht in Frage und gab seinen Kollegen Anweisungen. Die Beamten und die Spurensicherung schwirrten in alle Richtungen aus. Es war schier unmöglich, etwas Brauchbares zwischen dem feuchten Laub zu finden.
Logan betrachtete seine Umgebung, James war nirgends zu sehen.
Der Fall Matthew Boyed, Logan wusste alle darüber. Er hatte damals einen Gefallen bei einem Detektiv in Boston eingefordert, der ihm eine Zusammenfassung des Berichts zukommen ließ. Wenn er schon keinen direkten Kontakt zu seinem Bruder hatte, wollte er wenigstens wissen, mit welchen Dingen er sich rumschlagen musste. Also wusste er, dass der Mörder die Opfer fürsorglich ablegte, nachdem sie tot waren.
Sein Blick schweifte zu den Baumkronen. Ein heller Sonnenstrahl fiel durch die verbliebenen Blätter. Logan schirmte seine Augen mit der Hand ab und zündete sich mit der anderen eine Zigarette an. Der Mörder musste irgendwo geparkt haben, da er mit Sicherheit nicht mit einer Leiche über der Schulter einfach in den Park spaziert wäre und sich beim Abladen der Leiche im Verborgenen gehalten haben, falls jemand kam. Und sollte ihn doch jemand zu nahekommen, bevor er verschwinden konnte, musste er sich irgendwo verstecken können. Das einzig plausible Versteck waren die dichten Bäume, da es sonst keine Möglichkeit in diesem Park gab, um sich förmlich unsichtbar zu machen. Es galt also, die Verkehrskameras rund um den Park zu sichten und herauszufinden, ob dort jemand etwas abgeladen hatte. Sein Kopf brummte von den unzähligen Gedanken, die er hatte. Wichtig war, dass sie schnell handelten und keine kostbare Zeit mit bürokratischen Hindernissen verschenkten. Nicht nur, um den Täter schnell zu finden, sondern auch wegen James. Denn der Fall hatte ihm damals alles abverlangt und er hatte beinahe mit seinem Leben bezahlt. James hatte ihm zwar nie erzählt, wie es ihm damals ging, jedoch konnte man es ihm bei den Pressekonferenzen ansehen, wie nahe er einem Nervenzusammenbruch gewesen war.
Logan rieb sich das Gesicht, die abgebrannte Zigarette immer noch zwischen den Fingern. Als er seinen Bruder bei der Straße hinter den Büschen entdeckte, fiel ihm ein Gegenstand auf. Besser gesagt, ein Ast. Er verstaute den Zigarettenstummel in seinem Taschenaschenbecher und ging langsam darauf zu. Neben dem Ast waren zwei tiefe Schuhabdrücke in der nassen Erde. Es sah ganz danach aus, als wäre jemand vom Baum heruntergeklettert und der letzte Ast unter der Last abgebrochen wäre. Die Abdrücke schienen zu klein für den Mörder, denn eine Leiche zu transportieren erforderte Kraft, außer, man hatte einen Schubkarren oder Ähnliches, welche Spuren sie sicher entdeckt hätten. Aber ein Versuch war es wert. Er rief Dr. Murphy zu Hilfe, die sofort zu ihm rüberkam.
»Ich habe mich gerade etwas umgesehen und habe diese Fußabdrücke entdeckte. Was halten Sie davon? Könnte es nützlich sein?«
Dr. Murphy sah ihn schief an, als wüsste sie genau, was er da tat. Im nächsten Atemzug holte sie einen jungen Mann von der Spurensicherung. »Können Sie davon einen Gipsabdruck machen und mich sofort über das Ergebnis informieren?«
»Natürlich, Doc.«
Murphy ging wieder zur Leiche zurück. Logan schaute zu James, doch der stand nicht mehr an der Straße. Er entdeckte ihn bei einem anderen Officer, welchen er mit hochrotem Gesicht anbrüllte. James sah sich um, entdeckte Logan und marschierte auf ihn zu.
»Der Officer hat mir gerade berichtet, dass du hier die Leute rumkommandierst«, zischte er. »Das ist mein Fall und ich gebe die Anweisungen.«
»Ich wollte dir nur helfen.«
»Ich habe deine Hilfe noch nie gebraucht und brauche sie auch jetzt nicht!« James stampfe an ihm vorbei und entfernte sich von ihm.
Logan konnte nicht verstehen, warum sein Bruder so übertrieben reagierte. Ja, er war in der Vergangenheit nicht oft für ihn dagewesen, aber wenn es hart auf hart kam, hielten sie immer zusammen. Es war doch logisch, dass Logan versuchte, ihn zu unterstützen. »James, warte!« Logan rannte ihm hinterher.
James stieg in seinen Wagen und startete den Motor. Logan konnte gerade noch einsteigen, da fuhr James auch schon los.
»Wo fährst du hin?«
»Auf‘s Revier. Wir treffen uns mit Dr. O’Reilly.«
*
Motorengeräusche. Ein lauter Knall, ein Schuss. Blut. Ein Mann stand am Straßenrand, versuchte zu begreifen. Er fasste sich ans Herz, betrachtete seine Hand. Hope hielt sich die Ohren zu, wie es Kinder eben tun. Der Mann sah zu ihr, lächelte sie an und fiel auf die Knie. Das kleine Mädchen sah sein blutverschmiertes weißes Hemd. Ihr Puls raste. Sie wollte zu diesem Mann. Doch plötzlich waren überall Menschen zwischen ihr und ihm. Sie konnte nur ein paar kurze Blicke erhaschen, als sie versuchte, sich durch die Menge zu drängeln. Die Menschen ließen sie nicht durch, gerade so, als wollten sie sie daran hindern, ihr Ziel zu erreichen. Sie schrie, sie sollen sie durchlassen, aber die Gesichter wurden nur finsterer. Endlich machten die Leute Platz. Doch er war weg. Ein heftiger Ruck ging durch ihren ganzen Körper. Sie blickte nach unten und sah die rote Flüssigkeit, die aus ihrer Brust tropfte.
Hope schreckte aus ihrem Traum auf. Sie war schweißgebadet und atmete schwer. Immer der gleiche Traum – fast jede Nacht. Hope fasste sich an ihre Brust. Kein Blut. Sie schüttelte den Kopf, setzte sich an die Bettkante und massierte ihre Schläfen. Sonnenstrahlen fielen durch die offenen Vorhänge und leuchteten auf Dexter, Hopes treuen Rottweiler, der entspannt am Fußende des Bettes lag. Sie tätschelte seinen Kopf und er erwiderte die Zärtlichkeit mit einem freundlichen Hecheln.
Hope ging, immer noch benebelt von dem Traum, ins Bad und zog die Klamotten aus. Sie drehte das Wasser in der Dusche auf und stellte sich unter den heißen Strahl. Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Warum hatte sie immer wieder diesen Traum? Warum gerade sie? Sie blickte in die Seelen grausamster Mörder, konnte sich in deren Geisteszustand hineinversetzen, aber sich selbst konnte sie nicht entschlüsseln.
Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihr breit. War das das Leben, welches sie sich immer erträumt hatte? Konnte sie dem unerträglichen Schmerz, der Gewalt und der Grausamkeit, die ihr Job mit sich brachten, noch lange standhalten? Sich Tag ein Tag aus in suizidgefährdete Patienten und Schwerverbrecher hineinfühlen. Es hieß, man solle die Arbeit nicht mit nach Hause nehmen. Leichter gesagt als getan. Die schrecklichen Bilder wollten einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden – genauso wenig, wie aus ihren Träumen. Als sie aus ihrer Heimatstadt London nach Boston zog, schien ein Kriminalpsychologie-Studium genau das Richtige zu sein. Doch inzwischen war sie sich nicht mehr sicher.
Sie stieg aus der Dusche und rubbelte die blonden Haare trocken. Der Spiegel war vom heißen Dampf angelaufen. Mit der flachen Hand strich sie darüber, damit sie sich betrachten konnte. Wurde sie langsam innerlich von den Schattenmonstern aufgefressen? Jahrelang hatte Hope versucht, den Albtraum zu verstehen. Die Suche nach Hinweisen oder zumindest Anhaltspunkten, warum sie ihn hatte, hatten sich zwecklos erwiesen.
Sie musterte sich im Spiegel. Die Gefühle waren noch nicht nach außen gedrungen, keine dunklen Augenringe, die die letzten schlaflosen Nächte verraten würden.
Hope zog sich eine Jogginghose und ein Top an und ging ins Wohnzimmer. Sie lebte in einer großzügigen Wohnung mit Gästezimmer, in einem Apartment-Komplex direkt am Strand. Naturbelassenes Holz war Hauptbestandteil der Wohnung. Die modern rustikal gestaltete Küche, in kühlen Grautönen gehalten, war mit dem Wohnzimmer durch eine Kochinsel verbunden. Durch die hohe Fensterfront hatte man einen wunderbaren Blick auf den Old Harbor Park und auf das Meer. Hope liebte das Meer. Der Anblick beruhigte sie und half ihr beim Nachdenken. Das Rauschen der Wellen bereitete ihr ein fast schwereloses Gefühl und lies sie entspannen.
Mit noch nassen Haaren ging sie ans Wohnzimmerfenster und schaute in die weite Ferne. Oft stellte sie sich vor, die Küste Englands am Horizont erhaschen zu können. Sie vermisste ihre Familie – ihre Eltern und ihre kleine Schwester. Leider hatte sie durch die Arbeit nur selten die Zeit, um nach London zu reisen und sie zu besuchen. Sie würde versuchen, sich nächsten Monat ein paar Wochen frei zunehmen.
Das Smartphone vibrierte auf dem dunklen Holzcouchtisch. Die Nachricht war kurz. Antonys Nachrichten waren immer kurz. Heute Abend, 22.00 Uhr bei mir?
Hope hatte seit längerer Zeit eine Affäre mit ihm. Mehr war nicht drin, denn wie sich herausstellte, war Antony kein Partner, den man seinen Eltern vorstellen wollte. Er war ein notorischer Fremdgeher. Hope wusste, dass er nebenbei noch andere Frauen am Start hatte und allen die gleiche alte Leier vorspielte. Trotzdem ließ sie sich auf ihn ein, denn irgendwie mochte sie ihn eben trotzdem. Er war ein guter Zuhörer und immer für sie da.
Sie legte das Handy wieder zurück auf den Tisch. Im Moment hatte sie keine große Lust, ihm zu schreiben, geschweige denn, ihn zu sehen. Ein anderes Bedürfnis war im Moment größer – ihr Magen knurrte. Sie ging in die Küche, stellte den Wasserkocher an und hängte Teebeutel in zwei Tassen. Die nassen Strähnen, die sich aus dem Handtuch lösten und auf die Schulter fielen, ließen sie frösteln. Der Übergang von Herbst zu Winter war an der Außentemperatur deutlich zu spüren. Die Sonne schien zwar, doch sie hatte nicht mehr genügend Kraft gegen die Kälte anzukämpfen.
Hope klopfte vorsichtig an der Tür des Gästeschlafzimmers. Ein leises Murmeln kam aus dem Zimmer, Schritte näherten sich der Tür. Langsam wurde die Klinke gedrückt und die Tür einen kleinen Spalt geöffnet. Ein verschlafenes Gesicht kam zum Vorschein.
»Guten Morgen«, sagte Hope. »Hast du gut geschlafen?«
»Mhm …«, antwortete Zoe, deren zerknautschtes Gesicht von zerzausten Haaren umgeben war.
»Ich habe uns Tee aufgesetzt. Willst du rauskommen?«
Zoe nickte und folgte Hope in die Küche. Ihre beste Freundin hatte mal wieder einen Schlafplatz für die Nacht gebraucht, da sie sich – wie so oft –mit ihrem Ehemann Tom gestritten hatte. Betrunken und komplett durch den Wind hatte sie am Abend zuvor vor Hopes Wohnung gestanden. Das verschmierte Make-Up ließ sie wie einen traurigen Waschbären aussehen. Fragen waren nicht mehr notwendig gewesen. Es war immer das gleiche Szenario. Zoe kriegte sich mit Tom in die Haare, betrank sich und nächtigte bei Hope. Tom war ein widerlicher Lügner, der nur Böses im Sinn hatte – das war zumindest Hope‘s Meinung.
Zoe ließ auf den Barhocker am Küchentresen sinken. Hope holte den Wasserkocher und goss das heiße Wasser in die Tassen.
Während Zoe auf den Teebeutel starrte, den sie abwesend durch das Wasser kreisen ließ, setzte sich Hope zu ihr.
»Hat er dir wieder wehgetan?« Beim letzten Mal hatte ihr Zoe anvertraut, dass Tom sie geschlagen hatte.
Die Frage riss Zoe aus ihren Gedanken. Mit aufgerissenen Augen starrte sie Hope an. »Nein! Natürlich nicht.«
Die Antwort kam zu schnell und zu unsicher. Hope wusste genau, dass das eine Lüge war. Ihre beste Freundin war Staatsanwältin und wusste nur zu gut, sich in rechtlichen Angelegenheiten zu verteidigen. Vor ihrem Ehemann schien sie dies jedoch nicht zu können. Liebe konnte so schrecklich sein. Allein die Aussagen der Männer, es tue ihnen unendlich leid und es würde nie wieder vorkommen, reichten aus, um die Hoffnung zu bewahren, dass sich alles ändern würde. Doch dem war nicht so. Bei keinem Mann, auch nicht bei Tom. Und das wusste Zoe genauso gut wie Hope. Aber die Liebe ließ einen den Verstand verlieren und blauäugig vor den Tatsachen stehen.
»Willst du dich nicht endlich mit dem Gedanken anfreunden, dich von ihm zu trennen?«
»Du verstehst das nicht. Er liebt mich. Und nur deswegen verhält er sich so – weil er mich nicht verlieren will.«
Schwachsinn, dachte Hope. Die gleiche Masche, die alle Männer dieser Sorte von sich gaben. Leere Worte, Ausreden, um sein eigenes Verhalten zu rechtfertigen. Hope wollte Zoe nur zu gern helfen, aber sie wusste genau, dass jeder Versuch zwecklos war. Für ihr Verhalten gab es dutzende psychologische Erklärungen. Doch Familie oder Freunde zu analysieren war nicht gerade vorteilhaft, da man nicht ausreichend Abstand zu den jeweiligen Situationen hatte. Zoes Verfassung verschlechterte sich bei jedem weiteren Streit, der mit Handgreiflichkeiten endete. Aber Hope waren die Hände gebunden, wenn sie ihre Hilfe nicht annehmen wollte. Das Einzige, was sie für Zoe tun konnte, war, für sie da zu sein, egal, wie sehr ihr die ganze Situation widerstrebte.
»Ich bitte dich nur um einen einzigen Gefallen.« Hope machte eine Pause und holte tief Luft. »Sag mir die Wahrheit. Was ist gestern Abend passiert?«
Zoe zögerte. Man konnte ihrem Gesicht ansehen, dass sie um Fassung rang.
»Es war eine Kurzschlussreaktion. Tom wollte das alles gar nicht. Er wusste selbst nicht, warum er es getan hat.«
Mehr musste Zoe nicht sagen. Hope wusste auch so, dass Tom wieder handgreiflich geworden war. Sie spürte, wie die Wut ihr das Blut in die Wangen trieb. Am liebsten wäre sie auf der Stelle zu ihm gefahren, um ihm zu drohen und womöglich zu schlagen. Aber sie durfte sich nicht auf das gleiche Niveau herablassen, auch wenn es nur zu logisch wäre. Sie musste jetzt diplomatisch vorgehen und nicht ausrasten.
»Soll ich dir einen Kühlbeutel bringen?, fragte sie.
Zoe nickte und zog langsam das ausgeblichene Nachthemd nach oben. Es offenbarte sich ein faustförmiger Bluterguss am Hüftknochen, der sich zwischen den Farben Dunkelviolett und Blau nicht entscheiden konnte. Eine typische Stelle, um Frauen zu schlagen. Es musste dort sein, wo es nicht jeder sehen konnte. Wenn er sie im Gesicht schlägt, was für Tom wahrscheinlich mehr befriedigender wäre, würde man Zoe darauf ansprechen. Natürlich könnte sie es leugnen, doch irgendwann würde man merken, dass da etwas nicht stimmen konnte.
Zoe sollte sich nicht bedrängt von Hope fühlen. Ihr Zuhause sollte ein Rückzugsort für Zoe sein, zu dem sie jederzeit kommen und wieder gehen konnte. Wenn Hope jetzt das Falsche sagen würde, würde sich Zoe zurückziehen und das Thema »Tom« meiden oder im schlimmsten Fall sogar totschweigen.
»Zoe … du hast so viele Fälle von häuslicher Gewalt bearbeitet, du kennst das Szenario.«
»Aber Tom ist nicht wie die anderen. Und ich weiß, dass er mich liebt. Ich bin selbst schuld. Ich hätte ihm einfach sagen müssen, dass ich noch mit einer Freundin einen Kaffee trinken gehe. Er hat sich Sorgen um mich gemacht.«
Verleumdung. Sich selbst die Schuld dafür geben. Emotionaler Terror. Ein lebendiges Beispiel für die zahlreichen Fachbücher über häusliche Gewalt.
Zoe war gefangen in dieser Konstellation und würde sich in Zukunft alles von Tom gefallen lassen. Hope wusste mit Sicherheit, dass sie etwas dagegen unternehmen musste, sofern es nicht schon zu spät war.
»Das ist nicht deine Schuld, Zoe. Sagt Tom dir denn alles und wo er sich gerade aufhält?«
Zoe‘s Wangen röteten sich vor Scham, den Blick richtete sie auf den Boden und spielte verlegen an ihren Nägeln. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
»Ich möchte ihm noch eine Chance geben. Wir haben darüber gesprochen, wie sehr er mich verletzt. Er ändert sich, das hat er mir hoch und heilig versprochen«, sagte sie und klang wie ein kleines Kind, dem Süßigkeiten nach dem Zahnarztbesuch zugesichert wurden.
Ihn darauf hinzuweisen, dass er sie verletzt, brachte überhaupt nichts.
Hope wiederum versprach sich selbst, sollte Tom noch ein einziges Mal seine Hand Zoe gegenüber erheben, würde sie alles Erdenkliche tun, um ihn aus Zoe‘s Leben verschwinden zu lassen. Koste es, was es wolle. Aber dies behielt sie natürlich für sich.
»Ich sollte jetzt gehen.« Zoe vermied den Augenkontakt, während sie aufstand, nickte aber. Sie verschwand im Schlafzimmer. Nach wenigen Minuten kam sie angezogen und mit gepackter Tasche wieder heraus.
»Ruf mich an, wenn du zu Hause bist«, sagte Zoe zum Abschied.
Dann war Zoe verschwunden.
Hope schaute durch das Fenster nach draußen. Sie fühlte sich hilflos. Die Welt drehte sich einfach weiter, als wäre nichts passiert.
Das Smartphone klingelte auf dem Wohnzimmertisch. Sie hatte keine Lust. Auf gar nichts. Nicht mal telefonieren wollte sie. Aber wie so oft siegte schlussendlich die Neugier. Sie schob den Barhocker zurück an die Theke und ging zum Smartphone. Auf dem Display erschien in Großbuchstaben der Name TOM. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Doch sie wollte zu gern wissen, was er ihr zu sagen hatte, also nahm sie ab.
»Hallo Tom.«
»Hi Hope.« Seine Nervosität konnte man durchs Telefon spüren. Die Stimme klang hektisch. »Ist Zoe bei dir? Sie war letzte Nacht nicht zu Hause.«
»Sie war bei mir.«
»Oh. Ähm. Gut. Wo ist sie jetzt?«
»Sie ist gerade auf dem Weg nach Hause und will sich mit dir versöhnen.«
»Ich habe mir solche Sorgen um sie gemacht. Sie ist mein Ein und Alles. Ohne sie bin ich nichts.«
Das ist wahr, dachte Hope, wagte es aber nicht es laut auszusprechen. Das ließ ihn nur wütend werden und würde zu nichts führen.
Ihr widerstrebte es mit jeder Faser in ihrem Körper, diesem Aas freundlich gegenüber zu sein. Doch mit dieser Sorte Menschen musste man vorsichtig umgehend, um die Menschen in deren Umgebung zu schützen. Soweit man es eben konnte. »Sei einfach nett zu ihr, Tom.«
»Natürlich Hope. Vielleicht kommst du mal zum Abendessen und dann können wir die Unannehmlichkeiten vergessen.«
»Vielleicht«, antwortete sie und legte auf.
Hope schloss die Augen und legte ihr Smartphone neben sich und das Gesicht in die Hände. Vielleicht sollte sie Zoe fragen, ob sie mit nach England kommen wollte. Der Abstand würde ihr sicher guttun, aber sie bezweifelte, dass Tom es erlauben würde.
Das Smartphone klingelte erneut. Wenn das wieder Tom war, würde sie das Telefon aus dem Fenster werfen. Sie öffnete langsam die Augen und schaute aufs Display. James. Erleichterung durchflutete sie.
»Hi James, was gibt’s?«
»Du musst sofort aufs Revier kommen.«
»Was ist los?« Ihr Herz klopfte schneller. James klang ernst. Zu ernst.
»Boyed!«
Hope wurde schwindelig und sie musste sich an der Sofalehne festhalten. »Ich bin unterwegs.«