Читать книгу Herzblut - Michaela Neumann - Страница 4
Zwei
ОглавлениеJames saß in seinem kleinen Büro am Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt. Von draußen drangen Geräusche herein. Gemurmel, ständig klingelnde Telefone – Geräusche der Geschäftigkeit. Doch James schien sie nicht zu hören. Er brütete über den alten Fallakten und sah dabei nicht wirklich zuversichtlich aus. Logan ließ ihn nicht aus den Augen, dabei spielte er mit dem Feuerzeug. Er hätte eine Zigarette dringend nötig. Aber seit die nikotinverfärbten Tapeten einen strahlendweißen Anstrich bekommen hatten, herrschte im Gebäude Rauchverbot.
Doch mit einem Mal verstummte das Gemurmel. Logan schaute durch die Glaswand, mit der James‘ Büro vom Großraumbüro abgetrennt war. Eine junge Frau durchquerte den Raum. An ihrer Seite ein Rottweiler. Ein großer, muskulöser Hund, der nicht aussah, als könnte man entspannt mit ihm Ball im Park spielen. Es war aber nicht der Hund, dem die abschätzenden Blicke der Kollegen galten, es war eindeutig die Frau. Logan fragte sich, warum. Sie machte keinen unfreundlichen Eindruck, sie sah eher aus, wie eine Geschäftsfrau, die genau wusste, was sie wollte. Blondes Haar, rote Lippen; sie trug eine knallenge Jeans, die ihren weiblichen Kurven schmeichelten, eine weiße Bluse und Sneaker. Eins stand für Logan fest: Diese Frau würde er sicher nicht von seiner Bettkante stoßen. Dann kam sie näher und er richtete sich in seinem Stuhl auf. Sein Puls erhöhte sich. Er wandte den Blick schnell von ihr ab und hoffte, dass sie seine Gafferei nicht bemerkt hatte. Sie schien die erste Frau zu sein, die ihn in Verlegenheit brachte.
Als sie das Büro betrat, deutete sie ihrem Rottweiler an, sich zu setzen. Dieser gefolgte dem Befehl sofort und setzte sich neben sie. An seinem Halsband hing eine Hundemarke mit dem Namen Dexter eingraviert.
»James?«
Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er stand auf, ging zu ihr rüber und schloss sie in die Arme.
»Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte er. »Ich weiß, dass du helfen kannst.«
»Hoffentlich.«
Logan räusperte sich.
»Oh, stimmt«, stotterte James und fuhr sich mit der Hand verwirrt durch das Haar, er war wohl noch halb in Gedanken bei den Fallakten.
»Logan, das ist Dr. O’Reilly. Dr. O‘Reilly, das ist mein Bruder Logan Reynolds.«
»Bitte nennen Sie mich Hope«, sagte sie lächelnd und streckte Logan die Hand entgegen. »Der Doktortitel lässt mich so alt wirken.«
»Es freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Logan.
»James hat mir schon sehr viel von Ihnen erzählt.«
»Hoffentlich nur Gutes.« Logan schmunzelte verlegen. »Kommen Sie aus Irland? Ich meine, wegen Ihres Nachnamens.«
»Nein. Aus London. Aber mein Urgroßvater war irischer Abstammung. Daher der Name.«
Logan hielt ihre Hand noch immer. Erst jetzt fiel ihm das leise Knurren des Rottweilers auf. Hope lächelte Logan an, entzog ihm seine Hand und schnipste einmal mit den Fingern. Der Hund war sofort still.
»Was ist passiert?«, fragte sie nun James.
James deutete auf den Stuhl neben Logan. Er wirkte auf Logan deutlich entspannter als am Tatort. Vermutlich lag das an Hopes Ausstrahlung. Irgendwie fühlte man sich sofort wohl in ihrer Umgebung. Doch nahm noch mehr wahr. Den Geruch von Vanille und Früchte – sie roch nach Sommer.
»Bevor ich anfange, ich habe beschlossen, meine Informationen mit Logan zu teilen. Ich habe bei Bobby bereits einen Antrag eingereicht, dass mein Bruder uns bei den Ermittlungen als Berater unterstützen darf.«
Der Sinneswandel überraschte Logan und zugleich freute er ihn. Hope nickte zustimmend und nahm neben Logan Platz.
»Heute Morgen wurde eine Leiche im Boston Public Garden gefunden«, erklärt James Hope auf. »Die Frau war zwischen 20 und 25 Jahren alt und am Körper fanden sich Spuren von Folter. Ob sie sexuell missbraucht wurde, wissen wir erst, wenn Dr. Murphy fertig ist. Die Todesursache ist aller Wahrscheinlichkeit ein hypovolämischer Schock. So wie es aussieht, wurde die Pulsader mit den Zähnen rausgerissen. Dr. Murphy nimmt einen Zahnabdruck, um herauszufinden, ob sie es selbst getan hat oder der Täter. Es müssen unerträgliche Schmerzen gewesen sein. An ihrem Hals befanden sich mehrere Einstichstellen, vermutlich von Drogen, die sie gefügig machen sollten. Wir haben auf ihrem rechten Schulterblatt die eingebrannten Initialen MB gefunden. Und in ihrem Mund haben wir diesen Zettel gefunden.« James legte einen, in einer Beweismitteltüte verpackten, blutverschmierten Zettel auf den Schreibtisch. Hope griff danach und betrachtete den Fetzen genau.
»Ich bin zurück«, las sie laut vor. Danach schaute sie James an. »Wie ist das möglich? Das kann ja nur bedeuten, dass ihn irgendwer freigelassen oder er einen Komplizen hat.«
James nickte. »Ich habe gerade mit der Klinik telefoniert. Boyed sitzt ruhig und friedlich in seinem Zimmer. Wir müssen mit ihm sprechen. Und hier kommst du ins Spiel. Er mag dich. Du erinnerst ihn an seine verstorbene Tochter. Vielleicht kannst du ihm ein Detail entlocken.«
Hopes Magen zog sich zusammen. Sie hatte gehofft, nie wieder mit Boyed sprechen zu müssen. Sie hatte gemischte Gefühle, wenn sie in seiner Nähe war. Er konnte ihre Stimmung deuten und nach einer geraumen Zeit würde sie ihm wahrscheinlich alles erzählen.
»Ich werde mich sofort auf den Weg machen«, sagte sie trotz all ihres Abers.
»Wir werden dich natürlich begleiten und vor der Tür warten. Brauchst du noch Zeit, um dich auf das Gespräch vorzubereiten?«
Sie winkte ab und sagte: »Der Fall ist mir präsenter, als es mir lieb wäre. Ich hole noch meine alten Unterlagen, dann treffen wir uns im St. Elisabeths. Hast du einen Termin mit seiner Psychiaterin gemacht?«
»Ja, sie wissen Bescheid.«
Hope nickte und verließ den Raum. Dexter folgte ihr dicht auf den Fersen. Die Gespräche im Großraumbüro verstummten dieses Mal nicht völlig, als Hope an den Kollegen vorbei Richtung Ausgang ging. Logan bemerkte aber, dass sie deutlich leiser wurden.
»Warum reagieren die Leute da draußen so auf Hope?«
»Sie hatte damals den maßgeblichen Hinweis im Fall Boyed geliefert, obwohl sie offiziell gar kein Teil der Ermittlung war. Die Medien haben sie in den Himmel hinauf gelobt. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Schlagzeile: Junge attraktive Kriminalpsychologin lässt die Polizisten des Boston Police Departement im Abseits stehen. Die Kollegen sind einfach nur neidisch und hegen einen gewissen Groll gegen Hope, weil sie sie unbewusst bloßgestellt hatte. Und ihr Hang zu knurrenden Monstern macht die Sache nicht leichter. Also, ich spreche von Dexter. Der hasst Männer. Anfangs habe ich mir fast in die Hosen gemacht, wenn sie mit ihm ankam. Jedes Mal hatder mich angeknurrt. Aber jetzt, wo er weiß, dass ich nett zu seinem Frauchen bin, sind wir die besten Freunde. Zumindest empfinde ich das so.«
James hielt inne und fixierte Logan. »Tu mir den Gefallen und lass die Finger von ihr. Sie ist kein Spielzeug.«
Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magenhöhle, aber Logan musste sich eingestehen, dass James recht hatte. Logan hatte kein Bedürfnis nach festen und echten Beziehungen. Dafür war das Leben zu kurz und es gab so viel, dass man genießen konnte. Und es gab viele Frauen, die auch auf das Abenteuer standen, das er ihnen versprach.
Hope war aber keine von ihnen. Sie war wie ein Rätsel, dass man nie entschlüsseln konnte, wenn sie es nicht wollte. Und trotzdem gab sie einem das Gefühl, als würde man sich schon seit Ewigkeiten kennen. Logan war fasziniert von ihrer Persönlichkeit, von der er nur einen Bruchteil kannte. Ein lautes Knallen holte Logan aus seinen Gedanken. James klatschte vor seinem Gesicht mit den Händen. Er schüttelte den Kopf und lachte laut.
»Warst du gerade gedanklich im Schlafzimmer?«, scherzte er.
»Nein, ich dachte gerade an den Fall. Wieso ist die Beziehung zwischen O’Reilly und Boyed so besonders?«
»Boyeds Tochter wurde, als sie 25 Jahre alt war, von fünf Mitstudentinnen gemobbt und gestalkt. So lange, bis sie es nicht mehr ertragen konnte und Selbstmord beging. Boyed kam nie darüber hinweg. Wie sollte man das auch jemals vergessen können? Auf jeden Fall war seine Tochter gerade dabei, Psychologie zu studieren. Offenbar erinnert ihn Hope an seine Tochter. Er sagte immer, seine Tochter war genauso hübsch, ehrgeizig und klug wie sie. Zugegeben: Hope ähnelt seiner Tochter sogar ein bisschen.«
»Und wo haben sich Boyed und Hope kennengelernt? Wie kam es dazu?«, wollte Logan wissen.
»Hope war bei einer Pressekonferenz in ihrer Funktion als beratende Kriminalpsychologin dabei. Boyed hatte sie im Fernsehen gesehen – seitdem schrieb er ihr. Er beschrieb sich selbst in den Briefen und gab ihr Rätsel, die sie lösen sollte. Ein Rätsel war, wo wir das nächste und schlussendlich letzte Opfer finden würden. Es war so, als wollte er, dass wir ihn aufhalten. Nur deswegen konnten wir die junge Frau retten, weil wir mit Hope das Rätsel aus dem letzten Brief schnell lösen konnten. Ohne diesen Tipp wäre das Mädchen tot gewesen.«
»Verstehe«, sagte Logan.
»Boyed spricht nur mit Hope.« James klopfte Logan auf die Schulter. »Du brauchst es also gar nicht erst versuchen, mit ihm zu sprechen. Er wird dich ignorieren, genauso wie er mich ignoriert. Wir tun gut daran, vor der Tür zu warten.«
»Aber es wird jemand vom Sicherheitspersonal der Anstalt mit beim Gespräch dabei sein, oder?«
»Boyed hatte sich geweigert unter Aufsicht mit Hope zu reden und Hope hat dem zugestimmt. Er ist gefährlich und unberechenbar, aber er mag sie. Ich würde sie nicht zu ihm lassen, wenn ich anderer Meinung wäre. Du wirst es selbst sehen, wenn wir dort sind.«
Logan sah seinem kleinen Bruder an, dass er nicht komplett überzeugt war, dass auch er sich Sorgen um Hope machte. Logan kam nicht dazu, weiter mit James darüber zu sprechen, denn James` Smartphone klingelte und er ging ran.
»Dr. Murphy hat etwas für uns«, sagte James, nachdem er das Gespräch beendet hatte und stand auf. »Ach übrigens, unser Superintendent Bobby Fraser hat dir eine vorübergehende Erlaubnis für die Beratung der Ermittlung ausgestellt. Habe ich gerade per E-Mail erhalten. Aber nur, dass das klar ist – ich habe hier das Sagen.«
Logan hatte bereits von Bobby Fraser gehört – von James. Bobby war in den letzten Jahren zu einer Art Vaterfigur für James geworden. Sein engster Vertrauter. Sie arbeiteten Hand in Hand und Fraser ließ James genügend Spielraum bei den Ermittlungen, damit die Bürokratie nicht zu sehr dazwischen funkte. Die machte es immer schwerer einen Fall zu lösen.
»Ey, ey, Captain! Verstanden.« Logan streckte sich und nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie hinter sein Ohr und erhob sich.
In diesem Moment erschien ein grauhaariger Mann in der Tür.
»Wir haben gerade von dir gesprochen, Bobby«, sagte James mit einem Lächeln.
»Ich bin ja nicht neugierig, aber ich wollte den jungen Herren persönlich kennenlernen, dem ich gerade gestattet habe, dir auf die Nerven gehen zu dürfen«, entgegnete Bobby.
»Das habe ich vor, Sir. Darf ich mich vorstellen? Logan Reynolds, der verschollene Bruder aus L.A.«, sagte Logan und streckte ihm die Hand entgegen. Mit einem kräftigen Händedruck schüttelte Bobby die seine und nickte, als würde er ihn in seinem Revier akzeptieren.
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Unter anderen Umständen würde ich Ihnen einen schönen Aufenthalt wünschen, aber Sie wissen ja … Und nennen Sie mich bitte Bobby.«
»Vielen Dank, Bobby«, antwortete Logan und wurde mit einem behaglichen Gefühl durchflutet.
Somit verabschiedete Bobby sich und die Brüder verließen das Revier.
Autolärm und kalte Temperaturen begrüßten sie auf der Plaza zwischen Revier und Gerichtsmedizin. Die Umgebung war einem kleinen Park nachempfunden – Bäume spendeten im Sommer Schatten und an grauen Tagen Schutz vor Regen; eine starke Eiche war der Mittelpunkt des Platzes. Um sie herum standen einladende Holzbänke, die an manchen Stellen anfingen, sich vom Regenwetter grün zu verfärben. Auch wenn die Sonne strahlte, war es immer noch sehr kalt. Eine Handvoll Beamte verbrachten nichtsdestotrotz ihre Mittagspause draußen und aßen den von zu Hause mitgebrachten Lunch.
Typisch für den neumodischen Gesundheitsdrang, dachte Logan, zog die Zigarette vom Ohr und steckte sie in den Mund. Ab an die frische Luft. Dass die Autos an ihnen vorbeirasen und die frische Luft daher gar keine frische Luft ist, bedenken sie nicht.
Logan zog genüsslich an seiner gar so ungesunden Zigarette. Seine Gedanken wanderten wieder zu Hope. Ob ihr das komische Verhalten der Mitarbeiter im Revier etwas ausmacht? Äußerlich war ihr nichts anzumerken, aber wie sieht es in ihr drin aus? Ließ es sie kalt? Gerne hätte er sie gefragt, aber das gehörte sich nicht – Logan kam schließlich aus gutem Hause und wusste, was man sich erlauben konnte und was nicht.
Er reckte den Kopf nach oben, betrachtete das Blau des Himmels und hoffte, auf andere Gedanken zu kommen.
Sein Handy vibrierte in seiner Brusttasche. Er zog es heraus, schaute aufs Display. Eine Nachricht von Stacy, seiner kleinen, pummeligen Kollegin, die in der Aktenkammer arbeitete. Sie war ein Engel bei allen Gelegenheiten. Logan bezeichnete sie als seine geheime Assistentin.
»Ich habe die Akte. Schicke sie heute noch nach Boston. Sollte in ein paar Tagen bei dir angekommen sein. Viel Glück.«
Logan hatte die alte Akte seines Vaters angefordert. Bis jetzt waren alle Namen der Zeugen geschwärzt gewesen, unter Verschluss gehalten worden. Wie so oft verhinderte Bürokratie die Aufklärung eines Falles. Doch jetzt, nach all den Jahren, war sie freigegeben worden und seine Neugier brannte. Endlich konnte er richtig ermitteln, ohne immer auf ein Hindernis wegen geheimen Informationen zu stoßen. Er schrieb zurück: »Du bist ein Schatz. Ich schulde dir was, wenn ich zurück bin. Danke.«
Er würde mit ihr schick Essen zu gehen, sobald er zurück in Los Angeles war. Als Dankeschön.
Er steckte das Handy zurück in die Brusttasche. Vorerst würde er James in die Aktensache nicht einweihen, erst, wenn er auf brauchbare Hinweise stoßen würde. Aber allein die Tatsache, dass er die Akte nun hatte, erfüllte ihn mit enthusiastischer Zufriedenheit.
Als den Eingang der Gerichtsmedizin erreichten, trat Logan die Kippe mit dem Schuh aus, hob sie auf und legte sie in seinen Taschenaschenbecher. James hielt ihm die Tür auf. Der Eingangsbereich hatte eine hohe Glasfront, die sich über drei Stockwerke ausbreitete. In den oberen Stockwerken befanden sich Privatpraxen vieler Hausärzte von der Allgemeinmedizin bis hin zur Urologie. Ob sich die Patienten hier unwohl fühlten, wenn sie daran dachten, dass sich direkt unter ihren Füßen die Gerichtsmedizin befand? Vermutlich nahmen sie das nicht einmal wahr. Der Großteil der Leute interessierte sich sowieso nur für den eigenen Kram.
Die Empfangsmitarbeiterin wünschte den beiden einen guten Tag und legte das Anmeldeprotokoll auf den Tresen. James las sich kurz durch die Liste und unterschrieb es. In der Zwischenzeit lehnte Logan am Empfangstresen und lächelte die Frau unentwegt an. Ja, es machte ihm Spaß, Frauen aus der Reserve zu locken. Bei einigen ging es erschreckend schnell, bei anderen dauerte es eine gewisse Zeit. Mit einer gewissen Zeit waren Stunden gemeint. Logan war sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst und nutze sie, wo es nur ging.
Diese junge Dame gehörte zur ersten Kategorie. Ihre Wangen erröteten und sie strich sich die langen schwarzen Haare hinters Ohr.
James boxte Logan gegen den Oberarm. »Lass das!«, zischte er.
Logan seufzte. Hätte er ein bisschen mehr Zeit gehabt, dann hätte er sicher ihre Nummer bekommen. Aber manche Dinge mussten eben warten, also folgte er James zu den Aufzügen. Bevor sich die Türen schlossen, warf Logan der Frau noch einen Handkuss zu.
»Musste das sein? Hier geht es um eine ernstzunehmende Sache.«
»Ich bin voll bei der Sache. Ein Schnittchen ist sie trotzdem.« Logan schmunzelte und zwinkerte seinem Bruder zu.
»Möchtest du nicht irgendwann einmal eine feste Beziehung eingehen?«
»Wozu? Damit es mir so ergeht wie dir?«
Es sollte als Scherz gemeint sein, aber an James‘ Gesicht war klar abzulesen, dass es so nicht angekommen war.
»Sorry. War nicht so gemeint«, sagte er daher.
James nickte, trotzdem spürte Logan, dass James verletzt war. Als sich die Türen endlich öffneten, kam ihnen ein kalter Luftzug entgegen, welcher die erhitzten Gemüter etwas abkühlte.
James marschierte mit schnellen Schritten auf den Eingang der Obduktionshalle zu. Sie gingen durch den Vorraum direkt in den Obduktionssaal. »Was habe ich dir über das Anklopfen beigebracht?«, zischte eine raue Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes.
»Tut mir leid, Mathilda«, sagte James und klang wie ein kleines Kind, dass gerade eine Standpauke von seinen Eltern bekommen hatte.
»Eure Unstimmigkeiten könnt ihr wo anders austragen«, entgegnete ihm die Gerichtsmedizinerin. Dann schaute sie zu Logan, fixierte ihn und zog dabei die linke Augenbraue nach oben.
Logen hob abwehrend die Hände. Sofort hatte er das Gefühl, dass Dr. Murphy eine bessere Mutter abgab als ihre eigene.
James atmete einmal tief durch und stellte sich an den Tisch auf dem die Leiche aufgebahrt lag. »In Ordnung. Was hast du gefunden?«
Dr. Murphy richtete den Blick auf die Leiche. Man konnte es ihr ansehen, dass sie sichtlich bestürzt über das junge Opfer war.
»Den Zahnunterlagen zu folge heißt das Opfer Jenny Blake, 24 Jahre alt, wohnhaft hier in Boston. Es wurde keine Vermisstenanzeige gestellt. Laut der Akte war ihr Allgemeinzustand sehr labil, mehrere Selbstmordversuche, was auf die Opferwahl unseres Täters schließen lässt. Alles Weitere über das Mädchen könnt ihr hier nachlesen.« Dr. Murphy reichte Logan eine dicke Akte und richtet sich dann wieder zu James. »Ich nehme an, du hast Hope informiert, da sie beim letzten Fall auch dabei war. Sie kann dir dann bestimmt mehr über den Verhaltenszustand des Opfers sagen können.« Sie nahm einen Zettel zur Hand »Das Blutbild von Jenny Blake zeigt eine gefährliche Dosis an Lysergsäurediethylamid, kurz gesagt LSD und Desomorphin – auch bekannt als die Krokodil Droge. Dieser Drogencocktail löste unvorstellbare Halluzinationen aus und führte dazu, dass die inneren Organe sich rasant selbst zerfraßen. Sie hatte keine Überlebenschance. Die Todesursache waren jedoch nicht die Drogen, sondern wie am Tatort schon vermutet, der Blutverlust. Die Analyse der Haut unter den Fingernägeln hat ergeben, dass diese von ihr selbst stammt, ebenso das Fleisch, welches wir im Mund gefunden haben.
Sie hat kleine Stichwunden am Thorax, welche durch einen scharfen Gegenstand, vermutlich ein einfaches Küchenmesser, verursacht wurden.«
Dr. Murphy umrundete den Tisch. Sie drehte die Leichte etwas auf die Seite, sodass die eingebrannten Buchstaben am Schulterblatt zum Vorschein kamen.
»Diese Buchstaben wurden post mortem zugefügt. Der Täter musste sie also beim Sterben beobachtet haben und sie nach dem Eintritt des Todes gebrandmarkt haben. Die Blutergüsse an den Oberschenkel Innenseiten sind Anzeichen einer Vergewaltigung. Im Inneren der Scheide sind starke Verletzungen festzustellen. Ein männliches Glied kann solche Verletzungen nicht verursachen. Aber nun zum Wichtigsten. Ich habe in ihrer Scheide Sperma gefunden.« Dr. Murphy zögerte einen Moment. »Diese stammt von Matthew Boyed.«
»Bist du sicher?«, fragte James.
Boyed hatte nie ein Opfer sexuell missbraucht. Dennoch stimmten andere Fakten mit seiner Vorgehensweise überein. Vielleicht hatte er seine Vorgehensweise geändert, dachte Logan.
Dr. Murphy nickte. James schüttelte den Kopf. »Es darf sich nicht wiederholen«, sagte James mehr zu sich als zu Logan oder Dr. Murphy.
Logan bemerkte, dass sich auf James` Stirn Schweiß bildete. James würgte, eilte zum Waschbecken und übergab sich. Logan konnte diese Reaktion nur zu gut verstehen. Von einer Sekunde zur anderen brach James hart erkämpftes »normales« Leben zusammen.
James lehnte am Waschbecken, er wirkte plötzlich unendlich müde, als hätte er eine Woche lang nicht geschlafen. Noch ein Schwall kämpfte sich über seine die Speiseröhre nach oben. Dieses Mal war es Galle. Logan reichte ihm ein Papiertuch, welches James ihm, ohne ihn anzusehen, entriss. Mit zitternder Hand wischte er sich den Mund ab.
»Habe ich damals etwas übersehen?«, murmelte James vor sich hin. »Hatte Boyed einen Komplizen, von dem wir nichts gewusst haben?«
»Das Sperma könnte auch an der Leiche platziert worden sein, um uns auf eine falsche Fährte zu locken”, sagte Murphy.
Eine undurchdringliche Stille durchflutete den Raum. Keiner wagte es, sich zu rühren. Jeder Atemzug fühlte sich falsch an.
Nach einigen Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, nickte Dr. Murphy Logan zu und schlich sich unauffällig aus dem Obduktionssaal. Man konnte an ihrer Körperhaltung ein gewisses Unbehagen ausmachen, dennoch ließ sie die Leiche unbeaufsichtigt, damit sie den Brüdern einen Moment Privatsphäre genehmigen konnte, denn sie kannte James vermutlich gut genug, um zu wissen, dass er sehr unter Strom stand und ein beruhigendes Gespräch mit seinem Bruder vertragen könnte.
»Geht es dir gut?”, war alles, was Logan im Moment einfiel.
»Wie sollte es mir denn gehen?”, brüllte James und schlug mit der Faust auf die sauber polierte Stahlanrichte des Waschbeckens. Seine Wangen glühten purpurrot. »Was denkst du, was ich fühle? Komm schon, sag es mir! Anscheinend weißt du besser, wie ich mich fühle als ich selbst.”
Logan kannte dieses störrische, verzweifelte Verhalten aus seiner Kindheit – nur nicht in diesem Ausmaß. Sobald etwas in die Hose ging oder nicht wie erwartet seinen Verlauf genommen hatte, konnte James nicht mehr klar denken. Und es half nicht, ihn besänftigen zu wollen. Das Einzige, was ihn wieder zur Vernunft brachte, war ihm die Tatsachen vor die Füße zu werfen. Wie es sein Vater immer getan hatte.
»Reiß dich zusammen, James! Dr. Murphy könnte recht haben. Boyed könnte auch einen Komplizen in der Anstalt haben. Vielleicht möchte er sich an dir rächen, weil du ihn in diese Anstalt einliefern hast lassen und will dich in den Wahnsinn treiben. Und er wird nicht aufhören, dich in die Enge zu treiben, dich herauszufordern, bis er tot ist. Du darfst ihn nicht die Oberhand gewinnen lassen. Stell dich den Fakten und lasse dich nicht aus der Ruhe bringen. Ich weiß, dass du es kannst.”
Es war gespenstisch, wie sehr Logan nach dessen Vater klang, doch es schien zu wirken. James` Muskeln entspannten sich etwas. Er nahm einen Schluck aus dem Hahn und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.
»Weißt du, ich zweifle nicht nur an meinem Urteilungsvermögen, sondern vor allem an mir selbst.«
»Denk mal nach, kleiner Bruder«, sagte Logan, überrascht über die ehrlichen Worte seines Bruders. »Hat sich deine Intuition jemals geirrt? Hast du je schlampig gearbeitet? Hättest du etwas übersehen können?«
James zerknüllte das Papiertuch und warf es ins Waschbecken.
»Ich hasse es, wenn du Recht hast”, sagte James ohne jede Spur einer Emotion. Kein Zorn, keine Erleichterung und schon gar keine Dankbarkeit.
Vorsichtig schob Dr. Murphy den Kopf zwischen den Türen hindurch. »Alles in Ordnung hier drin?”
Vermutlich hatte man das Gebrülle bis vor die Tür gehört.
»Soweit.” James wollte es sich nicht eingestehen, dass ihn sein Bruder wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht hat, doch Logan wusste, dass es so war. Eigentlich war James nur eifersüchtig auf seinen Bruder, der wie immer alles ins Rechte rückte und wie ihr Vater war.
James blickte auf seine silberne Armbanduhr. Das dunkle Leder war abgewetzt und der Verschluss drohte zu reißen.
»Wir müssen los«, sagte er. »Danke, Mathilda.” Er drückte ihr behutsam die Schulter.
Dr. Murphy schenkte ihm ein sanftes Lächeln und machte sich wieder an die Arbeit.
*
Die Fahrt zur St. Elisabeths` Nervenklinik zog sich wegen des einsetzenden Berufsverkehrs unangenehm in die Länge. James trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad. Die Sonne sank immer schneller. Bald würde sie untergegangen sein.
Als sie das Haupttor der Klinik erreichten war es bereits dunkel. Bewaffnete Sicherheitsangestellte versperrten ihnen den Weg. James kurbelte das Fenster herunter und drückte auf die Sprechanlage, während ihn die Sicherheitsangestellten stoisch dabei beobachteten.
Eine blecherne Stimme meldete sich. »Bitte weisen Sie sich aus und nennen Sie den Grund Ihres Besuches.« Die Lustlosigkeit des Empfangsmitarbeiters triefte förmlich aus den Lautsprechern.
»Lieutenant Reynolds vom Boston PD. Wir haben einen Termin mit Mr. Boyed und seiner Psychiaterin.«
»Halten Sie Ihren Ausweis in die Kamera.«
James tat wie geheißen und wartete ungeduldig. Ohne eine weitere Anweisung öffneten sich die verzierten Tore mit einem ohrenbetäubenden Quietschen. Die Sicherheitsangestellten traten beiseite und machten den Weg frei.
Die Auffahrt zur Nervenklinik war eine lange Allee, die von dichten Buchen und Birken umschlossen war. Die Straße endete an einem runden Vorplatz, welchen ein imposanter, in die Jahre gekommener Springbrunnen zierte. James lenkte den Wagen auf einen der Mitarbeiterparkplätze vor dem rechten Flügel des Gebäudes. Eine kühle Brise durchflutete das Auto beim Öffnen der Türen. James sah Logan dabei zu, wie er sich streckte.
»Wieso fährst du nur ein so unbequemes Auto?«, fragte Logan.
»Weil es ein tolles Auto ist«, entgegnete er schulterzuckend.
James war seit der Verurteilung von Boyed nicht mehr hier gewesen. Er sah sich um und betrachtete die Szenerie.
Das Hauptgebäude, das wohl einst strahlend weiß gewesen sein musste, wurde nun von Efeuranken bedeckt und gab der grausamen Wirklichkeit hinter den Mauern einen romantischen Touch. Im 19. Jahrhundert war das Gebäude ein hoch angesehenes Hotel für die vermögenden Menschen auf der ganzen Welt.
Logan drängelte James weiterzugehen, da er Hope bereits entdeckt hatte. Sie gingen an einer heruntergekommenen Poollandschaft vorbei, die damals zu den modernsten Anlagen der Welt gehörte, jedoch heute ein Bild wie aus einem schlechten Horrorfilm zeigte. Den Pool füllte nun mehr kein Wasser, sondern verrottetes Laub, welches sich mittlerweile teilweise über die Jahre hinweg in eine dunkle, schlecht riechende Masse verwandelt hatte. Daneben gab der ausgediente Spielplatz mit verrosteten Geräten dem Gesamtbild einen faden Beigeschmack.
Hope wartete bereits vorm Haupteingang – Dexter an ihrer Seite. Als James und Logan auf sie zukamen, richtete sich der Rottweiler auf und beobachtete sie aufmerksam. Hope lächelte sie an, gab James einen Kuss auf die Wange und schüttelte Logan die Hand, die sie länger in der ihren hielt als nötig.
»Hallo Hope. Tut uns leid, wir sind spät dran. Der Verkehr war die Hölle. Musstest du lange warten?«
»Nein, nein. Schon gut. Sollen wir? Seine Psychiaterin sitzt schon auf heißen Kohlen und scheint in ziemlich mieser Stimmung zu sein – zumindest hat mir das die Empfangsdame erzählt.« Hope verdrehte die Augen.
»Na, dann mal los.«
Da Hunde in der Anstalt nicht erlaubt waren, befahl Hope Dexter draußen zu warten. Scheinbar hatte sie das Vertrauen in ihn, dass er nicht weglaufen würde.
James ging voraus zur Anmeldung, wechselte ein paar Worte, zeigte seinen Ausweis. Ein Pfleger kam aus dem Empfangszimmer und deutete den anderen, ihm zu folgen. Während sie hinter ihm herginge, informierte James Hope über die Beweislage, welche die Gerichtsmedizinerin herausgefunden hatte.
»Nicht gerade die komplett gleiche Vorgehensweise, findest du nicht?«, fügte Hope hinzu.
Die vergilbten Neonröhren an der Decke der Flure flackerten fast unmerklich und tauchten die Gänge in ein ungesundes, gelbliches Licht. Die Türen der Patientenzimmer waren aus schwererem Material, James vermutete Eisen und Kunststoff. Boyeds Zimmer befand sich im ersten Stock, dort waren die Mörder untergebracht, welche suizidgefährdet waren und dort eine 24-Stunden-Überwachung hatten.
Eine beeindruckende Steintreppe führte in die oberen Stockwerke. Dort wurden sie von einer Schwester in Empfang genommen. »Sie möchten zu Mr. Boyed?«, fragte sie, wartete die Antwort aber nicht ab, sondern lächelte herzlich. »Gehen Sie einfach links den Flur entlang. Sollten Sie etwas brauchen, sagen Sie mir einfach Bescheid. Ich bin Schwester Suzi.«
Auch in diesem Stockwerk hielten sich einige bewaffnete Sicherheitsangestellte auf. Wegen der hohen Verwahrungs-Standards fand Hope die bewaffneten Angestellte für nicht angebracht.
Boyeds Zimmer lag im linken Flügel des Gebäudes und die Psychiaterin wartete – umgeben von zwei Sicherheitsbeamten - bereits vor dessen Tür.
»Da müssen Sie hin«, sagte der Pfleger, und verabschiedete sich hastig.
Hope, Logan und James legte den Rest des Weges alleine zurück.
Für eine Psychiaterin sah die Frau etwas zu jung aus. Sie trug ein dezentes Make-up, welches ihren markanten Gesichtszügen sehr schmeichelte, und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, war der genervte Blick von der Ferne deutlich zu erkennen. Ihr Namensschild an der Brusttasche baumelte bei jeder Bewegung hin und her. Dr. Harson.
»Ich hatte früher mit Ihnen gerechnet«, zischte sie.
»Ihnen auch einen guten Tag, Dr. Harson. Ist Ihr Patient soweit?«, fragte Hope in einem bestimmenden Ton.
»Es ist ganz und gar nicht in meinem Sinn, Mr. Boyed mit Ihnen allein sprechen zu lassen. Als seine Psychiaterin sollte ich bei jedem Gespräch anwesend sein. Ich möchte nicht, dass Sie ihm irgendwelche Worte in den Mund legen. Er ist sehr labil, jegliche Art von Stress könnte seinen hart erarbeiteten Fortschritt zunichte machen und wir müssten wieder von vorne anfangen.« Ihre Stimme bebte.
»Da Mr. Boyed nur mit mir allein bezüglich des Falls ehrlich sprechen wird, hat es keinen Zweck, sich dagegen zu sträuben«, sagte Hope mit einem freundlichen Lächeln. »Zudem kann er selbst entscheiden, ob Sie dabei sein sollen oder nicht. Ich kann Ihnen versichern, ich werden ihn nicht in eine unnötige Stresssituation bringen. Wenn Sie mich nun vorbeilassen würden.«
Dr. Harson lief knallrot an. Die Emotionen könnten jederzeit hochgehen, doch Hope stand selbstsicher vor ihr und rührte sich keinen Millimeter. Widerwillig machte Dr. Harson den Weg frei und drückte Hope die Patientenakte an die Brust.
»Wir sind gleich hier draußen, falls du uns brauchst«, versicherte James und gab den Wachen ein Zeichen, die Türe von Boyeds Zimmer aufzuschließen. Hope nickte und trat ins Zimmer.
*
Der Geruch von salzigem Rasierwasser füllte den Raum. Es war so penetrant, dass es Hope für einen Moment die Kehle zuschnürte.
»Einen wunderschönen guten Tag, Dr. O’Reilly«, brummte Boyed mit tiefer Stimme.
»Guten Tag, Mr. Boyed.«
Hope öffnete die großen Fenster, die durch dicke Gitterstäbe einen Ausbruch verhinderten, bevor sie sich in den abgewetzten Ledersessel setzte. Sie versuchte sie eine angenehme, gelöste Stimmung zu bereiten – das machte vieles einfacher.
Boyed saß ihr gegenüber. Es trennte sie nur ein kleiner runder Kaffeetisch aus grauem Kunststoff. Das Zimmer war spartanisch eingerichtet. Ein altmodischer Schrank mit passender Kommode aus den 60ern, der Bettrahmen aus Metall, wie man es aus Krankenhäusern kannte. Die Wände waren kahl und grau. Die einzige Dekoration bestand aus einem künstlichen Blumenstrauß auf dem Beistelltisch neben dem Bett sowie die Aufbewahrungsbox der wenigen Habseligkeiten, die er besitzen durfte.
»Es freut mich außerordentlich, Sie endlich wiederzusehen.«
Hope wollte nicht darauf eingehen und versuchte ihn auf das eigentliche Thema, warum sie gekommen war, langsam hinzuführen. »Wie ist es Ihnen ergangen, seit Sie hier sind?«
Er schlug die Beine übereinander und verlagerte das Gewicht auf seine linke Seite. »Na ja, Sie wissen ja, wie es hier abläuft. Therapie hier, Therapie dort. Fragen über Fragen. Mein Tagesablauf beginnt damit, dass ich gezwungen werde, meine Medikamente zu nehmen; danach geht es zur Verhaltenstherapeutin, dann in die Cafeteria, wo man den Haferbrei mit Tabletten runterwürgen muss«, er verzog angewidert das Gesicht. »Nach dem grauenhaften Essen geht es zu den Gruppensitzungen mit den schizophrenen und den suizidgefährdeten Verbrechern und weiter zur Therapie, bei der einem eingeredet wird, dass man nicht richtig im Kopf sei. So lange, bis die Sonne untergeht und ich endlich wieder in mein trostloses Zimmer zurückgebracht werde.«
»Würden Sie sich nicht als Verbrecher bezeichnen?«
»Eher bin ich ein Mann, der Gerechtigkeit will. Ich habe mich gerächt. Offensichtlich habe ich nicht nach den Regeln der Menschheit gespielt, aber sonst wären diese Monster, die sich nach außen als Freundinnen meiner Tochter ausgaben, nicht bestraft worden. Ich bin kein schlechter Mensch und erst recht kein Psychopath.«
Der Selbstmord seiner Tochter hatte damals eine akute Belastungsreaktion bei ihm ausgelöst. Diese hatte sich nach den Morden zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung verändert und war eine Reaktion auf ein Trauma. Hope hatte sich eingehend mit dem Fall beschäftigt, auch, wenn sie es niemals gutheißen konnte, sein Handeln nachvollziehen können. Wer seine Tochter tot in einer Blutlache vorfindet, will Vergeltung. Irgendjemand musste für seinen Verlust bezahlen. Er war in Wahrheit kein schlechter Mensch. Nur ein zutiefst trauernder und verzweifelter Vater, für den seine Tochter Mary wichtiger war als alles andere auf der Welt. Nach dem Tod seiner Frau Susan war Mary das Einzige, das er noch gehabt hatte.
Jeder Mensch reagierte anders. Einige verfallen in Selbstmitleid, andere schalteten den Verstand voll und ganz aus. Je länger Hope mit ihm sprach, desto mitfühlender wurde sie und der Ekel ihm gegenüber verschwand.
»Wie geht es Ihnen bei den Therapien? Fühlen Sie sich danach besser?«, fragte sie.
Boyed lachte auf.
»Sie wissen am allerbesten, dass ich voll zurechnungsfähig war, als ich die Morde begangen habe. Mein Anwalt wollte auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Nur deshalb sitze ich hier und nicht in einem normalen Gefängnis. Hier drin wird mein Gehirn zu Brei und mein Verstand …« Er machte eine Pause und überlegte. Scheinbar war er wirklich enttäuscht von dem, worüber er gerade nachdachte. »Es wird mir klargemacht, dass ich keinen Verstand habe, keine Emotionen, keine Gefühle. Können Sie sich das vorstellen? Habe ich denn keine Gefühle?«
Hope konnte kleine Tränen in seinen Augenwinkeln erkennen.
»Mr. Boyed.« Sie lehnte sich weiter vor in seine Richtung. »Ich bin mir sicher, dass Sie Gefühle haben.« Hope hätte nie gedacht, ausgerechnet einem Serienmörder ihre eigene Meinung zu offenbaren. Doch es schien ihr, als wäre es richtig.
»Die Menschen in meiner Umgebung denken das Gleiche über mich«, sagte sie. »Sie verurteilen mich und können mich nicht leiden. Ich weiß, dass ich oft einen schroffen Eindruck hinterlasse.« Es bereitete ihr Unbehagen, etwas Persönliches von sich zu erzählen, aber vielleicht half es, mehr von seinem Vertrauen zu gewinnen. Und ehrlich gesagt, tat es ab und zu gut, die Hüllen fallen zu lassen.
»Das ist Ihr Job. Wenn Sie nicht hart bleiben, wie soll man Sie dann ernst nehmen? Sie sind eine beeindruckende Frau, genau wie es meine Mary war.« Er hielt inne. Vorsichtig griff er nach Hopes Hand.
Erst war sie skeptisch und zog sie etwas zurück, ließ es aber dann doch geschehen.
Boyed drehte ihre Hand und musterte die Innenseite. Eine tiefe Narbe zog sich senkrecht am Handgelenk entlang. Er streichelte vorsichtig mit dem Daumen darüber. Hope ließ ihn nicht mehr aus den Augen und fixierte ihn.
»Woher wussten Sie …?«
»Ich sagte doch bereits, Sie sind genau wie meine Mary. Diesen Ausdruck in Ihren Augen kenne ich nur zu gut.«
»Ich bin nicht, ich lebe noch.«
»Dann waren Sie offensichtlich stärker, als sie es damals war«, sagte er traurig und ließ Hopes Hand wieder los. »Sie sind nicht zum Smalltalk mit einem Mörder gekommen, nicht wahr?«
Hope faltete die Hände im Schoß. »Das ist richtig Mr. Boyed. Heute Morgen wurde eine Leiche im Boston Public Garden gefunden.« Sie wartete eine Reaktion ab. Es passierte nichts. »Das Opfer ist Jenny Blake. Sagt Ihnen dieser Name etwas?«
»Nein.«
»Sie war erst 24 Jahre jung. Hatte noch das ganze Leben vor sich. Sie studierte Medizin. Sie wollte Kinderärztin ...«
»Schöne Geschichte«, unterbrach Boyed.
»Auf ihrem Schulterblatt wurden Ihre Initialen, MB, eingebrannt.«
»Worauf wollen Sie hinaus? Denken Sie, ich hätte etwas damit zu tun, nur weil jemand die gleichen Initialen hat, wie ich? Wie sollte ich das machen?« Seine Atmung wurde schneller.
Hope zuckte leicht mit den Schultern. »Jenny wurde auf die gleiche Art und Weise getötet wie Ihre Opfer.« Sie nannte das Opfer absichtlich bei dem Vornamen, um eventuell eine Regung in seinem Gesicht zu sehen. Aber da war nichts. »Niemand wusste davon, dass Sie Ihre Opfer gebrandmarkt haben.«
»Vielleicht ist es ja jemand aus den eigenen Reihen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht? Vielleicht war es dieser rüpelhafte Lieutenant, der mich hier eingesperrt hat?«
Sie hielt seinen Blick stand. »Wir haben Ihr Sperma an Jenny gefunden. Können Sie mir erklären, wie diese an das Opfer gelangen konnte?«
»Denken Sie, ich wäre hier ausgebrochen, hätte jemanden getötet, vergewaltigt, was ich zudem verabscheue, und wäre dann wieder zurück in dieses Höllenloch, damit ich nicht zum zweiten Mal für lebenslänglich verurteilt werde?« Er lachte verächtlich auf.
Oder wollte er beweisen, dass er zurechnungsfähig war, um endlich hier rauszukommen, dachte Hope.
»Vielleicht haben Sie einen Komplizen in der Klinik, der Ihnen alle Türen öffnet, damit Sie weiter töten können, um Ihren Drang zu befriedigen«, sagte sie. »Sie haben schließlich nichts zu verlieren.«
»Ich dachte, Sie verstehen mich. Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich keinen Drang habe zu töten. Ich hatte eine Mission und diese habe ich erfüllt. Ich habe Sie sogar darum gebeten, mich aufzuhalten! Wieso kommen Sie hierher, unterstellen mir diese grausame Tat und das ausgerechnet heute?« Boyed schlug mit der Faust auf den Tisch und erhob sich.
Hope erschrak, hatte sich aber trotz allem unter Kontrolle und konnte dem Reflex wegzurennen und sich in Sicherheit bringen, widerstehen.
»Setzen Sie sich wieder, Mr. Boyed. Wir sind noch nicht fertig.« Sie wusste, er würde ihr nichts tun, nicht einmal in diesem Gemütszustand. Doch eines verwirrte sie. Welcher Tag war heute, und wieso brachte genau dieser Tag ihn aus der Fassung? Dann lief Boyed plötzlich zur verschlossenen Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen.
»Wachen, das Gespräch ist zu Ende. Schafft sie sofort hier raus!«
Es dauerte nur ein paar Sekunden bevor die Tür aufging und James eintrat. Boyed stellte sich vorbildlich mit gehobenen Händen ans andere Ende des Zimmers, wie es die Regeln in der Anstalt waren, wenn einer der Sicherheitsleute oder Pfleger den Raum betraten. Seine Atmung ging immer noch schnell.
»Was ist hier los?«, fragte James.
»Das Gespräch ist zu Ende«, antwortete Hope entrüstet über ihren Fehlschlag und verließ das Zimmer.
Kaum stand sie auf dem Gang, stürmte Dr. Harson auf sie zu. »Was haben Sie mit meinem Patienten gemacht?«, fauchte sie. Speichel flog bei jedem Wort aus ihrem Mund.
»Nichts. Ich habe eine normale Unterhaltung mit ihm geführt, bis er die Fassung verloren hat.«
»Sie haben alles zunichte gemacht. Ich werde es Ihnen verbieten, weiterhin mit meinem Patienten zu sprechen und in irgendeiner Weise Kontakt mit ihm aufzunehmen.«
»Das werden wir sehen«, entgegnete Hope scharf. Ihre leichte Bestürztheit über Boyeds Ausbruch wurde von einer Sekunde zur anderen von Wut abgelöst.
Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter. Es war James. Er drängte sich zwischen sie und die keifenden Psychaterin.
»Alles in Ordnung bei dir?« Er klang besorgt.
»Ja, alles okay. Danke.«
James schob Hope in Richtung Treppe. Hope wischte James Hand von ihrer Schulter. »Ich muss kurz an die frische Luft.« Sie lief die Treppe mit schnellen Schritten nach unten. Raus! Sie musste hier raus. Als sie vor die Tür trat, hob Dexter alarmieret den Kopf und stellte die Ohren auf.
Hope fühlte sich schlecht. Zweifelte an ihrer Beobachtungsgabe, da sie Boyeds Reaktion nicht vorhergesehen hatte. Hatte sie einen Fehler gemacht? Und welcher Tag war heute?
Sie ging zu ihrem weißen Alfa Romeo Giulia – Dexter folgte ihr. Sollte sie einfach verschwinden, nach Hause fahren? Doch anstatt einzusteigen, lehnte sie sich an die Fahrertür, kramte in der Handtasche und nahm eine Zigarette heraus. Hastig zündete sie sie an und nahm einen tiefen Zug. Dexter drückte sich an ihr Bein.
Hatte sie etwas Falsches gesagt, das ihr nicht bewusst war? Vielleicht war sie doch nicht so gut in dem Job, wie sie geglaubt hatte, wenn sie sich nicht einmal mehr an ihre eigenen Worte erinnern konnte? Hatte sie nun die Verbindung zu Boyed verloren? Nicht nur, weil Dr. Harson strikt dagegen war, dass sie ihn noch einmal treffen durfte. Vielleicht wollte Boyed das ja gar nicht mehr.
Hope hörte Schritte auf sich zukommen. Ihr Blick fiel auf ihre Zigarette. Schnell wollte sie sie fallen lassen, doch Logan stand bereits neben ihr.
»Ich hätte Ihnen gar nicht zugetraut, eine von uns zu sein. Eine Raucherin.« Ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Es sollte auch keiner wissen und hier auf dem Gelände ist es
strengstens verboten.«
»Na, wenn das so ist«, entgegnete er und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an.
»So einer sind Sie also. Sie kämpfen für das Gesetz, aber die Gesetze gelten nicht für Sie.«
»Nicht ganz. Aber Sie wissen ja, wie das in unseren Berufen ist. Man kann nicht immer die Regeln einhalten, um zu gewinnen. Ein faires Spiel hat man selten. Leider.« Er machte eine kurze Pause. »Möchten Sie mir erzählen, was da drin passiert ist?«
»Erst haben wir über seinen Tagesablauf gesprochen. Die Klinik langweilt ihn und er ist unzufrieden. Meiner Meinung nach bekommt er hier nicht die angemessene Therapie, die er braucht. Er wird nicht richtig verstanden und die Vorurteile über seine Person werden stark vertreten. Anschließend habe ich ihm von der gefundenen Leiche berichtet. Danach habe ich die Beweise erwähnt. Habe ihm von den Initialen und seiner DNA erzählt. Als ich ihm meine Theorien erläuterte, wurde er wütend und hat auf den Tisch geschlagen. Den Rest kennen Sie ja.«
»Was denken Sie? Hat er etwas damit zu tun?«
»Er hatte keinen Grund dazu, wieder zu morden. Wie er schon sagte, seine Mission seine Tochter zu rächen ist zu Ende. Und ich glaube ihm.«
Logan nickte verständnisvoll. Vorsichtich legte er seine Hand auf die ihre und drückte sie sanft.
»Darf ich Sie morgen auf einen Kaffee einladen? Ich würde gerne den Fall aus Ihrer Sicht betrachten.«
Der abrupte Wechsel brachte sie zum Schmunzeln. »Vielen Dank, aber ich trinke keinen Kaffee.«
Hope bemerkte, dass ihm die Worte fehlten und schritt ein. »Ich trinke keinen Kaffee, aber Sie dürfen mich gerne auf eine Tasse Tee einladen.« Sie zwinkerte ihm frech zu.
Logan starrte sie verwirrt an und Hope gab ihm einen Klaps gegen die Brust.
»Sie hätten Ihren Blick sehen müssen. Der wird mir den ganzen Tag versüßen. Sie Macho.«
Sie ging zurück zur Klinik, Dexter wie immer an ihrer Seite, drehte sich einmal um und sagte: »Kommen Sie? Ich möchte den Klinikleiter Dr. Green in seinem Büro sprechen.«
Logan schien immer noch perplex, schüttelte den Kopf, tat es dem Hund gleich und lief ihr hinterher.
*
Das Büro des Klinikleiters befand sich im Erdgeschoss des rechten Flügels. Es passte ganz und gar nicht in das Gesamtbild der Klinik. Dieser Raum unterschied sich von den anderen Teilen der Klinik, da hier deutlich mehr Geld investiert worden war. Das Interieur war aus massiven Nussbaum. Es bestand aus einem langen Sekretär, welcher mit Gold verziert war. Davor standen Ledersessel wie in den Patientenzimmern, nur waren diese nicht abgenutzt, sondern schienen nagelneu zu sein. Ein schwarzer, opulenter Bürostuhl drohte, den Klinikleiter zu verschlingen. Bücherregale reichten bis zur Decke und kolossale Aktenschränke ließen den Raum düster und finster wirken. Ein typischer Büro-Ficus Benjamina stand kurz vor dem Verwelken und versuchte mit aller Kraft die letzten Sonnenstrahlen an diesem Tag einzusaugen. Green deutete den Ermittlern, Platz zu nehmen. Da es nur zwei Sitzgelegenheiten gab, verzog sich Logan in den Hintergrund und musterte die unzähligen Bücher. Die meisten hatten lateinische Titel.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass das Gespräch mit unserem Patienten nicht gut verlaufen ist.«
»Es war lediglich ein emotionaler Ausbruch«, versuchte Hope Boyed zu verteidigen.
»Da bin ich Ihrer Meinung. Trotzdem muss ich Dr. Harson in ihrer Entscheidung unterstützen und Ihnen den weiteren Zugang zu unserem Patienten verwehren. Jeglicher Stress während der Stabilisierungsphase verzögert die Heilung und wirft den Prozess Monate zurück. Das verstehen Sie sicher.«
»Er zählt zu den Verdächtigen«, mischte sich James in das Gespräch ein. »Sie können uns nicht verbieten mit ihm zu sprechen.«
»Nun, das kann ich sehr wohl, wenn es die Gesundheit eines Patienten gefährdet. Von jetzt an werden Sie nur noch mit Dr. Harson in Kontakt treten. Mr. Boyed braucht eine erfahrene Psychologin. Jemand, der etwas vom Fach versteht. Eben jemand wie Dr. Harson«, sagte Green und dabei lächelte er Hope an.
James musterte Hope genau. Ihrem Blick nach zu urteilen, ging sie innerlich gerade ihr Entspannungsmantra durch. Sie ließ sich von Green sicher nicht provozieren, so gut kannte er sie bereits. Doch er dachte, dass Green mit den Sticheleien nicht aufhören würde, solange Hope anwesend war.
»Am besten, du wartest draußen, Hope.«
Hope tat wie ihr geheißen und verließ zusammen mit Logan den Raum.
»Zurück zum Thema. Können Sie sich vorstellen, wie und ob Boyed es überhaupt geschafft haben könnte, hier unbemerkt auszubrechen? Könnte ihm jemand geholfen haben?«
»Möchten Sie uns etwa unterstellen, unsere Einrichtung wäre nicht ausbruchssicher oder jemand der Angestellten gar bestechlich?«
»Wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen.«
»Ich vertraue unserem Personal voll und ganz. Die Angestellten werden von Kopf bis Fuß überprüf, bevor sie eingestellt werden. Sie können also davon ausgehen, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht.«
»Davon gehe ich aus – schließlich befinden sich einige der gefährlichsten Männer des Landes in Ihrer Obhut. Und daher brauche ich Ihre volle Unterstützung in diesem Fall. Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer es mit den Regeln nicht so eng sieht?«
Green schaute James abfällig an, jedoch schien er zumindest über die Frage nachzudenken. »Es gibt einen Mitarbeiter, der ab und zu seine Pausenzeiten nicht einträgt«, sagte er schließlich.
»Haben Sie ihn schon einmal darauf angesprochen?«
»Sicher. Er meint, er vergisst es einfach«, gab er knapp zurück.
Immer das Gleiche, dachte James. Bei Unterstellungen waren sie schnell, doch wenn die Herrschaften etwas preisgeben sollten, was ihre Verantwortung betraf, musste man es ihnen aus der Nase ziehen.
»Bitte bereiten Sie eine Liste aller Mitarbeiter vor und markieren Sie diejenigen, mit denen es Problemen gab. Legen Sie noch die Zeiterfassung der Zugangskarten der Angestellten bei.«
»Ich werde meiner Sekretärin Bescheid geben.« Er machte sich nebenbei Notizen.
»Wir brauchen auch die Überwachungsbänder.«
Auf einmal wirkte Green nervös. »Das … das geht nicht. Wir garantieren jedem unserer Angestellten und Patienten, die Privatsphäre zu achten. Das ist unser höchstes Gebot.« Er versteckte die Hände unter dem Schreibtisch.
»Haben Sie etwas zu verbergen, Dr. Green?«
Green ging nicht auf seine Fragen ein. »Sie dürfen das Videomaterial nur mit einem Durchsuchungsbeschluss einsehen«, sagte er stattdessen.
»Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Ich hatte nur auf Ihre Zusammenarbeit gehofft, ohne zu einem Richter gehen zu müssen, um ihm mitzuteilen, dass sie nicht kooperieren.«
Green zögerte und überlegte. Er ließ sich Zeit. Zu viel Zeit. Als würde er ernsthaft einen Fluchtversuch in Betracht ziehen. Widerwillig stand er auf, ging zu einem Bücherregal und öffnete einen Schrank, der sich hinter dem Regal befand. Dort waren unzählige Festplatten und CDs gestapelt. Dies waren Kopien der Überwachungsbänder von mindestens einem Jahr. Green musste nicht lange nach der CD suchen, da es die erste war, die auf dem Stapel lag und mit dem Datum der letzten Woche versehen war. Mit gestraften Schultern überreichte er James das Überwachungsband.
»Die Videos sind in verschiedenen Ordnern sortiert. Sie sollten also gleich den richtigen finden und müssen nicht das gesamte Material durchsuchen.
»Das ist reine Routine, das machen wir sowieso. Vielen Dank für Ihre Kooperation«, gab James lächelnd zurück.
James stand auf und verließ den Raum. Vor dem Gebäude wartete Hope bereits auf ihn. Sie kam ihm entgegen und sagte: »Ich hoffe, du hast ihn schwitzen lassen.«
»Natürlich. Green ist ein sexistisches Arschloch. Er will sich groß aufspielen. Das hat nichts mit deiner Arbeit zu tun.«
Hope verzog ihren Mund zu einem frechen Lächeln. James würde immer hinter ihr stehen und sie verteidigen, denn er wusste, dass sie die Beste in ihrem Job war. Dexter schmiegte sich an sein Bein und wurde mit einem sanften Ohrenkraulen belohnt.
»Höchstwahrscheinlich werden wir etwas Heikles auf den Überwachungsbändern finden. Mein Gefühl sagt mir, es wird seiner Karriere sehr schaden.«
Hope lächelte James dankbar an. »Schick mir bitte alle Daten auf den Laptop. Dann kann ich es in Ruhe zu Hause durchgehen.« Sie wandte sich an Logan. »Und Sie holen mich morgen ab?«
»Um acht Uhr stehe ich bei Ihnen auf der Matte.«
Hope nickte und ging mit Dexter zu ihrem Wagen. Der Kies knirschte unter den Reifen des Wagens, als sie die Ausfahrt hinausfuhr.
»Was ist denn Morgen um acht Uhr?«, fragte James skeptisch.
»Ich hab Sie auf eine Tasse Tee eingeladen.«
»Wozu?«
»Nur so. Außerdem – musst du denn alles wissen?«
»Ja, muss ich. Lass die Finger von Hope.«
Logan hob verteidigend die Hände. »Keine Sorge. Ich möchte gerne den alten Fall durchgehen. O’Reilly hat eine völlig andere Sichtweise als wir es haben. Vielleicht kommt ja dabei etwas heraus.«
»Aha. Nichts weiter?«
»Bruderehrenwort.« Logan kreuzte die Finger vor der Brust.
James zog die Augenbrauen hoch. »Vergiss nicht, ich bin hier der Boss.«
Logan nickte und James war sich bewusst, dass sein Bruder das Versprechen nicht halten würde.