Читать книгу Ohne dich - Michaela Santowski - Страница 5
Chicago
ОглавлениеZwei Tage später fand sich eine ziemlich mürrische Beatrix auf dem Flughafen ein. Zu allem Überfluss hatte sie den Wecker morgens nicht gehört und verschlafen. Leider schaffte sie es nicht mehr pünktlich zu der Vorbesprechung. Bei dieser Besprechung wurden die einzelnen Positionen im Flugzeug den jeweiligen Stewardessen zugeteilt. Die Dienstälteste durfte sich die erste Position aussuchen, dann die zweitälteste und so weiter. Natürlich waren die Dienstältesten immer in der First Class vertreten, da man dort meist die angenehmeren Passagiere hatte. Trotz ihrer dreijährigen Zugehörigkeit, musste Bea die Position im Flugzeug nehmen, die ihr zugeteilt wurde. Das bedeutete, dass sie an der sogenannten Dreiertür stand. Dort saß man den Passagieren bei Start und Landung quasi direkt gegenüber, während an anderen Türen meist noch Wände dazwischen waren. Man war ihnen sozusagen vollkommen ausgeliefert. Wenn man Glück hatte, waren die zwei gegenüber Morgenmuffel und ließen einen in Ruhe. Wenn man Pech hatte, waren sie genau das nicht und laberten einen so dicht, dass man sich nicht in Ruhe auf den Start konzentrieren konnte. Man konnte den Passagieren allerdings auch schlecht sagen, dass sie einfach mal die Klappe halten sollen. Obwohl Bea schon etliche Male kurz davor gewesen war.
Außerdem war die Dreiertür ein Platz, an dem man anscheinend irgendwie unsichtbar wurde. Die einsteigenden Gäste ignorierten einen selbst dann, wenn man freundlich lächelte und ihnen einen guten Morgen wünschte. Und man bekam ständig Mäntel und Jacken um die Ohren gehauen, wenn die Leute sich nach ihren Angehörigen umdrehten, um zu schauen, ob diese ihnen auch folgten. Bea hatte die Theorie, dass keiner damit rechnete, dass eine Flugbegleiterin auch in der Kabine stehen konnte und nicht nur direkt an der Eingangstür oder im Bereich der Bordküche.
Trotz der Tatsache, dass Bea schon mehrere Mäntel ins Gesicht bekommen hatte und niemand ihr Guten Morgen erwiderte, versuchte sie tapfer weiter zu lächeln. Als ein jüngerer Mann ihr seinen Trolley gegen das Schienbein schlug, weil er sich nach seiner Freundin umdrehte, reichte es ihr allerdings.
„Aua. Ein bisschen Rücksicht ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Auch nicht morgens um 8.“
Der Mann ignorierte sie einfach und ging weiter.
„Ich werde schon rausfinden, wo du sitzt und dann gnade dir Gott“, murmelte Bea in sich hinein, während sie ihr schmerzendes Schienbein rieb. Als sie wieder hochschaute, um die Gäste weiter zu begrüßen, blieb ihr das Guten Morgen im Hals stecken. Noch etwa sieben Passagiere von ihr entfernt, erblickte sie einen jungen Mann, der ihr nicht nur auffiel, weil er fast zwei Meter groß war, sondern weil er tatsächlich in ihre Richtung lächelte. Je näher er kam, desto nervöser wurde Bea. Als er kurz vor ihr war, sagte er: „Ich wünsche Ihnen einen Guten Morgen. Und ich verspreche, dass ich meinen Trolley nicht gegen Ihr Schienbein schlagen werde.“
Bea lächelte ihn einfach an.
„Lassen Sie mich vorbei? Ich habe den Platz vor dem Sie stehen“, fragte er höflich.
Immer noch lächelnd trat Bea einen Schritt zur Seite. Es wunderte sie, dass ihre Beine ihr nicht den Dienst versagten. Dieser Mann hatte eine Wirkung auf sie, die sie so noch nie erlebt hatte. Seine Augen waren von einem satten Grün, das Bea an eine Wiese im Sommer erinnerte, kurz bevor es anfing zu regnen. Sein Lächeln würde jeden Hollywoodstar in den Schatten stellen. Trotz seiner Größe hatte er eine sportlich, schlanke Figur, an der auch nicht ein Gramm Fett zu viel war. Die kurzgeschnittenen dunklen Haare waren noch nass, so als käme er direkt aus der Dusche. Wenn sie allerdings nicht bald ihre Sprache wiederfand, würde er sie noch für völlig bescheuert halten. Bea beschloss, sich einfach auf die hereinkommenden Passagiere zu konzentrieren und ihn erst mal zu ignorieren, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Leider war sie sich seiner Nähe ziemlich deutlich bewusst. Auch merkte sie, dass er sie unverhohlen von seinem Platz aus beobachtete. Und ihr wurde auch bewusst, dass sie die Frau vor ihr ziemlich dusselig anlächelte und diese langsam böse wurde.
„Sie sollen mich nicht nur dumm angrinsen, sondern mir sagen, wo ich mein Handgepäck hin räumen kann, wenn das Fach über meinem Platz schon voll ist.“
Anscheinend hatte die Dame sie schon ein paar Mal angesprochen. Bea riss sich zusammen und antwortete: „Entschuldigung. Ich habe nur nachgedacht, wo wir noch Platz haben könnten.“
Klasse, Bea, das war die beknackteste Ausrede, die dir einfallen konnte. Und absolut durchschaubar. Nach einem kurzen Blick auf ihren Traummann sah sie, dass er schmunzelte. Und er hat es auch bemerkt, dachte sie. Ärgerlich über sich selber, wuchtete Bea das reichlich schwere Handgepäck der Dame in ein freies Fach.
„Das ist viel zu weit weg von meinem Platz“, beschwerte sie sich sofort. „Ich muss da oft dran.“
„Tut mir leid. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht“, entgegnete Bea liebenswürdig. Solche Passagiere liebte sie. Hätte sie es doch einfach als Gepäck aufgegeben und nur eine kleine Tasche als Handgepäck gepackt, hätte sie auch keine Probleme gehabt.
„Und wenn ich es unter meinen Vordersitz schiebe?“
War ja klar, dass so ein Vorschlag noch kommen musste. Mit unendlicher Geduld erklärte Bea: „Dafür ist es leider zu groß. Das ist nicht erlaubt.“
„Also da kann es jedenfalls nicht bleiben.“ Resolut verschränkte die Frau ihre Arme vor der Brust und blickte sie stur an.
„Gut“, gab Bea nach. „Ich komme mit zu ihrem Platz und sehe, ob wir etwas umräumen können.“
„Warten Sie“, sagte Beas Traummann, als sie das Gepäck wieder herunter heben wollte. „Ich helfe ihnen. Das ist bestimmt nicht leicht.“
Und ehe Bea es verhindern konnte, stand er auf und griff nach dem kleinen Koffer. Da es in einem Flugzeug recht eng ist, stand er sehr nah bei ihr. Bea nahm den leichten Duft von Rasierwasser wahr; irgendetwas Zitroniges. Ihr Herz fing wie wild an zu klopfen.
„Bitteschön“, sagte er mit diesem umwerfenden Lächeln.
„Äh-danke“, entgegnete Bea und nahm ihm schnell die Tasche ab. Nicht, dass er noch auf die Idee kam, diese zum Platz der Dame zu bringen. Bea war nämlich recht dankbar dafür einen Moment verschwinden zu können. Sie musste dringend durchatmen und ihre völlig verrücktspielenden Gefühle unter Kontrolle bekommen. Nachdem sie das Handgepäck der Dame direkt über ihrem Platz verstaut hatte, ging sie erst mal in die Küche.
„Hey, was willst du denn hier? Wer bewacht denn jetzt deine Tür?“ fragte ihre Kollegin gespielt streng.
„Leider komme ich im Moment nicht zu meiner Tür, da mir viel zu viele entgegen kommen.“
„Na gut, kann ich gelten lassen. Die Passagiere sind heute mal wieder fürchterlich gelaunt. Na ja, wäre ich wahrscheinlich auch, wenn ich nach Chicago müsste. Dort ist es saukalt. Die haben tatsächlich minus 18 Grad im Moment.“
„Danke, dass du mich daran erinnerst. Ich friere schon bei dem Gedanken daran. Wenigstens sind wir nur 24 Stunden dort. Und ich werde das Hotel auf gar keinen Fall verlassen.“
Die nächste halbe Stunde waren die Flugbegleiter damit beschäftigt, alles für den Start vorzubereiten und in der Kabine zu überprüfen, ob die Passagiere auch ordnungsgemäß angeschnallt waren. Nachdem der Check durchgeführt worden war, trafen sich alle in der Bordküche, auch Galley genannt.
„Das kann ja ein netter Flug werden. Gott sei Dank beträgt die Flugzeit nur acht Stunden.“
„Du musst dich grade beschweren. Auf deiner Seite sitzen doch kaum Leute.“
„Aber die paar, die dort sitzen, sind fast alle schlecht gelaunt. Manchmal fällt es einem wirklich schwer zu lächeln.“
„So, ihr Lieben“, kam der Purser in die Galley, „auf die Plätze. Es geht gleich los.“
In dem Moment wurde Bea bewusst, dass sie sowohl beim Start als auch bei der Landung dem Traummann genau gegenüber saß. Das kann ja heiter werden, dachte sie und machte sich auf den Weg zu ihrem Sitz.
Vor dem Start musste ein Flugbegleiter in Gedanken noch einmal alle Eventualitäten, die passieren könnten, durchgehen, damit man im Falle eines Falles vorbereitet ist. Bea versuchte verzweifelt sich auf ihren sogenannten thirty-second-review zu konzentrieren. Allerdings gelang ihr das nicht. Angestrengt starrte sie aus dem kleinen Fenster. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass er sie beobachtete.
„Da wir ja jetzt mindestens acht Stunden nebeneinander sitzen, sollten wir uns vielleicht vorstellen. Mein Name ist Hans“, hörte Bea seinen Sitznachbarn zu ihm sagen.
„Hallo, Hans. Ich heiße Patrick.“
Die beiden reichten sich die Hand.
„Und Patrick, was führt dich nach Chicago?“
Jetzt war es endgültig aus mit Beas Konzentration. Sie spitzte die Ohren.
„Ich lebe dort. Ich war geschäftlich in Frankfurt.“
„Dann fliegst du diese Strecke wohl recht häufig?“
„Kann man sagen. Ich bin sehr viel unterwegs. Meistens allerdings in Südamerika.“
Sein Sitznachbar fing daraufhin an über sein Geschäft zu reden. Bea hörte nicht mehr hin. Patrick hieß er also. Und anscheinend war er nicht so häufig in Frankfurt. Er würde jedenfalls kaum über Deutschland fliegen, wenn er nach Südamerika musste. Allerdings war das nicht so schlimm. Schließlich hatte Bea die Möglichkeit ebenfalls nach Südamerika zu fliegen und sich dort mit ihm zu treffen. Stopp, dachte sie entsetzt. Was überlegst du denn da? Das geht jetzt wohl doch ein wenig zu weit.
Mittlerweile waren sie in der Luft und Bea wartete auf das Ausgehen der Anschnallzeichen, damit sie aufstehen konnte, um in der Galley ihren Aperitif-Wagen aufzubauen.
„Wie ist denn das Wetter in Chicago?“, hörte sie eine dunkle Stimme fragen.
Bea schaute hoch. Patrick lächelte sie erwartungsvoll an.
„Minus 18 Grad“, antwortete sie einsilbig.
„Oh je, da wäre ich doch wohl lieber in Frankfurt geblieben. Da hatten wir nur minus fünf Grad. Fliegen Sie gleich wieder zurück?“
„Nein.“ Wieder nur ein Wort.
„Wie lange bleiben Sie denn dort?“
„Vierundzwanzig Stunden.“
„Mache ich Sie irgendwie nervös? Sie sind ziemlich kurz angebunden.“ An der Art, wie Patrick sie ansah, mit diesem spöttischen und doch gleichzeitig lieben Blick, merkte sie, dass die Zweideutigkeit der Frage durchaus gewollt war. Und endlich fand sie zu ihrem alten Selbst zurück.
Sie schenkte ihm ein strahlenden Lächeln und antwortete: „ Ich kann mir weitaus schlimmere Arten vorstellen, abgelenkt zu werden, als von einem interessanten Mann gefragt zu werden, wie lange man in Chicago ist.“
Er sah sie einen Moment verdutzt an und fing dann an zu lachen. „Das geschieht mir jetzt wohl recht“, entgegnete er als er sich wieder beruhigt hatte.
„Ich schätze schon.“ Auch Bea lächelte.
„Normalerweise würde ich jetzt aufstehen und Ihnen die Hand reichen, um mich vorzustellen. Allerdings sagen die Zeichen, dass ich das nicht darf. Dann muss es eben einfach so gehen. Mein Name ist Patrick.“
„Mein Name ist Beatrix.“
„Freut mich, dich kennen zu lernen.“
„Ganz meinerseits.“
„Warst du schon oft in Chicago?“
„Nein. Ein oder zweimal. Und jedes Mal war es zu kalt, um das Hotel zu verlassen. Wie wohl auch dieses Mal.“
„ Das ist wirklich sehr schade. Es ist eine wunderschöne Stadt.“
„In 24 Stunden kann man wahrscheinlich sowieso nicht sehr viel von der Stadt sehen.“
„Leider nicht. Aber die Highlights auf alle Fälle.“
In diesem Moment gingen die Anschnallzeichen aus. Bea wollte eben ihren Gurt lösen, als eine ziemlich hübsche Blondine sich so vor sie stellte, dass sie unmöglich aufstehen konnte. Im ersten Moment dachte Bea, dass die blonde Frau wohl mal ziemlich dringend auf die Toilette musste, wenn sie so angeflitzt kam. Doch im nächsten Moment hörte sie, wie sie Patrick ansprach, dass sie auch noch nie in Chicago war und eben das Gespräch mit der Stewardess mit angehört hätte und so erfahren habe, dass er sich in Chicago wohl auskennen würde. Ob er ihr sagen könnte, was man sich denn unbedingt in dieser wunderschönen Stadt angucken sollte. Sie wäre eine ganze Woche dort.
Patrick antwortete freundlich, dass es eine ganze Menge gäbe.
„Vielleicht können Sie mir ein paar von den Highlights zeigen?“
„Wenn ich die Zeit finde, gerne. Geben Sie mir einfach Ihre Telefonnummer, unter der ich Sie erreichen kann.“
Die Blondine lachte affektiert auf, nahm einen Stift in die Hand und wollte die Nummer ihres Hotels aufschreiben.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Bea. „Ich müsste mal dringend vorbei, damit ich mit dem Service anfangen kann.“
„Ja, Moment noch. Sie sehen doch, dass ich am Schreiben bin.“
Bea atmete hörbar die Luft ein.
„Vielleicht lassen Sie die Flugbegleiterin erst raus“, mischte Patrick sich ein. „Dann haben Sie auch mehr Platz.“
Dankbar, sich das Gesülze der Blondine nicht mehr anhören zu müssen, blickte Bea ihn an. Die Frau trat einen Schritt zur Seite und Bea die Flucht an.
Zwanzig Minuten später schoben sie und ihre Kollegin den Trolley mit den Getränken durch die Kabine. Dabei stellte Bea fest, dass es sich die Blondine mittlerweile auf dem Sitz der Flugbegleiterin bequem gemacht hatte und sich kokett zu Patrick rüber beugte. Na warte, dachte Bea. Abrupt hielt Bea den Trolley an, setzte ein zuckersüßes Lächeln auf und erklärte in sanftem Ton: „Entschuldigen Sie bitte. Aber dies ist ein Sitz nur für Flugbegleiter. Ich möchte Sie doch bitten, sich entweder hinzustellen oder auf Ihren Platz zurückzugehen.“
„Aber im Moment benötigen Sie ihren Platz doch gar nicht“, warf Blondie leicht verstimmt ein.
„Das stimmt zwar, aber Sie müssen auch verstehen, dass, wenn wir jetzt eine Ausnahme machen würden, es sehr schwer wäre die Leute wieder von diesem Platz zu vertreiben, wenn wir ihn dann wirklich benötigen.“
Die Blondine sog hörbar die Luft ein. „Dieser Logik kann ich leider nicht folgen.“
Dieser Logik willst du gar nicht folgen, dachte Bea. Laut sagte sie: „Tut mir wirklich leid, aber Anweisungen sind Anweisungen.“
Mürrisch stand sie auf.
Patrick betrachtete Bea schmunzelnd.
„Anweisungen sind Anweisungen?“ fragte ihre Kollegin als sie ein Stück weiter gegangen waren. „Diese Anweisung kenne ich gar nicht.“
„Na hör mal. Die kann sich doch nicht einfach auf meinem Platz breit machen. Ich setze mich auch nicht auf ihren.“
„Ich hatte das Gefühl, dass sie sehr gerne mit dir die Plätze getauscht hätte, auch wenn dein Sitz wesentlich unbequemer ist als ihrer. Der Ausblick ist auf jeden Fall netter.“
„Die soll bloß aufpassen. Alles muss ich mir nun auch nicht gefallen lassen.“
„Das hat nicht zufällig was mit dem jungen Mann zu tun?“
„Lass uns lieber mit dem Aperitif anfangen.“
Die nächsten vier Stunden war Bea völlig ausgelastet. Nach dem Aperitif mussten sie abräumen. Dann wurde das Essen serviert. Als sie damit hinten fertig waren, fingen sie vorne wieder mit dem Einsammeln an. Zwischendurch mussten sie noch Gläschen für die sich an Bord befindenden Babys warm machen und immer wieder die Galley aufräumen, da der Platz beschränkt war und nicht auch noch unnötig zugestellt werden sollte. Nach dem Essen folgte der Digestif-Wagen und dann Kaffee. Als das alles erledigt war, ging Bea mit einem Tablett voller Schokoriegel durch die Kabine. Mittlerweile waren die Passagiere wach. Das bedeutete, dass Bea hier und dort mal etwas länger stehen blieb, um sich zu unterhalten und ein paar Fragen bezüglich ihres Berufes zu beantworten, die ihr auf jedem Flug gestellt wurden. So blieb ihr leider auch keine Zeit sich mit Patrick weiter zu unterhalten. Als sie endlich eine halbe Stunde Pause hatte, sah sie, dass die Blondine schon wieder bei ihm stand.
Die ist aber auch hartnäckig, dachte sie. Leider konnte Bea sie nicht vertreiben, da sie sich nicht hingesetzt hatte. Allerdings wollte sie sich schon gerne mit Patrick unterhalten. Und sie hatte nur diese halbe Stunde. Danach würde der zweite Service beginnen und dann waren sie auch schon da. Plötzlich hatte sie eine Idee. Vom Bordtelefon aus rief sie im Cockpit an. Der Kapitän meldete sich.
„Hallo, hier ist Beatrix von 3 links“, nannte sie ihren Namen und ihre Position an Bord.
„Was kann ich für dich tun, Beatrix?“
„Die Passagiere stehen im Gang herum und keiner kann mehr wirklich durch. Die Kollegen vom Bordverkauf haben ihre liebe Mühe den Wagen durch die Gänge zu kriegen. Können wir vielleicht die Anschnallzeichen haben, damit wir die Leute wieder auf ihre Plätze schicken können?“
„Klar, kein Problem. Wird sofort erledigt.“
Es war tatsächlich auf den Flügen öfter mal der Fall, dass genervte Flugbegleiter zu diesen Hilfsmitteln griffen. Allerdings meistens, wenn die Passagiere in der Küche standen, weil ihnen an ihren Plätzen zu langweilig war. Da die Flugbegleiter in der Küche immer viel zu tun hatten, war dies der einfachste Weg, sie los zu werden. Aber, so dachte Bea, im Krieg und beim Flirten sind alle Mittel erlaubt. Mit Freude registrierte sie, dass die Zeichen angingen. Lächelnd ging sie auf die Blondine zu und bat diese, mit einem Hinweis auf die Anschnallzeichen, sich doch bitte wieder auf ihren Platz zu begeben. Wenn Blicke töten könnten, wäre Bea auf der Stelle umgefallen. Irgendetwas vor sich hinmurmelnd verschwand sie. Bea nahm gegenüber von Patrick Platz.
„So, jetzt habe ich tatsächlich mal ein wenig Zeit.“
„Und da genau jetzt auch die Anschnallzeichen angegangen sind, musst du dich sowieso hinsetzen. Anscheinend erwartet das Cockpit arge Turbulenzen“, entgegnete er mit einem verschmitzten Lächeln.
Leider konnte Bea es nicht verhindern, dass sie rot wurde. Schnell antwortete sie: „Anscheinend. Wie lange lebst du denn schon in Chicago?“
„In diesem Jahr werden es vier Jahre. Eigentlich möchte ich auch nicht mehr weg. Aber heutzutage kann man nie wissen, wo einen der Job hinführt.“
„Stimmt. Da habe ich weniger Probleme. Ich kann leben, wo ich will. Hauptsache ich bin zu Dienstbeginn in Frankfurt.“
„Ja, du hast schon ein tolles Leben.“
„Die Außenstehenden denken immer, dass wir einen Traumjob haben. Aber glaubst du wirklich, es ist so angenehm, ständig in einer Röhre durch die Gegend zu fliegen, wo alles so eng ist, dass man sich dauernd im Weg steht. Und außerdem muss man sich des Öfteren von Passagieren, sagen wir mal, blöd von der Seite anquatschen lassen und trotzdem immer lächeln dabei.“
„Aber ihr könnt euch die Welt angucken.“
„Ja, genau. 24 Stunden Aufenthalt in Chicago reichen auch vollkommen aus, um sich alles anzuschauen“, erwiderte sie spöttisch.
„In 24 Stunden kann man eine Menge erleben.“
Irrte sie sich oder war da wieder eine Zweideutigkeit in seiner Bemerkung. Bea dachte lieber nicht genauer drüber nach und antwortete: „Allerdings. Nur leider muss man auch irgendwann mal schlafen. Und dann noch den Weg hin und zurück zum Flughafen samt Vorbereitungszeit. Da bleiben vielleicht noch zehn Stunde, die man für die Stadt erübrigen kann.“
„Aber ihr habt doch nicht überall nur so kurz Aufenthalt.“
„Nein. Es gibt schon Ziele, die sind wirklich beneidenswert. Da hat man dann vor Ort drei bis vier Tage frei. Trotzdem wiegt das die Nachteile dieses Berufes nicht wirklich auf. Man fliegt zum Beispiel so gut wie nie mit den gleichen Kollegen. Freundschaften schließen kann man fast vergessen. Jede Tour mit einer anderen Crew.“
„Gesellschaftlich ist das bestimmt nicht sehr fördernd“, stimmte Patrick zu. „Und beziehungstechnisch wohl auch nicht.“
„Auf keinen Fall. Jedenfalls nichts Ernsthaftes.“
Er lachte auf. „Ja, ich habe auch schon gehört, dass die Flugbegleiterinnen sich gerne auf kurze Abenteuer mit den Piloten einlassen.“
Und schon wieder wurde Bea rot. „So war das gar nicht gemeint. Und wenn überhaupt, ist das andersherum. Die Piloten lassen sich auf kurze Affären mit den Flugbegleiterinnen ein und gehen dann wieder nach Hause zu ihren Ehefrauen.“
„Da habe ich wohl einen wunden Punkt erwischt.“ Patrick legte den Kopf schief und schaute sie an.
„Nein, eigentlich stehe ich über diesen Dingen. Mich ärgert nur die öffentliche Meinung ein wenig. Das macht es uns Stewardessen nicht einfach, weil vielen denken, dass wir leicht zu haben sind. Und dann fassen sie auch schon mal gerne an.“
„Ich bin sicher, dass du dich wehren kannst.“
Bea lächelte. „Auf alle Fälle. Wer mich anfasst, bestimme immer noch ich.“
In diesem Moment kam der Purser vorbei und teilte ihr mit, dass sie bereits jetzt mit dem zweiten Service anfangen müssten, da sie dreißig Minuten früher als geplant in Chicago landen würden. Schweren Herzens erhob Bea sich und begann, die Vorbereitungen zu treffen.
„Vielen Dank für den angenehmen Flug“, bedankte sich Patricks Sitznachbar Hans bei ihr. Und an Patrick gewandt: „Wollen wir uns ein Taxi in die Stadt teilen?“
„Nein danke. Ich werde von meiner Freundin abgeholt.“
Das war das zweite Mal auf diesem Flug, dass es Bea fast umhaute. Diesmal allerdings nicht, weil sie verlegen war. Patrick hatte eine Freundin. Da lernte sie das erste Mal in ihrem Leben einen Mann kennen, der ihr buchstäblich die Sprache verschlug und dann hatte er eine Freundin. Und sie hatte sich eingebildet, dass er ihr gegenüber nicht abgeneigt war. So kann man sich täuschen.
„Also, Beatrix“, sagte Patrick und reichte ihr die Hand. „Es hat mich sehr gefreut, dass ich diesmal nicht wie ursprünglich geplant in der Business-Klasse geflogen bin. Und ich würde mich noch viel mehr freuen, wenn ich dir in deinen verbleibenden zehn Stunden ein bisschen von Chicago zeigen darf.“ Mit diesen Worten reichte er ihr seine Visitenkarte. „Ruf mich doch einfach an, wenn du im Hotel bist. Dann können wir was ausmachen.“
„Äh-danke. Ja, mache ich.“
Und schon war er weg. Bea schaute auf die Karte in ihrer Hand.
„Hey, alles klar? Der Flieger ist leer. Komm schon. Die anderen warten bereits.“ Ihre Kollegin stupste sie in die Seite. Bea beeilte sich ihr Handgepäck zu holen uns ließ sich dann mit dem Crew Bus ans Gepäckband fahren, um dort die Koffer abzuholen. Und während sie auf die Koffer wartete, sah sie Patrick, der seiner Freundin einen Kuss gab. Er hatte also doch nicht geflunkert, um den aufdringlichen Hans loszuwerden, wie sie bis zum Schluss gehofft hatte.
Als sie im Hotel ankamen, fragten die Kollegen, ob man noch gemeinsam etwas essen gehen würde. Bea sagte, sie sei zu müde und würde gleich ins Bett gehen.
Als sie auf ihrem Zimmer war, legte sie sich enttäuscht aufs Bett und starrte die Decke an. Nachdem sie das eine halbe Stunde lang getan hatte, griff sie zum Telefon und rief ihren besten Freund Sven in Deutschland an.
„Bea!? Ich dachte du bist in Chicago?“ Sven klang verdutzt.
„Bin ich auch.“
„Oh je, dann muss das ein echter Notfall sein. Sonst würdest du nicht die teure Telefonrechnung riskieren.“
„Es ist ein Notfall. Komm sofort her!“
„Alles klar“, sagte Sven lachend. „Ich mache mich gleich auf den Weg.“
„Schwindler.“
„Aber ein charmanter. Was ist denn los, Kleine?“
Bea schilderte ihm alles, von dem ersten Augenblick, wo sie Patrick gesehen hatte bis zu seinem Satz: Meine Freundin holt mich ab. Sven hörte schweigend zu ohne sie zu unterbrechen. Als Bea geendet hatte, hörte sie ihn seufzen: „Das ist wirklich ein Notfall. Ich habe noch nie erlebt, dass dich ein Mann so beeindruckt hat. Und ich kenne dich immerhin schon über dreizehn Jahre.“
„Und was soll ich jetzt machen? Ihn vergessen, oder? Schließlich kenne ich ihn erst seit acht Stunden. Da dürfte das wohl nicht so schwierig sein.“
„Wenn du meine ehrliche Meinung willst, dann ja. Vergiss ihn! Aber das willst du gar nicht hören. Du möchtest einen Ausweg aus dem Chaos. Also, hier ist mein Vorschlag: du rufst ihn jetzt an, schließlich hast du ihm das auch versprochen, und sagst ihm, dass du doch ein wenig zu erschöpft bist, um heute Abend noch auszugehen. Und dann wartest du ab, was dann so von ihm kommt.“
„Das ist alles?! Das soll deine Patentlösung sein? Und was, wenn seine Freundin ans Telefon geht?“
„Ganz ehrlich, Bea, das ist nicht deine Sorge. Wenn er dir schon seine Karte gibt, muss er das auch zuhause klären.“
„Bei dir klingt das alles so einfach“, entgegnete sie verzweifelt.
„Das ist es auch. Und wie du schon sagst: du kennst ihn erst seit acht Stunden. Du wirst es mit Sicherheit verkraften, solltest du ihn nicht wiedersehen.“
„Ja, ja, schon gut. Wir sehen uns übermorgen.“
„Auf alle Fälle. Ich muss ja wissen, wie das weitergeht.“
Bea legte den Hörer auf. Dann nahm sie Patricks Visitenkarte in die Hand, überlegte noch einen Augenblick, atmete tief durch und rief die angegebene Nummer an.
Es meldete sich, wie nicht anders zu erwarten, eine weibliche Stimme mit: „Hello?“
„Äh-ja-hello. I want to talk to Patrick.“
„Ach, Hallo. Sie müssen Beatrix sein, die Flugbegleiterin aus Deutschland. Patrick hat mir erzählt, dass er dank Ihnen einen sehr angenehmen Flug hatte.“
Bea war quasi sprachlos. „Ja, wir haben uns sehr nett unterhalten“, stotterte sie.
„Moment mal. Ich glaube, er kommt grade wieder rein.“
Sie hörte, wie sein Name gerufen wurde und ein paar Augenblicke später war er am Telefon.
„Hallo, Beatrix. Wie geht es dir?“
Alleine der Klang seiner Stimme ließ Beas Herz höher schlagen.
„Hallo, Patrick. Ich hoffe, ich habe dich nicht von einer wichtigen Arbeit abgehalten.“
Er lachte. „Wohl kaum. Das Säubern der Katzentoilette kann ruhig noch ein wenig warten.“
„Ich rufe auch nur an, um dir zu sagen, dass ich ziemlich fertig bin und doch lieber im Hotel bleibe.“
„Das ist sehr schade. Meine Freundin und ich hatten uns schon überlegt, wo wir mit dir essen gehen könnten, um dir zu zeigen, wie einzigartig Chicago ist.“
Bea verstand die Welt nicht mehr. Anscheinend hatte er keine Ahnung, wie tief er sie beeindruckt hatte. Sonst würde er ihr auf gar keinen Fall einen Abend gemeinsam mit seiner Freundin vorschlagen.
„Tut mir wirklich sehr leid. Ich kann mich ja melden, wenn ich das nächste Mal hier sein sollte“, antwortete sie und hoffte, dass die Verzweiflung nicht zu deutlich zu hören war.
„Wann fliegt ihr denn morgen zurück?“
„Um 14 Uhr Ortszeit geht es zum Flughafen.“
„Ich habe morgen früh um 8 Uhr einen Termin. Bis 10 Uhr sollte ich fertig sein. Warum treffen wir uns nicht um halb elf bei dir im Hotel? Dann kann ich dir noch ein ganz klein wenig von Chicago zeigen. Sozusagen als Anreiz, bald wiederzukommen.“
Zu ihrem Erstaunen hörte Bea sich zustimmen.
„Gut, dann treffen wir uns um halb elf in der Lobby. Ich rufe dich an, wenn ich da bin. Gib mir doch noch deine Zimmernummer.“
Bea nannte sie ihm und legte dann den Hörer auf. Na klasse, dachte sie. Auf was lässt du dich da bloß ein? Patrick hatte anscheinend wirklich keine Ahnung wie sie empfand und wollte einfach nur nett sein. Aber warum hatte er es dann nicht einfach bei ihrer Absage belassen? Warum wollte er sie unbedingt wiedersehen?
„Ach, Bea“, sagte sie laut zu sich selbst. „Lass es einfach auf dich zukommen und mach dir nicht so viele Gedanken. Genies den Tag morgen und vergiss ihn dann einfach.“ Doch leider wusste sie ganz tief in ihrem Inneren, dass das keineswegs so einfach war.