Читать книгу Nirvana - Michael Azerrad - Страница 4
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Wir schreiben den 9. April 1993 im Cow Palace in San Francisco. Elftausend Menschen – Grunge Kids, Sporttypen, Metalheads, Mainstream-Fans, Punks, kleine Kinder mit ihren Eltern, Hippie-Typen – sind gekommen, um den ersten US-Live-Auftritt von Nirvana seit sieben Monaten zu sehen. Manche sind dafür sogar eigens aus Los Angeles und Seattle angereist. Der Auftritt ist eine Benefizveranstaltung für die Vergewaltigungsopfer in Bosnien. Wenn man von einer siebenwöchigen Tour durch verschiedene Clubs Ende 1991 absieht, waren die meisten amerikanischen Fans nicht viel näher an ein Live-Konzert von Nirvana herangekommen als an ihren Fernsehauftritt in „Saturday Night Live“ vor über einem Jahr. In der Zwischenzeit ist eine ganze Menge passiert: Es gab Drogengerüchte, Trennungsgerüchte und Gerichtsverfahren. Gleichzeitig wurden weltweit ungefähr fünf Millionen Exemplare des Albums Nevermind verkauft. Und eine ganze Menge ist nicht passiert: eine Tour durch Konzertarenen in den Vereinigten Staaten, ein neues Album. Der Show kommt große Bedeutung zu.
Die Band kommt auf die Bühne, Kurt Cobain trägt eine wasserblaue Strickjacke, ein mit der Innenseite nach außen getragenes „Captain America“-T-Shirt und in Auflösung begriffene Blue Jeans. Er winkt kurz und nervös in die Menge. Er hat sich für den Anlass die Haare blond gefärbt. Ein Wust davon verdeckt seine Augen, ja sogar die gesamte obere Hälfte seines Gesichts.
Von den ersten Akkorden von „Rape Me“ an spielt die Band voller explosiver Kraft. Der Sound wird in Salven von der Bühne in die Menge katapultiert – „Breed“, „Blew“, „Sliver“, „Milk It“, „Heart Shaped Box“. Gegen Ende spielen sie ihren Hit, und obwohl Kurt die Anfangsakkorde fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt, werden die Moshers im Publikum zu Berserkern. Als schließlich zu den Klängen von „Lithium“ Feuerzeuge und Streichhölzer hochgehalten werden, weiß jeder Einzelne in diesem höhlenartigen Schuppen ganz genau, warum er Nirvana liebt.
Obwohl Chris Novoselic und Kurt mindestens zehn Meter voneinander entfernt stehen, bewegen sie sich und reagieren sie aufeinander, als wären sie viel näher beisammen; ihre Kommunikation ist mühelos. Irgendwann in der Mitte des Auftritts ruft Kurt zu Chris hinüber: „Ich fühl’ mich großartig! Ich könnte noch eine Stunde lang spielen!“ Und genau das passiert. Sie verdichten vierundzwanzig Songs in eineinhalb Stunden, darunter acht aus dem neuen, noch nicht erschienenen Album. Die Menge beklatscht die neuen Songs enthusiastisch, vor allem die wilde Attacke „Scentless Apprentice“ und das majestätische „All Apologies“, das sich in einem Nebel aus Mantra-Gesängen und Feedback auflöst.
Eddie Vedder von Pearl Jam beobachtet alles von der Seite der Bühne aus; unweit von ihm Dale Crover von den Melvins. Frances Bean Cobain ist bei ihrem Kindermädchen oben in der Garderobe ihres Vaters; Courtney kommt herunter und muss gleich einer Mineralwasserflasche aus Plastik ausweichen, die Kurt gerade achtlos wegwirft. Sie winkt ihm spöttisch zu.
Am Ende des Sets verschwinden Kurt, Chris und Dave Grohl hinter dem Schlagzeug und rauchen gemeinsam eine Zigarette. Sie diskutieren, welche Songs sie noch spielen sollen. Dann kommen sie zurück und geben eine halbstündige Zugabe aus sieben Songs, die ihren Höhepunkt in „Endless, Nameless“, der geheimnisvollen Schlussnummer von Nevermind, findet. Die Band beschleunigt den Gitarrenriff, über dem die Nummer liegt. Sie spielen wie in Trance. Kurt springt auf den Verstärkerturm und marschiert darauf herum. Er ist zwar nicht sehr hoch, aber trotzdem zieht er alle Aufmerksamkeit auf sich – wie ein Selbstmordkandidat, der auf einem Fenstersims balanciert. Die Musik wird noch schneller. Die Gitarren kreischen, Chris hat seinen Bass abgeschnallt und schwenkt ihn wild vor dem Verstärker; Dave Grohl drischt präzise und hemmungslos auf seine Trommeln ein. Als die Musik ihren Höhepunkt erreicht, wirft sich Kurt krachend in die Drums, Trommeln und Beckenständer fallen herunter. Das Schlagzeug sieht aus wie eine fleischfressende Pflanze, die sich öffnet, um ihr Opfer zu verschlingen. Ende der Show.
Die Leute fragen sich, ob Kurt in Ordnung ist. Das ist keine Show-Einlage, denn dann wäre die Bühne gepolstert gewesen. Vielleicht zieht Kurt eine Nummer ab wie ein Grundschulkind, das seine Nase zum Bluten bringt und sich das Blut dann ins Gesicht schmiert, um von einem älteren Schläger verschont zu bleiben – so eine Art „Ich verletzte mich lieber selber, bevor du es tust“ –, und das von dem Kerl, der das Konzert mit einem Lied namens „Rape Me“ („Vergewaltige mich“) eröffnet hat. Vielleicht ist es auch eine Hommage an zwei der Lieblingsstuntmänner Kurts: Evel Knievel und Iggy Pop. Oder ist er so aufgewühlt von der Musik, dass er unempfindlich für jeden körperlichen Schmerz ist wie ein aufgeputschter Swami, der über heiße Kohlen gehen kann? – Nach dem atemlosen und vor Begeisterung strahlenden Publikum zu urteilen, scheint Letzteres am ehesten zuzutreffen.
Nachher feiert der ganze Tross den triumphalen Auftritt im Innenhof des schicken Phoenix-Motels – alle außer Kurt und Courtney, die sich in ein elegantes Hotel auf der anderen Seite der Stadt zurückgezogen haben. Das Phoenix ist mit einigen bösen Erinnerungen für sie verknüpft, sagt Courtney. Außerdem sind die Badetücher zu klein. Aber auch ohne die beiden hat sich der Ort in ein kleines Nirvana-Dorf verwandelt. Dave und seine Mutter und seine Schwester sind da, Chris und Shelli, außerdem der immer lächelnde Gitarrentechniker Ernie Bailey mit seiner Frau Brenda, Tourmanager Alex Macleod, Licht-Designerin Suzanne Sasic, Leute vom Gold Mountain Management, Mark Kates von Geffen/DGC, sogar zufällig in der Stadt weilende Mitglieder von Love Battery aus Seattle. Chris besorgt aus dem nächsten Supermarkt eine Menge Bier, und die Party dauert bis in die frühen Morgenstunden.
Am nächsten Tag pilgert Chris zum City Lights Bookstore, dem sagenumwobenen Denkmal aus der Beat-Ära. Er geht zu einem Bankomaten. Dort steht ein Obdachloser und verkündet: „Gute Neuigkeiten, Leute! Wir freuen uns mitteilen zu können, dass wir zu Ostern auch 20-Dollar-Noten annehmen!“ Chris gibt ihm eine.
Die Show im Cow Palace war ein Triumph. Sie war ein weiterer Beweis dafür, dass eine Punkrock-Band, die den Mainstream-Jackpot geknackt hatte, nicht nur einen Zufallstreffer gelandet hatte. Dieser Erfolg würde Auswirkungen haben, nicht nur für die Band selbst, sondern für alle Bands, die so wie sie waren, vielleicht sogar für das kulturelle Leben ganz allgemein. So sagte etwa Kim Gordon von Sonic Youth: „Wenn eine Band wie Nirvana aus dem Underground ganz nach oben kommt, dann drückt das eine echte Bewegung in der Kultur aus. Das ist nicht nur eine kommerzielle Angelegenheit.“
Was sich da in der Kultur bewegte, spiegelte sich nicht nur im Klang der Musik wider. Mindestens genauso wichtig war die Geschichte, wie diese Art Musik populär werden konnte. Das Phänomen Punkrock hat praktisch in dem Moment begonnen, als Johnny Ramone die erste Gitarrensaite anschlug. Er hat damit eineinhalb Jahrzehnte harter Arbeit von zahllosen Bands, unabhängigen Plattenfirmen, Radiosendern, Magazinen und Fanzines inspiriert. Kleine Schallplattenläden hatten sich in der Folge bemüht, eine Alternative zu dem unverbindlichen, herablassenden Mainstream-Rock zu schaffen, der der Öffentlichkeit von den großen Labels, den Mega-Plattenläden, den Radio-Stationen und den vom Starruhm geblendeten landesweiten Rock-Magazinen aufgehalst wurde.
Der von der Revolution des Punkrock aufgeputschte musikalische Underground baute ein weltweites Netzwerk auf, eine Art Schatten-Musikindustrie. Sie wuchs so lange, bis nicht einmal mehr die größten Anstrengungen der von den Baby Boomern kontrollierten Musikindustrie sie aufhalten konnte. R.E.M. waren die erste Explosion gewesen, später Jane’s Addiction, und dann kam der große Knall: Nevermind wurde über acht Millionen mal verkauft, setzte sich gegen Michael Jackson, U2 und Guns n’ Roses durch und erreichte die Nummer eins der Billboard Charts.
Damit begann eine neue Zeitrechnung: Alles war ab nun entweder prä- oder post-Nirvana. Radio und Presse begannen, das „Alternative“-Ding ernstzunehmen. Plötzlich änderten die Plattenfirmen ihre Strategien. Anstelle leichtgewichtiger, aber mit großem Aufwand beworbener Pop Acts, die sich zwar zu Beginn schnell verkauften, dann aber in die Bedeutungslosigkeit versanken, waren sie nun auf der Suche nach Verträgen mit Bands mit längerfristigem Potential. Auch die Promotion-Aktivitäten wurden bodenständiger – Schluss mit dem So-lange-Geld-hineinstopfen-bis-sich-etwas-verkauft. Gefragt war nun eine genaue Kopie davon, wie Nirvana ihren Weg gemacht hatten: eine kleine Kerngruppe bodenständiger Medien und Musikfans, deren unbezahlbare Mundpropaganda die Basis der Gruppe zunächst in kleinen Schritten, später dann sprunghaft verbreitert hatte. Ein Minimum an Werbung, einfach gute Musik.
Der Forscherdrang, den man entwickeln musste, um den Weg durch den Wust der Independent-Musik zu finden, war die Gegenbewegung zum passiven Herdenkonsum. Das war eine ziemlich vertrackte Entwicklung für die großen Plattenfirmen. Diese hatten sich nämlich mit der Zeit angewöhnt, sich bei der Bildung des Publikumsgeschmacks lediglich auf die Macht ihrer Werbedollars zu verlassen. Independent-Musik erforderte unabhängiges Denken, vom Künstler angefangen über den Vertrieb bis hin zu den Käufern. Es ist immerhin um einiges schwieriger, eine neue Single von Calamity Jane aufzuspüren, als auf dem Heimweg schnell die neueste C+C-Music-Factory-CD mitzunehmen.
1990 war es keinem Rock-Album gelungen, die Nummer eins der allgemeinen Album-Charts zu werden. Das veranlasste einige Experten in der Industrie sogar dazu, das Ende der Rockmusik vorherzusagen. Das Musikpublikum war von den Radio-Programmachern so sehr in einzelne Gruppen zergliedert worden, dass es immer unwahrscheinlicher schien, dass sich genügend Rock-Fans um ein einziges Album scharen würden, um es zur Nummer eins zu machen. Und während Rock immer mehr zu einer luftgetrockneten, zerkochten Pseudo-Rebellion verkam, trafen Strömungen wie Country oder Rap die Stimmungen und Anliegen der Massen viel genauer. Und dann gelang es plötzlich Nevermind, ein Publikum zu vereinigen, das noch nie einig gewesen war – diejenigen zwischen zwanzig und dreißig.
Diese „Twentysomethings“ wollten eine eigene Musik. Sie hatten genug von alten Knochen wie Genesis und Eric Clapton und wollten auch keine künstlichen Schöpfungen wie Paula Abdul oder Milli Vanilli in den Rachen geschoben bekommen. Sie brauchten etwas, das ausdrückte, was sie empfanden. Eine große Anzahl von ihnen waren Scheidungskindler. Sie lebten in dem Bewusstsein, die erste Generation in Amerika zu sein, die wenig Hoffnung darauf hatte, dass es ihr besser gehen würde als ihren Eltern. Sie waren die Generation, die die Steuerexzesse der Reagan-Ära ausbaden musste, die Generation, die ihre sexuelle Blütezeit im Schatten von AIDS verbringen musste, und die während ihrer gesamten Kindheit Albträume von Atomkriegen hatte. Sie fühlten sich machtlos bei der Rettung der gefährdeten Umwelt, und während ihres ganzen Lebens saßen entweder Reagan oder Bush – die Schöpfer eines repressiven sexuellen und kulturellen Klimas – im weißen Haus. Sie fühlten sich hilf- und wortlos.
In den Achtzigern hatten zwar viele Musiker die verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Missstände angeklagt, aber die meisten von ihnen gehörten der Baby Boomer-Generation an – etwa Don Henley, Bruce Springsteen und Sting. Viele Fans erkannten diesen Protest als das, was er war: reine Pose, selbstgerecht, einem allgemeinen Trend folgend. Warum traten Duran Duran eigentlich bei Live Aid auf? Kurt Cobains Antwort auf harte Zeiten war so direkt wie nur möglich und eine ganze Menge ehrlicher. Er schrie seinen Zorn hinaus.
Es wäre falsch, Kurt Cobain als Vertreter und Sprachrohr einer Generation zu bezeichnen. Bob Dylan wäre so etwas. Doch Kurt Cobain lieferte keine Antworten, er stellte nicht einmal wirklich Fragen. Er brach in Wehklagen aus und verstummte in negativer Ekstase. Und wenn das der Sound der heutigen Jugend, der Teen Spirit, war, dann war das eben so.
Die Songs auf Nevermind hatten vielleicht auch Entfremdung und Apathie zum Thema. Aber es war Entfremdung und Apathie gegenüber Dingen, die ohnehin nicht viel zu bedeuten hatten. Im Gegensatz dazu legte die Band großen Wert auf Themen wie Feminismus, Rassismus, Zensur und vor allem Menschenfeindlichkeit. Jeder Gedanke an Passivität und Selbstmitleid wurde von der furchteinflößenden Kraft der Musik (vor allem vom explosiven Schlagzeugspiel von Dave Grohl) und dem unbestreitbar kunstvollen Aufbau der Songs hinweggefegt. Das war gefühlsbetonte Musik, die nicht aufgesetzt war. Der Erfolg von Nirvana war gleichzeitig die Ermächtigung einer machtlosen Generation.
Die Lebensgeschichten der Bandmitglieder waren ein Spiegelbild jener ihrer Generation. Alle drei stammten aus zerrütteten Familien. Alle drei (sogar ihr früherer Schlagzeuger) hatten eine schmerzliche Kindheit zu erdulden gehabt; zwei haben nicht einmal die Highschool abgeschlossen.
Obwohl man sie dem „Seattle Sound“ zurechnet, waren sie keine Band aus Seattle. Kurt Cobain und Chris Novoselic stammten aus Aberdeen, einer abgelegenen Holzfällerstadt an der Küste des Staates Washington. Die Band entstand dort und im nahegelegenen Olympia, der Heimstatt von K Records und der „Naiv Pop“-Band Beat Happening. Beides waren große philosophische, teils sogar musikalische Einflüsse für Nirvana. Wenn Kurt über Punkrock sprach, meinte er damit nicht grüne Haare und mit Sicherheitsnadeln durchstochene Nasenflügel. Er meinte das grundehrliche Do-it-yourself- und Lo-Tech-Ethos von K, Touch & Go, SST und anderen ungezügelten Indie-Labels. Punkrock ist ein Versuch, sich die Musik wieder aus dem vereinigten Reich der Konzerne zurückzuholen und sie den Menschen zurückzugeben, eine Art elektronische Volksmusik.
Die Mitglieder von Nirvana waren nie Handlanger der Industrie – sie haben das Hauptquartier ihrer Plattenfirma in L.A. genau ein Mal besucht. Nirvana definierten sich mit großer Sorgfalt als außerhalb des von Madison Avenue, den Fernsehbonzen, den großen Plattenfirmen und Hollywood ausgeheckten Mainstreams stehend. Um einen mittlerweile allgemein anerkannten Ausdruck zu gebrauchen: Nirvana verkörperten eine Alternative. Und wenn acht Millionen Menschen zum Ausdruck brachten, dass sie das auch so sahen, musste man eben den Mainstream neu definieren.
Viele Bands in den Charts machten ganz gute Musik, aber es blieb reine Unterhaltung. Nirvanas Musik zeitigte Wirkung. Sie war nicht glatt, nicht berechnend. Sie war erfrischend, angstmachend, schön, bösartig, vage und jubelnd. Und sie hatte nicht nur einen starken Rhythmus, sondern man konnte sogar mitsummen.
Die Band war nie auf der Suche nach Ruhm und noch weniger in der Lage, damit fertigzuwerden. Der Ruhm war eine Überraschung. Er erschreckte sie. Es war zu viel auf einmal. Es war schon für Chris und Dave schlimm genug, am schlimmsten aber war es für Kurt. Sie verbrachten einen Großteil des Jahres 1992 zurückgezogen, und erst am Anfang des darauffolgenden Frühjahrs waren sie fähig, alles mit etwas Distanz zu betrachten.
Dave erzählte seine Version der Geschichte im Laundry Room, einem bescheidenen Aufnahmestudio in Seattle, das er gemeinsam mit seinem alten Freund und Schlagzeugtechniker Barrett Jones besitzt. Er trug ein Button-Down-Shirt mit einem K-Records-Ansteckknopf am Revers und saß am Boden mitten unter Instrumenten, Verstärkern und Kabeln. Dabei verschlang er irgendein ungesundes Essen aus dem nahegelegenen Seven-Eleven-Supermarkt. Er wirkte weit abgeklärter, als man es ihm mit seinen vierundzwanzig Jahren zugetraut hätte. Er war sehr beherrscht; zeigte keine Anzeichen von Größenwahn, stellte aber auch sein Licht nicht unter den Scheffel. „Er ist der ausgeglichenste Bursche, den ich kenne”, sagte Kurt ganz stolz über ihn.
Dave ist der Unauffälligste der drei – schon alleine, weil er weder zwei Meter groß ist wie Chris noch der Frontman wie Kurt. Genau wie Chris besucht er regelmäßig Konzerte in Seattle und steht dabei mitten in der Menge – einfach wie jedermann. Er befand sich in einer idealen Situation, und das wusste er auch ganz genau. Er war Mitglied einer der erfolgreichsten Rockbands der Welt und konnte gleichzeitig die Leute, die ihn auf der Straße erkannten, an den Fingern einer Hand abzählen.
„Chris hat ein goldenes Herz“, sagte ein Freund der Familie. „Er ist eine gute Seele.“ Chris sprach langsam und behutsam. Obwohl er kein Intellektueller und Bücherwurm ist, hat er einen sehr tiefgehenden gesunden Menschenverstand. Er hat in jeder noch so vertrackten Situation eine ganz klare Aussage parat. Er sieht sich selber als Nachrichten-Junkie, ist sehr gut über die Zustände im früheren Jugoslawien, dem Herkunftsland seiner Familie, informiert und davon zutiefst betroffen.
Zusammen mit seiner schönen und klugen Frau Shelli besaß er ein bescheidenes Haus im eher stillen Universitätsbezirk in den Vororten von Seattle. Dort wohnten auch seine Schwester Diana und der Tourmanager Alex Macleod. Macleod war ein aufgeweckter Schotte mit Pferdeschwanzfrisur. Er war so loyal, dass er sich für jedes Mitglied der Band in die Schusslinie gewofen hätte. Robert, der Bruder von Chris, kam öfters vorbei. Es war Anfang März, und Kim Gordon und Thurston Moore von Sonic Youth waren gerade auf Besuch – sie waren in der Stadt, um ihre Welttournee zu beenden. Die beiden und Mark Ami von Mudhoney waren soeben vom Platteneinkauf zurückgekommen und hatten unter anderem alte 78er-Platten von Benny Goodman erstanden. „Royal Garden Blues“ krachte und grammelte aus der alten Victrola-Anlage, und Chris sagte scherzhaft zu Moore: „Super, Low Fidelity! Genauso klingt unsere neue Platte!“
Das Wohnzimmer war mit legeren Secondhand-Möbeln ausgestattet und wurde von einer riesigen Jukebox beherrscht. Aber es hielten sich ohnehin immer fast alle in der Küche auf – die Katzen Einstein und Doris mit eingeschlossen. Im Kühlschrank waren jede Menge Gemüse und Lebensmittel ohne Konservierungsstoffe. Soweit es möglich ist, verwendeten sie ausschließlich Recycling-Papier. Im Keller standen eine altmodische Bar aus den 50er Jahren und drei Flipperautomaten – Kiss, die Addams Family und Evel Knievel. Dort hatte Chris am Vorabend des Beginns der Aufnahmen zu ln Utero eine Party geschmissen. Die Party dauerte bis zum Morgengrauen. Mit von der Partie waren alte Freunde wie Matt Lukin von Mudhoney, Tad Doyle von TAD und Dee Plakas von L7, aber auch neue wie Eddie Vedder und Mitglieder der erweiterten Nirvana-Familie: Ernie Bailey oder Gary Gersh, der A&R-Manager von Geffen. Zu essen gab es vegetarische Hors d’Œeuvres, die Shelli selbst gemacht hatte.
Chris führte ein sehr bodenständiges Leben und ging sorgsam mit seinem Geld um – keine Spur von einem High-Life-Pop-Star. Von seinem Tape-Deck fiel dauernd die Verschlussklappe herunter.
Nach einem kurzen Vorbereitungsgespräch kurz vor Weihnachten 1992 fand Anfang Februar 1993 der erste Teil der mehr als fünfundzwanzig Interviewstunden statt. Wir begannen immer ziemlich spät am Abend, nach Kurts Rückkehr von den Proben für In Utero, und redeten bis vier oder fünf Uhr morgens. Kurt war gerade dabei, in eine Mietwohnung in Seattle zu übersiedeln, und latschte in seiner und Courtneys Hotelsuite auf und ab. Er trug einen Pyjama, bei dem das Oberteil nicht zur Hose passte, lind rauchte eine Zigarette nach der anderen. Seine Erzählungen waren mit trockenem und sarkastischem Humor gepfeffert. Einmal setzte er mitten drin eine Mind-Machine auf – ein Mittelding zwischen Walkman und privater psychedelischer Lichtshow. Er experimentierte damit, um seine chronischen Magenschmerzen zu bekämpfen. Verschiedene Einstellungen dieser Maschine sollten angeblich Gedächtnis, Kreativität, Energie und Entspannung stimulieren.
Für international gefeierte Stars lebten Kurt und Courtney ein ziemlich schlichtes Leben. Es gab weder Wachposten noch muskulöse Fleischberge als Leibwächter. Kurt nahm ein normales Taxi in die Stadt, kaufte sich einen Burger bei McDonald’s und trug dabei als Tarnung nur einen tief ins Gesicht gezogenen ziemlich lachhaften Elmer-Fudd-Hut. Einem Besucher gelang es sogar einmal, sie in ihrem Hotelzimmer aufzuspüren: Er betrat das Hotel, nahm den Aufzug in ihr Stockwerk und spazierte einfach ins Zimmer. Kurt und Courtney saßen gemeinsam im Bett und schauten sich einen sinnlosen Leif-Garrett-Film im Fernsehen an. „Oh Hi“, sagte Courtney einfach, ohne mit der Wimper zu zucken.
Kurt wirkte zerbrechlich, wie ein Kleiderständer. Seine Sprache war eine Art monotoner Singsang. Die vielen Zigaretten und die Proben hatten seine Stimmbänder bis auf ein dumpfes Brummen abgenutzt. Dadurch wirkte er traurig und verbraucht, als hätte er gerade einen Heulkrampf gehabt. Aber so war das eben. „Alle glauben, dass ich nichts als ein emotionales Wrack bin, ein absolut negativer schwarzer Stern – und dass das immer so ist“, sagte Kurt. „Und ich werde immer gefragt, was mit mir los ist. Dabei ist doch alles in Ordnung. Ich bin überhaupt nicht traurig. Ich bin schon so weit, dass ich mich selbst betrachte und mir versuche vorzustellen, was die Leute in mir sehen. Vielleicht sollte ich mir die Augenbrauen abrasieren. Das wäre eine gute Idee.“
Obwohl Kurts Charisma fast mit den Händen greifbar war, war er extrem zurückhaltend. Man tat sich leichter, wenn man beim Versuch der Einordnung seiner Reaktionen übersteigerte: ein zerstreutes „Hmph“ war in Wirklichkeit ein „Wow!“; ein kurzer Gluckser ein Lachanfall; ein böser Blick ein Mordanschlag.
Kurt hatte viele unterschiedliche Gesichter, wie auf seinen Fotos. Manchmal sah er aus wie ein engelsgleicher Knabe, manchmal wie ein verlorener Herumtreiber, manchmal wie einer, der Autogetriebe reparieren kann. Und manchmal, bei ganz bestimmten Lichtverhältnissen, wies er eine unheimliche Ähnlichkeit mit Axl Rose auf. Sein blasser Teint wurde zum Teil von schmutzigen Bartstoppeln verdeckt. Unter den ungewaschenen Haaren – seinem Markenzeichen – konnte man eine zornig rote Stelle auf seiner Kopfhaut sehen. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte er die Haare erdbeerblond gefärbt. Meistens trug er Pyjamas und war ständig unfrisiert. Obwohl die Tageszeit mit seinen Plänen nicht viel zu tun hatte, hatte er auf dem Handgelenk ständig eine Uhr mit einem Porträt von Tom Peterson, dem Besitzer einer Haushaltswarenkette in Oregon.
Kurts Augen waren so extrem blau, dass er fast immer ein wenig erschrocken wirkte. Das und seine Pyjamas ließen ihn wie einen neurotischen Burschen aussehen, der orientierungslos im Haus eines Vietnam-Veteranen herumtappt. Dabei entging ihm aber nicht das Geringste.
Anfang März, nach den Aufnahmen zur neuen Nirvana-Platte In Utero, waren Kurt, Courtney und ihr Baby Frances in ein ziemlich großes Miethaus mit Blick auf den Lake Washington gezogen. Kurt saß am Küchentisch und spielte mit einem Plastikmodell eines Menschen. Es sah aus, als würde er es ausweiden, dazu rauchte er eine Zigarette nach der anderen. „Mir gefällt, dass man es auseinandernehmen kann, bis man die Eingeweide sieht“, sagte er. „Organe faszinieren mich. Sie funktionieren fast immer. Man kann sich kaum vorstellen, dass man so giftige Sachen wie Alkohol oder Drogen in das System schütten kann, und das Zusammenspiel klappt trotzdem – zumindest eine Zeit lang. Es verblüfft mich schon, dass sie es überhaupt vertragen.“
Das Haus war nur sehr sparsam möbliert, überall lag beigefarbener Teppichboden, die Wände waren kahl. Es sollte nur eine vorübergehende Bleibe sein. Kurt und Courtney wollten noch in diesem Jahr in ein umgebautes Haus in einer Kleinstadt wenige Meilen außerhalb von Seattle ziehen, außerdem waren sie auf der Suche nach einem Grundstück auf dem Capitol Hill, dem Hip-Viertel von Seattle. Im ersten Stock waren das Schlafzimmer, das Kinderzimmer und das Malzimmer von Kurt. Auf einer Staffelei befand sich das Porträt einer vertrockneten, elend aussehenden Kreatur mit skelettartigen Armen und leblosen schwarzen Augen. Im Badezimmer im Erdgeschoss stand der MTV-Award für die besten Newcomer, ein kleiner silberner Astronaut, und hielt die Toilette immer genau unter Beobachtung. Das Kindermädchen von Frances, Jackie, hatte sein Zimmer ebenfalls im Erdgeschoss. Im Esszimmer war eine Spielzeugautobahn aufgebaut.
Ein Zimmer im Haus war eine große Rumpelkammer. Auf dem Boden häuften sich alte Briefe, Notizen, Demobänder, Platten, Fotos und Posters aus Kurts musikalischen Anfangszeiten. An einer Wand lehnte Courtneys buddhistischer Gebetsschrein. Sie benutzte ihn nicht oft – wahrscheinlich, weil sie in dem ganzen Durcheinander gar nicht bis zu ihm durchkam. Aus einem umgestürzten braunen Papiersack kullerten ein paar Colonel-Sanders- und Pillsbury-Doughboy-Puppen aus Plastik.
Überall gab es Gitarren, sogar im Badezimmer. Eine klangvolle alte Martin lag im Wohnzimmer direkt neben einem bescheidenen rotlackierten Instrument mit Blumenmuster.
Die sieben Monate alte Frances Bean Cobain war ein schönes Baby. Sie hatte die durchdringenden blauen Augen ihres Vaters und die Züge ihrer Mutter. Ihre Eltern schenkten ihr angesichts des Besuchers fast übertrieben viel Aufmerksamkeit, aber man sah deutlich, dass sie sie wirklich liebten. Kurt schien etwas lockerer im Umgang mit Kindern als Courtney, aber beide beherrschten die üblichen „Goo-Goo“-Geräusche ziemlich gut.
Frances wirkte Wunder für Kurt. „Er schaut sie immer an und sagt: ,Genau so war ich! Genau so war ich!’“, sagte Courtney. „Man kann einen Menschen nicht von Grund auf verändern, aber ich habe das Ziel, Kurt wieder so glücklich wie damals zu machen. Aber es ist sehr schwer, weil er andauernd mit irgendetwas unzufrieden ist.“
Eines Abends klimperte Courtney im Wohnzimmer im ersten Stock auf einer akustischen Gitarre. Kurt war währenddessen in der Garage und schlug neben dem gebrauchten Volvo auf ein klappriges Schlagzeug ein, das von einer Tour in grauer Vorzeit übriggeblieben war. Die Garage war vollgestopft mit einer Unmenge Schachteln voller Papier, Bilder, Gitarrensaiten und jeder Menge Ramsch von jahrelangen Secondhand-Shop-Einkaufstouren. Zwei Schachteln platzten schier vor durchsichtigen Plastikfiguren – Männer, Frauen, sogar Pferde. Gleich daneben waren ein Verstärker, eine Bassgitarre und das einzige Stück im Haus, das als Luxus gelten konnte: ein Space-Invader-Videospiel, für das Kurt ein paar Hundert Dollar gezahlt hatte. Seine besten Ergebnisse speichert er mit Kürzeln wie „COK“, „POO“ oder „FUK“ ab.
Unsere Gespräche waren sehr offen. Kurt hatte eine einfache Erklärung für seine Offenherzigkeit. Jeder hat es gelesen“, sagte er über seine oft publizierten Heroinprobleme,„also kann ich es gleich zugeben und versuchen, dem ganzen etwas Perspektive zu geben. Die Leute glauben, dass ich seit Jahren ein Junkie bin. In Wahrheit war ich nur sehr kurz drogenabhängig.“
Darüber hinaus hatte er keine Angst, den gewaltigen Mythos um die Band oder sich selbst zu zerstören. Ganz im Gegenteil. „Ich wollte nie, dass wir mystifiziert werden“, sagte er einmal zu mir. „Es gab nur am Anfang einfach nichts über uns zu sagen. Jetzt, nachdem einige Zeit vergangen ist, haben wir eine Geschichte. Trotzdem denke ich jedesmal nach unseren Gesprächen: ,Gott, mein Leben ist so verdammt öde im Vergleich zu so vielen Menschen, die ich kenne.‘“
Kurt wollte vieles richtigstellen. Es gab so viele Gerüchte über ihn, seine Frau und ihr Baby, dass er es für angebracht hielt, alles genauso zu erzählen, wie es war. Seine Erzählungen wirkten zwar manchmal selbstgerecht und gespickt mit krampfhaften Erklärungen und Widersprüchen, aber selbst diese verzerrte Darstellung enthüllte vieles über sein Leben, seine Kunst und die Zusammenhänge zwischen beidem.