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Die alte Ordnung Verständigung
ОглавлениеEinem Kind kann man nicht verständlich machen, warum sich bestimmte Menschen nicht mögen, nur weil sie anders aussehen. Kinder verstehen das nicht. Kinder kennen keinen Rassismus, sie erlernen ihn erst im Laufe ihres Lebens.
An meiner Grundschule war ich neben einem anderen Jungen, den alle »Schokolade« riefen, weil er so dunkel war, der einzige Ausländer. Ich nannte ihn auch so, ich hatte keine Ahnung, dass es falsch war. Kinder eben, so sind sie, ungezwungen und ehrlich. Nein, eben nicht: Kinder sind ahnungslos und auf sich selbst gestellt. Natürlich hätte uns ein Lehrer aufklären müssen, aber das geschah nicht. Sicher würde eine frühe Sensibilisierung die Grundlage dafür schaffen, sich im Laufe des Lebens immer wieder mit diesem Thema auseinanderzusetzen, damit aus einem vermeintlichen Scherz später keine echte Fremdenfeindlichkeit wird. Hier ist noch immer einiges zu tun.
Anfang der neunziger Jahre gesellte sich mit Olga das erste Kind aus der sich im Zerfall befindenden Sowjetunion dazu. Damals war ich in der dritten Klasse und konnte mittlerweile schon ganz gut Deutsch. Olga war Armenierin oder Aserbaidschanerin, ich erinnere mich nicht mehr so genau, auf jeden Fall aus einer ehemaligen Sowjetrepublik, die eine Grenze zum Iran hatte. Das Mädchen mit dem runden Gesicht und den herzlichen Eltern war nun die Neue in der Klasse und wurde deshalb natürlich von allen etwas kritischer beäugt, wie das eben so ist, wenn jemand zu einer bestehenden Gruppe dazu stößt. Von Begriffen wie Migrationshintergrund und Integration waren wir damals noch sehr weit weg.
Olga wurde in die Klasse gesetzt und alle wunderten sich, warum das zehnjährige Mädchen einen nicht verstand, wenn man es ansprach. Unverhofft wurde aus mir, dem einst selbst Unverstandenen, die Brücke zwischen Olga und Deutschland. Als Olga nämlich von der Lehrerin auf Deutsch angesprochen wurde, machte sie mehrere Anläufe, sich verständlich zu machen. Erst auf einer Sprache, die ich nicht verstand, dann aber plötzlich auf Persisch. Olga sprach tatsächlich Persisch! Das führte zu einer ähnlichen Ratlosigkeit zwischen allen Parteien wie drei Jahre zuvor, als ich neu in der Klasse saß, nur diesmal mit dem Unterschied, dass es jemanden gab, der ihre Sprache sprach. Also meldete ich mich und erklärte meiner Lehrerin, dass ich Olga verstand. Allgemeines Staunen. »Soll ich übersetzen?«, fragte ich. Noch größeres Staunen. Was sollte das heißen, »übersetzen«? Für viele Kinder war das noch ein Fremdwort, ich jedoch hatte das Wort besonders schnell gelernt und auch Olga kannte es. Bei uns zu Hause musste ständig übersetzt werden. Also übersetzte ich, und ich glaube, die meisten meiner Mitschüler hörten mich das erste Mal in meiner Muttersprache sprechen, fleißig zwischen Deutsch und Persisch hin und her wechselnd, sodass Olga dem Unterricht folgen konnte.
Irgendwann war Olga plötzlich weg. Sie kam nicht mehr zur Schule. Was passiert war, wussten wir nicht. Es erklärte uns auch niemand. Rückblickend denke ich, dass die Familie entweder eine größere Wohnung bekommen hatte und umgezogen war oder abgeschoben wurde. Ich hoffe Ersteres. Auch wenn es nur kurz war, es war ein schönes Gefühl, jemandem eine Stimme zu geben. Die Macht der Sprache wurde mir da zum ersten Mal so richtig bewusst. Olga hatte nicht meinen Weg gehen müssen und das machte mich froh.
Nun hatte ich das Glück, von liebevollen Eltern großgezogen zu werden, die sich um ihr Kind kümmern konnten, weil Zeit und Geld da waren. Wobei der größte Luxus sicher ihre Sprachkenntnisse waren. Ich denke mittlerweile nicht mehr, dass die Sprache der einzige Schlüssel zum Erfolg ist. Diese These hat sich schlicht nicht bewahrheitet, sonst wären viele Migranten der zweiten, dritten, vierten und fünften Generation wesentlich besser integriert. Aber die Sprache ist ein wichtiger Faktor beim langen Prozess der Integration. Den einen Schlüssel zu einer gelungenen Integration gibt es nicht. Integration ist leider oft Einzelfallhilfe; dabei gibt es sicher Faktoren, die, wenn nicht allgemeingültig, zumindest doch gute Ergebnisse liefern. Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion, an der ich zusammen mit jungen geflüchteten Syrern um die zwanzig aus Aleppo teilnahm. Ich sprach damals lange über die Bedeutung der Sprache für eine gelungene Integration, bis mir einer der Teilnehmer in fließendem Englisch entgegnete, er wolle die Sprache gar nicht lernen, weil er Deutsch als nicht wichtig erachte. Es könne eh jeder Englisch. Ich musste an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn denken, der sich in der Zeit über »Hipster-Parallelgesellschaften« echauffiert hatte, in denen nur noch Englisch gesprochen würde.[21] Englisch in deutschen Großstädten? Für Jens Spahn »das augenfällige Symptom einer bedauerlichen kulturellen Gleichschaltung«. Wer Englisch spreche, sei nicht etwa cool und international, sondern er betreibe damit »provinzielle Selbstverzwergung«. Selbstverzwergung, Herr Spahn, welch Gourmet-Wort der deutschen Sprache. Diese »elitären Hipster« seien eine »Zumutung«. Neulich sei er in einem Berliner Restaurant vom Kellner auf Englisch angesprochen worden. Also, in Paris sei ihm das nicht passiert. Was uns Herr Spahn damit eigentlich sagen wollte, kann ich bis heute nicht ganz verstehen. Außer purem Populismus ist in diesen Aussagen nicht viel zu erkennen.
Als ich den Syrer sagen hörte, dass er mit Englisch hier gut klarkommen würde, war ich auf der einen Seite ganz froh, dass wir uns in Deutschland von you can say you to me verabschiedet und nun zumindest in Berlin auch im Englischen die nose in front haben. Diese Internationalisierung hat sicher in den vergangenen Jahrzehnten zu einer deutlichen Weltoffenheit in Deutschland geführt. Aber so gar kein Deutsch lernen zu wollen? Ich wollte auch nicht ständig in Deutschland auf einer anderen Sprache angesprochen werden, dafür hatte ich mir erstens viel zu viel Mühe gegeben, diese Sprache zu erlernen, und zum anderen bin ich so gut integriert, dass ich es als meine Pflicht ansah, die deutsche Sprache in Aleppo zu verteidigen. Dennoch hatte ich kein wirkliches Argument gegen den jungen Mann in der Hand, um mit der These »Die Sprache ist der Schlüssel zu einer gelungenen Integration« zu punkten. Denn natürlich wusste auch ich, dass es viele Migranten in diesem Land gibt, die Deutsch längst als Muttersprache sprechen und von Integration trotzdem noch sehr weit weg sind. Was ich aber anführen konnte, war, dass mangelnde Sprachkenntnis oft zu Angst führt, weil immer die Sorge besteht, im Gespräch grobe Fehler zu machen. Diese Angst führt oft zu Frustration, weil man sich erst gar nicht traut, das, was man sagen will, zu sagen. Letztendlich entsteht daraus entweder eine partielle oder eine grundsätzliche Fehlkommunikation, die schließlich in einer beidseitig wahrgenommenen Ausgrenzung gipfelt, weil man sich nicht richtig verständigen kann. Dieses Problem besteht insbesondere da, wo es auf die Feinheiten der Sprache ankommt, bei Themen wie Politik, Gesellschaft und Religion. So entstehen Parallelgesellschaften, die wiederum denen Angst machen, die nicht verstehen, warum solche gesellschaftlichen Gebilde entstehen, und am Ende haben alle Angst voreinander. Was es braucht, ist eine richtige Mischung aus Sprachkenntnissen und Kümmern. Die zu finden, ist die wahre Herausforderung.
***
In meine erste Parallelgesellschaft rutschte ich gleich nach meiner Ankunft aus dem Iran. Der Erste Golfkrieg dauerte da schon mehr als sechs Jahre und mit meinen fünf Jahren stand ich kurz davor, keine Ausreiseerlaubnis mehr zu erhalten. Es war ja Krieg, wie lange noch, wusste keiner, und da brauchte man die Männer zu Hause. Also beschlossen meine Eltern, ihr Kind kurz nach seinem fünften Geburtstag mit der Oma nach Deutschland zu schicken, um es vor einem (un)gewissen Schicksal zu bewahren. Wenn ich heute öffentlich von dieser Zeit erzähle, sei es in Talkshows oder Interviews, erlebe ich häufig eine große Betroffenheit. Einen Flüchtling verbindet man in diesen Zeiten mit ertrinkenden Menschen auf dem Mittelmeer, tausende Kilometer langen Fußmärschen über die Balkanroute oder völlig überfüllten Auffanglagern mit Zäunen und Wachschutz. Ich hingegen flog recht komfortabel Linie mit einer damals hochmodernen Boeing 747-SP, die der Schah eigentlich für die Transatlantikflüge der Iran Air geordert hatte, um Nonstop nach New York fliegen zu können. Es gab hervorragendes Essen und eine liebevolle Oma neben mir, die allerdings bei jeder späteren Rückreise einen roten Stempel in ihren Pass bekam, der verriet, dass sie ein männliches Kind zu Kriegszeiten außer Landes geschafft und nicht zurückgebracht hatte. Wir lebten fortan gemeinsam in Hamburg, bis meine Eltern irgendwann nachkamen.
Welche Nachteile es hatte, die Sprache nicht zu sprechen und auch niemanden zu kennen, der sie sprach, zeigte sich schnell. Ich wurde kurz nach meiner Ankunft eingeschult. Was man da in der Grundschule Heidacker im beschaulichen Hamburg-Eidelstedt von mir wollte, verstand ich nicht, genauso wenig wie die mitgereiste Familie wusste, was sie fernab vom trubeligen Teheran in diesem verschlafenen Vorort den ganzen Tag machen sollte. Grundschüler Michel, Klasse 1b, stellte sich in der Milchpause um 9.30 Uhr wie alle anderen Kinder brav in eine Schlange und zeigte dann vor der Milchmutter überzeugend auf jeweils das, was er haben wollte. Alle anderen machten es genauso, und um das nachzumachen, brauchte es keine Sprache. Die kleinen quadratischen Kartons mit dem dazugehörigen Strohhalm waren magisch. 15 Pfennig für die Milch, 20 Pfennig für den Kakao oder die Vanillemilch, 30 Pfennig für den Trinkjoghurt und 50 Pfennig für etwas Undefinierbares in Kackbraun, was sich Jahre später als Nusspudding herausstellen sollte.
Ich zeigte stets auf die gelbe Vanillemilch, die wir bei Aldi mal versehentlich gekauft hatten, weil Gelb meine Lieblingsfarbe war. Niemand aus der Familie konnte mit dem sonderbar süßlich-gelben Getränk, mit der für damalige Iraner völlig fremden und absonderlich schmeckenden Vanille, etwas anfangen. Ich mochte das süße Zeug, aber ich bekam es nicht. Jeden Morgen um 9.30 Uhr stellte ich mich mit allen Kindern an, zeigte auf die Vanillemilch und bekam sie nicht. Die Milchmütter sagten zwar etwas zu mir, aber ich verstand sie nicht. Ich nickte, zeigte wieder auf den gelben Karton und wurde erneut abgewiesen.
Zu Hause wurde dieses mir völlig unverständliche Erlebnis nicht wirklich ernst genommen. Niemand verstand so richtig, worum es überhaupt ging. Wie sollte man überhaupt ohne Sprachkenntnisse herausfinden, warum alle Kinder bekamen, was sie wollten, nur ich nicht? Wie sollte man danach fragen, was es mit diesem komischen Nusspudding und dem kalten Hagebuttentee auf sich hatte, von dem ich Alpträume bekam, den ich aber jeden Tag trinken sollte? Vielleicht mochte man mich nicht, weil ich anders aussah? Vielleicht wurden die Deutschen anders behandelt als wir »Gäste«? Vielleicht machte ich auch etwas falsch oder dachte mir die Geschichten einfach nur aus, damit ich Aufmerksamkeit bekam, weil meine Eltern nicht da waren, man wusste es nicht. Es gab viele Theorien, aber niemanden, der die Wahrheit herausfinden wollte und konnte. Ich bekam dafür morgens Toastbrot mit Nutella mit auf den Weg, denn das kannten wir und mochten wir, und vor allem konnte ich es ab und zu gegen eine Tüte Vanillemilch mit meinen Mitschülern tauschen. Bis irgendwann meine Eltern die ersehnte Ausreisegenehmigung erhielten und dem Spuk ein Ende setzten.
Während ihnen alle aufgeregt von den Ereignissen an der Schule erzählten, von der gelben Milch, dem braunen Pudding, dem kalten Tee und von diesem einen sehr sonderbaren Ereignis, das den kleinen Michel und die ganze Familie sehr traumatisiert hatte, diesem einen Morgen im März, als es draußen neblig war und der Boden gefroren und das Kind mittags weinend wieder nach Hause kam, weil man es in einen Wald geschleppt hatte, um dort Dinge zu suchen, dämmerte es meiner Mutter, dass hier sehr viele Mutmaßungen, aber kaum Fakten vorhanden waren.
Es war nämlich so, dass ich an einem Märzmorgen bei Dunkelheit gezwungen wurde, mit den anderen Kindern in einen Wald zu gehen, der sich später als das Niendorfer Gehege herausstellen sollte. Lange bevor Till Schweiger dort sein Unwesen trieb, besuchte ich dieses Kleinod der Natur am Rande von Hamburg zusammen mit Dutzenden aufgeregten Kindern, die selbstverständlich darauf vorbereitet waren und ausgestattet mit regenfester Allzweckwäsche, Gummistiefeln, Friesennerz und allerlei anderer Funktionskleidung in den Wald stürmten. Ich hingegen war angezogen wie auf dem Weg zu meiner eigenen Hochzeit, mit Hemd und Fliege. Auf der Einladung hatte »Ausflug« gestanden, das wurde zu Hause im Wörterbuch nachgeschlagen und ich dann so angezogen, wie es im Iran Sitte war, wenn Kinder auf einen »Ausflug« gingen. Wahrscheinlich bestand im Iran bei Ausflügen immer die Möglichkeit, dass man den Kaiser traf oder um die Hand angehalten wurde, ich weiß es nicht. Hemd und Fliege jedenfalls schienen verbindlich zu sein. Während die Funktionskleidung der anderen Kinder nicht ganz so elegant daherkam, war sie doch zumindest praktisch, derweil ich mich ratlos, frierend, deplatziert, aber elegant angezogen wieder in den warmen Bus zurücksehnte.
Meine damalige Erzieherin Strocki versuchte mir zu erklären, was hier jetzt passieren würde. Das wiederum machte mir nur noch größere Angst. Ich sollte hier hinter den Bäumen nach Eiern suchen, nach bunten Eiern. Ich mochte keine Eier. Generell machen mir seit diesem Tag ovale Dinge Angst. Zwar konnte ich die Sprache noch nicht wirklich sprechen, doch an meinem Gesichtsausdruck ließ sich anscheinend deutlich die Frage ablesen, warum ich an einem dunklen Märzmorgen in einem nassen Wald nach Eiern suchen sollte. Warum die auch noch bunt waren, war da erst einmal irrelevant. »Der Hase hat sie gebracht«, erklärte Strocki. Der Hase, so so. Bunte Eier. Strocki machte einen Hasen nach, der mit langen Ohren durch das Niendorfer Gehege sprang.
Es ist sehr unterhaltsam, wenn Menschen versuchen, scheinbar allgemeingültige Gesten und Laute in anderen Sprachen anzuwenden. Das beliebteste Fettnäpfchen ist der ausgestreckte Daumen, der unter anderem im Iran das Pendant zu unserem Mittelfinger darstellt. Genauso wie das »Mäh Mäh« des Schafs bei uns ein »Bah Bah« ist, das »Wuff Wuff« des Hundes »Waq Waq«, das »Oink Oink« des Schweins gar kein Gegenstück hat und das »Kikeriki« des Hahns mit einem in meinen Ohren viel treffenderen »Ghoughoulighoughou« transkribiert wird, war auch der auf den Füßen mit den Händen hinter den Ohren springende Hase für mich schwierig zu erkennen, obwohl Strocki für diese Performance rückblickend einen Toni verdient hätte. Da standen wir dann im Niendorfer Gehege, beide etwas peinlich berührt. Ich glaube, durch meinen skeptischen Blick wurde auch Strocki klar, wie unglaubwürdig diese Geschichte war. Ein Hase, der bunte Eier in einem Wald versteckt haben soll? Hier stimmte etwas nicht.
Da die anderen Kinder bereits aufgedreht und aufgeregt Dinge fanden, wollte mir Strocki eine Freude machen, ließ mich hinter einen Baum schauen und warf mir – Überraschung! – etwas vor die Füße. Es war etwas Undefinierbares in Hasenform, dazu noch braun, der Farbe, mit der ich seit dem Nusspudding nichts Gutes verband. Ich erschrak mich zu Tode und fing an zu weinen. Angeblich sei der Hase essbar, wurde ich belehrt. Man brach mir ein Stück ab und reichte es mir. »Probier doch mal, das ist lecker!« Ich wollte ihn nicht essen. Er roch komisch.
Stunden später, verstört und verschnupft, brachte man mich samt Hasentrophäe nach Hause, wo ich der staunenden Familie die Geschichte von diesem sonderbaren Vormittag im Wald erzählte, während der braune Hase ehrfürchtig herumgereicht und beschnuppert wurde. Zur Sicherheit stellte ihn meine Oma in den Gefrierschrank, wie sie es mit allem tat, was sie nicht einordnen konnte, sodass wir ihn passend zur Geschichte meinen Eltern, die beide in den Sechzigern und Siebzigern in Deutschland studiert hatten und deshalb fließend Deutsch sprachen, präsentieren konnten. Das Eiergesuche entpuppte sich als Ostern, der Hase als Lebkuchen und die Milch bekam ich nicht, weil ich montags nie die zwei Mark für Getränkemarken dabeihatte. Nach kurzer Zeit hatten sich alle Probleme in Luft aufgelöst, ich trank endlich fleißig Vanillemilch und erkannte schnell, dass ich davon Bauchschmerzen bekam, weshalb ich auf den Nusspudding umsattelte. Meine Oma schwor bis zu ihrem Tod auf Lebkuchenherzen mit Füllung und machte über die Jahre im Iran sämtliche Verwandte zu Süchtigen. Was ein wenig Sprache so alles im Leben verändern kann.
***
Die achtziger Jahre waren für mich eine prägende Zeit. Meine damaligen Erlebnisse machen mir die heutigen Entwicklungen überhaupt erst verständlich. Es mag sein, dass jene, denen die Erfahrung fehlt, fremd in einem Land zu sein, nur schwer nachvollziehen können, was gerade in Deutschland passiert. Wenn wir uns heute mit dem Problem der Neuen Rechten und dem damit verbundenen unübersehbaren Rechtsruck in der Gesellschaft beschäftigen, mag man das Gefühl haben, als sei der Rassismus und die zunehmende Stigmatisierung von Migranten mit der sogenannten »Flüchtlingskrise« geradezu vom Himmel gefallen. Dem ist nicht so. Anhand meiner persönlichen Erfahrungen kann ich zwei Phasen bestimmen: Die Entwicklungen vor dem Sommermärchen und die Entwicklungen nach dem Erscheinen von Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab.
In den achtziger und neunziger Jahren war Deutschland geprägt von einer anderen Art von Rassismus, die sich deutlich von der heute unterschied. Der Rassismus in meiner Kindheit hatte ein klar erkennbares Gesicht: Er trug Bomberjacke, Springerstiefel und hatte eine Glatze. Er war brutal und geächtet. Niemand, wirklich niemand wollte etwas mit Neonazis zu tun haben. Dabei ist Rassismus immer Rassismus, er kennt keine Abstufungen. Wenn heute oft beschwichtigend von »Alltagsrassismus« die Rede ist, soll das lediglich der allseitigen Beruhigung dienen. So können sich zum einen die Täter gegenüber den vermeintlich »wirklichen« Rassisten abgrenzen, zum anderen ist es aber oft auch ein Selbstschutz der Opfer, den erlebten Rassismus herunterzuspielen, um das eigene Leben nicht unerträglich zu machen. Menschen, die in den letzten Jahren bei Demonstrationen Seite an Seite mit Neonazis liefen, waren wahrhaftig verwundert, wenn man ihnen stillschweigende Akzeptanz vorwarf. Wer hingegen in den Achtzigern und Neunzigern auf einer Neonazidemo mitlief, war mit Sicherheit eins: ein Neonazi.
Mit meinem Umzug nach Deutschland änderte sich auch mein Geburtsdatum. Aus dem 31. Farwardin 1360 des iranischen Kalenders wurde der 20. April 1981. Nach fünf Flugstunden befand ich mich gute 600 Jahre in der Zukunft und hatte plötzlich am selben Tag Geburtstag wie Hitler. Was heute eher wie ein Fun Fact wirken mag, war in den achtziger Jahren in Hamburg-Eidelstedt nicht so witzig. Meinen Eltern wurde geraten, den Geburtstag vorerst nicht zu feiern, da es in der Umgebung eine Neonaziszene gäbe, die an diesem Tag möglicherweise den »Führergeburtstag« beging, und es einfach besser wäre, »die Augen etwas offener« zu halten, was auch immer das genau heißen sollte. Für Michel und seine Freunde gab es dann eben keine Schnitzeljagd, was nicht so dramatisch war, da der Geburtstag in der iranischen Kultur keinen besonders hohen Stellenwert hat.
Dafür gewannen zwei Wörter, die ich erst jetzt, über 30 Jahre später, bewusst übersetze, eine große Bedeutung: Panahandeh und Nejadparast, Flüchtling und Rassist, oder wie es in den Achtzigern hieß: Asylant und Neonazi. Als Kind waren mir beide Begriffe fremd. Panahandeh klang ähnlich wie Panahgah, was im iranischen Radio häufig vor Luftangriffen zu hören war: Man forderte die Menschen auf, eben diese Schutzbunker aufzusuchen. Das Wort wirkte deshalb nicht gerade positiv auf mich. Ein Panahandeh wollte ich nicht sein. Das waren die Leute, die in diesen Heimen lebten, wie mein Onkel mit seinen drei Kindern, die wir immer dort besuchten. Das waren diese komischen, dunklen Räume, die durch Vorhänge voneinander getrennt waren, mit Gemeinschaftsküchen und Toiletten auf dem Flur. Das waren diese langen Busfahrten zu Orten am Stadtrand, die ich nicht mochte, bei denen ich aber immer mit musste, damit ich übersetzen konnte, falls man auf der Straße angesprochen wurde oder etwas brauchte: Bustickets kaufen, Lebensmittel identifizieren, Beipackzettel vorlesen, mit zum Arzt gehen. Keine Ahnung, was Milz und Gebärmutter waren, ich war ja erst sechs, aber wir versuchten alle, das Beste rauszuholen:
»Hatten Sie schon irgendwelche Operationen in Ihrem Leben?«
»Hattest du schon irgendwelche Operationen in deinem Leben?«
»Ja.«
»Ja.«
»Welche?«
»Welche?«
»Man hat mir die Milz entfernt.«
»Er sagt, ihm wurde etwas entfernt.«
»Kann er draufzeigen?«
»Kannst du draufzeigen?«
»Hat er zwei davon?«
»Onkel, hast du zwei davon?«
»Nein.«
»Nein.«
»Die Milz.«
»Die Milz.«
Milz. Komisches Wort. Dann kam die Oma dran.
»Und wurden Sie auch schon mal operiert?«
»Wurdest du auch schon mal operiert?«
»Ja.«
»Ja.«
»Was wurde gemacht?«
»Was wurde gemacht?«
»Ich hatte Steine in der Gallenblase.«
»Oma, du hattest Steine in dir?«
»Übersetz das bitte einfach, der Arzt wird es verstehen.«
»Sie sagte, sie hatte Steine.«
»Ach, die Gallenblase. Alles klar.«
Gallenblase, komisches Wort.
»Noch etwas?«
»Noch etwas?«
»Ja, die Gebärmutter wurde mir entfernt.«
»Ihr wurde etwas entfernt.«
»Was wurde ihr entfernt?«
»Was wurde dir entfernt?«
»Die Gebärmutter.«
»Sie sagt ein Wort, das ich nicht kenne. Hört sich an wie der Vorname von meinem Onkel.«
»Kann sie draufzeigen?«
»Zeig drauf.«
»Wann wurde es entfernt?«
»Wann wurde …, wie hieß das Wort noch mal? Wann wurde das entfernt?«
»Ach, schon lange her.«
»Schon lange her.«
»Kann sie es umschreiben?«
»Kannst du es bitte umschreiben.«
»Nun, naja, da wo die Kinder drin sind.«
»Wo wer drin ist?«
»Die Kinder.«
»Was machen die Kinder da? Du hattest Steine und Kinder in dir?«
»Übersetz einfach, der Herr Doktor wird es verstehen.«
»Herr Doktor, da sind Kinder drin und das wurde ihr entfernt.«
Arzt und Oma schauten sich an, meine Oma lächelte verlegen, beide nickten.
»Die Gebärmutter.«
Gebärmutter, was für ein komisches Wort.
Wir guckten uns alle an. Wieder einen dieser seltsamen Termine geschafft.
Meine Eltern sind bis heute übrigens sehr stolz darauf, dass sie nie einen Asylantrag gestellt haben. Sie bezeichnen sich als Immigranten, die beschlossen haben, nach Deutschland auszuwandern und von Anfang an dafür arbeiten mussten. Sie haben nie aufgegeben, nie die Hand aufgehalten. Ich bin sicher, dass viele auch heute lieber diesen Weg gegangen wären und gehen würden, doch leider ist es der deutsche Staat, an dem das Unterfangen scheitert, nicht der eigene Wille. Der Kampf um Papiere und Arbeitserlaubnis ist lang und hart. Viele dieser Menschen kommen nicht mit der Absicht hierher, um ihre Hand für Hartz IV aufzuhalten. Nur haben sie manchmal keine andere Wahl. Asylantrag ja, Arbeitserlaubnis nein. Was dann? Das wird in vielen Diskussionen oft vergessen. Man könnte die Betroffenen in Talkshows einladen und mit ihnen über ihre Sorgen und Probleme sprechen – oder man redet einfach weiter über sie.