Читать книгу Transkulturelle Kommunikation - Michèle Kaiser-Cooke - Страница 19
3 Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz
ОглавлениеDie Art und Weise, wie Sprache verwendet wird, spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation. In der zitierten Szene in Mark Twains Roman spricht der Mann aus dem 6. Jahrhundert ein altertümliches Englisch und wird dadurch vom Ich-Erzähler als „Patient“ einer „Anstalt“ klassifiziert. Sprachverwendung – und damit auch Sprachkompetenz – ist also ein wichtiger Faktor in der Kommunikation, sowohl produktiv, also wenn wir Texte verfassen (beim Sprechen oder Schreiben), als auch rezeptiv, also wenn wir Texte verstehen wollen (beim Hören oder Lesen). Sprachkompetenz ist aber nicht der einzige Faktor. Denn wie wir gesehen haben, findet Kommunikation in konkreten Situationen statt, die auch in ein soziales Umfeld eingebettet sind. Und diese Situationen bestimmen mit, was und wie kommuniziert wird.
Mark Twains Ich-Erzähler weiß (noch) nicht, dass er eine Zeitreise ins 6. Jahrhundert gemacht hat – und er zieht deshalb falsche Schlüsse aus der Situation. Dies führt zu einem Vorurteil: Jemand verhält sich anders als gewohnt und der Ich-Erzähler hält ihn deshalb vorschnell für nicht gesund, „nicht normal“. Genau genommen weiß der Ich-Erzähler aber nur zu wenig über den Kontext, in dem die Kommunikation stattfindet. Er verfügt zwar über ausreichend Sprachkompetenz, um zu verstehen, was der Mann aus dem 6. Jahrhundert ihm sagt, kann die Form „seemeth“ vielleicht sogar ungefähr historisch einordnen und weiß, dass es nicht besonders üblich ist, im 20. Jahrhundert so zu sprechen. Hätte er gewusst, dass er im 6. Jahrhundert gelandet ist, hätte er die Ausdrucksweise des Mannes sicherlich anders interpretiert – und wohl selbst von vornherein eine andere Frage gestellt.
Es zeigt sich also, dass Kommunikationskompetenz etwas anderes ist als Sprachkompetenz. Mit Sprachkompetenz ist gemeint, dass jemand eine Einzelsprache wie etwa Deutsch, Tschechisch oder Portugiesisch auf einem bestimmten Niveau beherrscht. Niveaustufen – für Fremdsprachenkenntnisse – wurden im Europäischen Referenzrahmen für Sprachen beschrieben und standardisiert (mit den Niveaubeschreibungen für A1, A2, B1, B2, C1 und C2). Sprachbeherrschung hilft dabei, Äußerungen zu verstehen und zu produzieren, Kommunikationskompetenz verweist aber noch auf anderes: nämlich auf die Fähigkeit, sich in der Mehrdimensionalität von Kommunikationssituationen zurechtzufinden, Äußerungen von anderen vor diesem Hintergrund zu verstehen und einordnen zu können und auch selbst funktionierende Äußerungen in einem Kontext produzieren zu können. Damit dies in einer bestimmten Sprache klappt, braucht man allerdings auch Sprachkompetenz.
Sprachen stellen wir uns manchmal als abstrakte Systeme vor, die einfach da sind und die Mittel bereitstellen, die wir in der Kommunikation dann verwenden. Das ist aber genau genommen eine konstruierte Vorstellung, denn in der Realität kommt Sprache immer in ganz konkreten Verwendungssituationen vor. Der Soziolinguist Alastair Pennycook nennt dies Language Practice, auf Deutsch ist oft von Sprachpraxis und Sprachpraxen die Rede. Damit wird betont, dass Sprache eng mit sozialen Kontexten verwoben ist. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine bestimmte Ausdrucksweise in einem Unternehmen. Dabei gibt es, zumeist bezogen auf übliche Arbeitsabläufe, Übereinkünfte darüber, was bestimmte Begriffe bedeuten, die von Außenstehenden nicht oder nur zum Teil verstanden werden. Manche dieser Begriffe beziehen sich auf Produkte und werden mit steigender Bekanntheit des Unternehmens auch größeren Gesellschaftsschichten geläufig. So können Sie sich wahrscheinlich von einem IVAR-Regal oder von einem iPad eine ziemlich genaue Vorstellung machen. Ikea und Apple haben es mit ihrer wirtschaftlichen Macht und ihrer Marktpräsenz geschafft, einige ihrer Produktnamen so bekannt zu machen, dass sie im allgemeinen Sprachgebrauch verständlich sind.
Was hat dies nun mit Sprach- und Kommunikationskompetenz zu tun? Sprachkompetenz bedeutet, dass wir sprachliche Mittel kennen und benutzen können.
Kommunikationskompetenz geht darüber hinaus: Wir müssen auch wissen, in welchen Situationen welche sprachlichen Mittel verwendet werden – und welche Aussagen damit transportiert werden sollen.
Stellen Sie sich vor, jemand sitzt mit Freund*innen beim Essen und sagt: „Würde es Ihre unendliche Güte erlauben, mir die Butter zu reichen?“ Das ist ein völlig korrekter deutscher Satz. Wahrscheinlich wäre er in der Kommunikationssituation dennoch deplatziert. Vielleicht aber auch nicht: Vielleicht soll durch die übertriebene „geschraubte“ Höflichkeit ironisch Ungeduld ausgedrückt werden – oder es ist ein Insider*innen-Gag, der sich auf etwas gemeinsam Erlebtes bezieht. Ob eine Äußerung in einer Situation passend oder unpassend formuliert ist, können wir nur einschätzen, wenn wir mehr über die Situation wissen.
In diesem Sinne bedeutet Kommunikationskompetenz die Fähigkeit, eine Kommunikationssituation realistisch einzuschätzen und dabei die Dimensionen zu berücksichtigen, die in der jeweiligen Kommunikationssituation besonders wichtig sind.
Manche Kommunikationssituationen sind Routine, andere nicht. In vertrauten Kommunikationssituationen im Alltag ist Sprach- und Kommunikationspraxis häufig ritualisiert und automatisiert, und dadurch (intuitiv) an konkrete sprachliche Mittel geknüpft. Wenn wir „Guten Morgen“ oder „Auf Wiedersehen“ sagen, denken wir in der Regel nicht viel darüber nach, was in genau dieser aktuellen Kommunikationssituation angebracht ist. Schwieriger wird es in Kommunikationssituationen, in denen wir noch keine oder kaum Erfahrungen haben oder die zwischenmenschlich „heikel“ sind.
Es gibt also immer wieder Situationen, über die wir viel nachdenken – und auch Situationen, für die wir uns die nötigen sprachlichen Mittel noch nicht angeeignet haben. Der Soziolinguist Jan Blommaert spricht in diesem Zusammenhang von Truncated Repertoires. Repertoire bezeichnet die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die wir kennen. „Truncated“ kann übersetzt werden mit „verkürzt“, „beschränkt“ oder „angeschnitten“, verweist also darauf, dass etwas nicht vollständig ist. Mit Truncated Repertoires sind also unvollständige sprachliche Repertoires gemeint. Blommaert meint dies aber nicht abwertend, sondern betont, dass wir in keiner Sprache alle Elemente kennen – weil wir gar nicht alle brauchen.
Wir verfügen in der Regel über jene sprachlichen Mittel, denen wir in konkreter Sprachpraxis („Language Practice“) begegnet sind und die wir auch selbst anwenden. Damit sind die sprachlichen Mittel häufig mit bestimmten Kommunikationssituationen verbunden, in denen sie immer wieder verwendet werden, weil sie da gut funktionieren. „Truncated“ ist aber auch verwandt mit „trunk“, was Rumpf, aber auch Stamm, Baumstamm bedeuten kann. Aus diesem Stamm heraus können immer wieder neue Äste wachsen: Wir können unser sprachliches Repertoire ein Leben lang erweitern. In diesem Sinne lassen sich die „Truncated Repertoires“ als ein Grundstock an sprachlichen Mitteln begreifen, auf dem wir aufbauen können.
Wir haben gesehen, dass Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz nicht gleichzusetzen sind – aber sie hängen zusammen: Sprachpraxis ist an Kommunikationssituationen gebunden. Und auch die Auseinandersetzung mit der Wirkung von sprachlichen Ausdrucksmitteln ist an einer Schnittstelle von Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz zu sehen. Dazu gehört der Umgang mit bestimmten grammatischen oder lexikalischen Formen, mit rhetorischen Figuren und sprachlichen Bildern. Sprachliche Elemente haben nicht nur eine Bedeutung (Denotation), sondern sie lösen auch bestimmte Vorstellungen aus, die mitgemeint sind (Konnotationen). Die Sprachwissenschaftlerin Kirsten Adamzik veranschaulicht das anhand eines Beispiels: Die Begriffe „Baby“, „Säugling“ oder „Wickelkind“ bezeichnen vielleicht jeweils dasselbe Kind, betrachten es aber aus unterschiedlichen Perspektiven: Baby bezieht sich vor allem auf das geringe Lebensalter, Säugling auf den Umstand, dass das Kind Muttermilch trinkt, und Wickelkind darauf, dass es gewickelt werden muss.
Stilmittel, sprachliche Bilder und Konnotationen können bewusst eingesetzt werden, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Das kann auch eine emotionale Wirkung sein. Nicht zuletzt darauf beruht die Macht der Sprache, die für Propaganda und Manipulation missbraucht werden kann, wurde – und wird.
Ein Sprachwissenschaftler, der sich damit intensiv auseinandergesetzt hat, ist Victor Klemperer: Er war in der Zwischenkriegszeit Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule Dresden. Unter dem NS-Regime verlor er seine Stelle, wurde als Jude verfolgt, konnte sich aber immer wieder verstecken und untertauchen (unter anderem im Chaos nach den Luftangriffen auf Dresden) und so in Deutschland überleben. In seinen Tagebüchern analysiert er die Sprachverwendung im Dritten Reich, die „Lingua Tertii Imperii“, kurz: LTI. Die Analyse wird ihm zur „Balancierstange“, die ihm hilft, durch die schrecklichen Zeiten zu kommen. Er beobachtet scharfsinnig, wie eine bestimmte Form der Sprachverwendung die öffentliche Meinung regelrecht vergiftet und dadurch die NS-Diktatur stützt:
Was war das stärkste Propagandamittel der Hitlerei? [D]er Nazismus ging in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden. […] Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. […] Die nazistische Sprache […] ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, […] in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel. (Klemperer 1975:25f)
Die Macht der Sprache zeigt sich darin, dass durch bestimmte Begriffe bestimmte Assoziationen ausgelöst und Deutungsrahmen aufgerufen werden. Dadurch können die Einstellungen von Menschen beeinflusst werden. Das kommt nicht nur in Diktaturen vor, sondern auch in der Demokratie. Es ist nicht auf die NS-Zeit beschränkt, sondern heute immer noch aktuell – und wird auch anhand von aktuellen Beispielen erforscht: Dies tun zum Beispiel der Sprachwissenschaftler George Lakoff und die Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling. Das Phänomen, dass bestimmte sprachliche Elemente bestimmte Vorstellungen auslösen, nennen sie Framing.
Begriffe werden durch diese Vorstellungen bewusst „eingerahmt“, es wird ein Deutungsrahmen aufgerufen, in den Informationen eingeordnet werden. So macht es zum Beispiel einen Unterschied, ob von „Nichtraucherschutz“ und „guter Luft in Gasträumen“ gesprochen wird – oder von „militantem Rauchverbot“.
Assoziationen und Deutungsrahmen sind häufig mit Emotionen verknüpft. Dies wird in der Kommunikation bewusst genützt: In der Werbung wird typischerweise versucht, positive Emotionen oder Sehnsüchte zu wecken. Das Steuern von Deutungsrahmen ist aber eben auch ein Teil von Propaganda und Manipulation. In jüngerer Zeit wurde politisches Framing und das potentielle „Gift“, das darin stecken kann, unter anderem im Zusammenhang mit dem Migrations- und Fluchtdiskurs untersucht: Elisabeth Wehling bringt dafür die Beispiele „Flüchtlingskrise“, „Flüchtlingswelle“ oder gar „Flüchtlingstsunami“. Diese Begriffe lösen Konnotationen aus, die Angst machen – und zwar nicht Angst vor dem Krieg oder den Katastrophen, die die Flucht ausgelöst haben, sondern Angst vor den geflüchteten Menschen. Umgekehrt löst ein Begriff wie „Steueroase“ erfreuliche Vorstellungen von einem schönen, üppigen, grünen Ort aus – und nicht etwa die Vorstellung von Betrug an der Allgemeinheit.
Sprachliche Manipulation im Alltag und in unterschiedlichen Kommunikationssituationen zu durchschauen und ihr nicht auf den Leim zu gehen, ist eine Frage von Sprach- und Kommunikationskompetenz. Dazu gehört auch, „giftige“ Begriffe und Bilder zu erkennen und sie nicht unabsichtlich weiterzutragen.
Deutungsrahmen an sich sind weder gut noch schlecht, sie gehören zur Kommunikation dazu. Wir brauchen Deutungsrahmen, um uns in Aussagen und Texten zurechtzufinden. Kommunikationskompetenz bedeutet in diesem Zusammenhang, zu verstehen, wie Deutungen konstruiert werden und welche Rolle sprachliche Mittel dabei spielen. Sensibilität für die Wirkung von Sprache zu entwickeln, ist schon ein erster Schritt hin zu professioneller Kommunikation.