Читать книгу Ferien, die bleiben - Micky Molken - Страница 6

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Prolog

Es war schon spät. Die Dunkelheit hatte bereits eingesetzt, als die letzten Umzugskartons die Wohnungstür erreichten. Der Möbelpacker hielt zwei schwere Kisten in den Händen. Mit fragendem Blick schaute er seitlich an den hochragenden Kartons vorbei.

»Keine Ahnung, sagen Sie es mir. Sie sehen selbst das Chaos«, seufzte Denise und raufte sich die Haare. Überall waren Kartons verteilt und sie stand wie angewurzelt mittendrin.

Der Möbelpacker zuckte mit den Schultern. Sein Kopf war so rot wie der Pullover von Denise. Auf seiner Nasenspitze tanzten bereits kleine Schweißperlen. Mit ständigem Nachfassen versuchte er, die ihm aus den Händen gleitenden Kartons zu halten. Seine Arme wurden immer länger und es würde nicht mehr lange dauern, bis alles zu Bruch ginge.

»Und?«, krächzte er.

Mit zusammengepressten Lippen schaute sie sich um und zuckte mit den Schultern.

»Keinen blassen Dunst! Stellen Sie es einfach im Nebenzimmer ab.«

Dann betrachtete Denise ihn. Nein, er war nicht ihr Typ. Er war zu klein, zu kompakt und zu alt. Vielleicht hatte er noch geschätzte fünf oder sechs Jahre bis zur wohlverdienten Rente. Wenn er diese jemals erreichte. Denn was er Tag für Tag schaffte, war schwere körperliche und kraftanstrengende Arbeit. Wahrscheinlich steckten ihm über 350 Treppenstufen, zehn Kilometer Fußmarsch und zwölf Stunden harte Arbeit in seinen Beinen.

Selbst schuld. Hätte er damals in der Schule besser aufgepasst, müsste er heute nicht meine Besitztümer schleppen.

Nein, Denise hatte ein anderes Beuteschema. Die Männer mussten jünger sein, um einiges jünger als sie. Denn sie hatte eine Schwäche für schlaksige, pickelige und jungfräuliche Studenten. Diese Sorte von Jungs, die vermutlich erst spät Erfahrung mit dem anderen Geschlecht sammeln würden. Und genau das machte für sie den Reiz aus: Die erste Frau in deren Leben zu sein, mit der sie das allererste Mal Sex haben würden. Diesen Moment, würden sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen und Denise hätte sich damit für immer in ihren Seelen verewigt. Genau das war es, was sie wollte: Eine bleibende Erinnerung sein. Das Andenken eines unvergesslichen Moments.

Völlig erschöpft folgte der Mann ihren letzten Anweisungen. Und der Weg zum rettenden Ufer war nicht weit. Seine Arme waren kurz und der Fußboden nahe. Mit einem Aufschrei, wie ein Gewichtheber, der geschlagen und auf den letzten Platz verwiesen worden war, stellte er die Kartons ab.

Das war jetzt nicht passiert, oder? Denise wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie schreckte auf. Der Möbelpacker, der das Aussehen und die Statur wie einer der Zwerge aus „Der Hobbit“ hatte, erstarrte. Es machte den Anschein, als hätte er einen Hexenschuss. Nur langsam richtete er sich wieder auf.

Mit weit aufgerissenen Augen schaute er zu Denise rüber.

»Entschuldigung, es tut mir leid. Aber ich hatte schon den ganzen Tag Bauchkneifen.«

Jetzt guckte sie entsetzt, Mund und Augen waren dabei weit geöffnet.

»Sie haben doch nicht etwa gerade …?« Denise wusste nicht, ob sie lachen oder angeekelt sein sollte.

»Leider ja, es ist mir so unangenehm.«

Ihre Vermutung hatte sich bestätigt. Der Zwerg hatte doch tatsächlich Gase aus seinem Hinterteil entweichen lassen. Noch immer stand er wie in Stein gemeißelt da.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie besorgt. Denise blieb regungslos und die anfängliche Belustigung wich komplett aus ihr. Auch er bewegte sich nicht. Nur seine weitaufgerissenen Augen wanderten durch den Raum. Als wäre er ein Modell eines Bildhauers, regte er sich keinen Millimeter, weder vor noch zurück.

»Dürfte ich vielleicht Ihre Toilette benutzen?«

Es fühlte sich für Denise an wie ein Schlag in den Bauch. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Bitte nicht das. Um Gottes willen. Er scherzte, oder? Sie spürte, wie der Ekel in ihr aufstieg.

»Auf gar keinen Fall!«

So, als hätte er eine ansteckende todbringende Krankheit, schnellte Denise zurück und brachte sich so auf Abstand.

»Nicht im Entferntesten werde ich es Ihnen erlauben, meine Toilette zu benutzen. Sorry, auch das tut mir jetzt leid. Nehmen Sie sich die Rolle blauer Säcke und packen Sie sich einen davon auf ihren Fahrersitz. Den Rest können sie gerne behalten.«

Thorin Eichenschild hatte sich tatsächlich in die Hose geschissen. Es war schon schlimm genug, dass er in ihrer Gegenwart seinen Körper nicht unter Kontrolle hatte, seine Gase innerhalb ihrer Wände frei ließ und zudem noch Land aus seiner Körperöffnung herauskatapultierte. Aber für nichts auf der Welt würde sie ihm ihr Badezimmer anbieten. Denise war es genauso peinlich wie ihm, wenn nicht sogar noch peinlicher. Sie wollte nur noch, dass der Mann so schnell wie möglich ihre Wohnung verließ. Netter, freundlicher Small-Talk war ab jetzt vorbei.

»War das alles?«, fragte sie, um sicherzugehen, dass auch der kleinste Umzugskarton sein neues Zuhause erreicht hatte.

»Ja, das waren die beiden letzten Kartons. Die Ladefläche ist leer. Dürfte ich nicht doch Ihr Bad benutzen?«

Er wollte sich doch nicht etwa duschen? Auf gar keinen Fall. Denise holte tief Luft. Ihre Übelkeit spielte mit der Uvula, dem Zäpfchen im Rachenraum, welches bei der kleinsten Berührung ein Brechreizgefühl auslösen konnte. Entweder bildete sie es sich ein oder ihre Wohnung roch tatsächlich nach Gülle. Es überkam ihr ein kurzer trockener Brechreiz. Sie würgte, hielt aber den Mund dabei geschlossen.

Was war an einem „Nein“ nicht zu verstehen? Er sollte endlich Land gewinnen. Und sich unterstehen, seinen Unrat auf dem Parkett zu hinterlassen.

»Tut mir wirklich leid, aber das geht wirklich nicht!«, entschuldigte sie sich.

An dieser Stelle hörte für Denise die Nächstenliebe auf. Natürlich tat es ihr leid, den alten Herrn mit einer vollgeschissenen Hose in den Feierabend zu schicken. Aber sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut. Ihre innere Einstellung, aus der heraus jemand bereit war, seinen Mitmenschen zu helfen und Opfer für sie zu bringen, war in diesem Fall undenkbar.

»Okay, ich gehe dann mal«, sagte er geknickt.

»Ja, vielen Dank für Ihre Hilfe. Die Rechnung lassen Sie mir bitte per Post zukommen. Und vergessen Sie nicht, die Säcke mitzunehmen.«

Denise überschlug sich fast beim Sprechen, so schnell redete sie.

»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich erneut für sein Unglück.

»Kann passieren«, sagte sie. Darf es aber nicht, fügte sie gedanklich hinzu. Dann holte sie das schlechte Gewissen ein. Mist!

»Warten Sie.«

Denise kramte aus ihrem Portemonnaie einen Geldschein heraus. Sie näherte sich dem Möbelpacker mit einem lang ausgestreckten Arm.

»Hier nehmen Sie das und kaufen Sie sich auf der Heimfahrt eine neue Hose und saubere Unterwäsche. Mehr kann ich leider für Sie nicht tun«, sagte sie mit dumpf klingender Stimme. »Seien Sie mir nicht böse und ich wünsche Ihnen ein besseres Wochenende.«

Dann winkte sie ihm zum Abschied nach. Es war eine kleine Geste der Freundlichkeit, des Dankes. Doch ehrlicherweise war es für sie eher ein Verscheuchen. Oh Mann! Denise atmete schwer. Sie betete zu Gott, dass er alles bei sich behalten würde und nichts davon aus seinem Hosenbein herausrutschte. Eigentlich konnte der Mann einem nur leidtun. Sein Gang war schleppend. Mit kleinen, kurzen Schritten schlich er sich aus der Wohnung. Denises Kehle schnürte sich zu. Der Speichel, den sie hinunterwürgte, blieb ihr als Kloß im Hals stecken.

Endlich, die Wohnungstür schnappte zu. Sofort befreite sie sich aus ihrer Starre. Flugs riss sie alle Fenster weit auf. Nachdem sie den Schreck verdaut hatte und sämtliche Zimmer gut gelüftet worden waren, ließ sie sich auf das Sofa fallen. Sie seufzte. Ihr Blick glitt durch den Raum. Das also war ab jetzt ihr neues Zuhause. Freude wollte sich jedoch nicht einstellen. Anders als die Tage zuvor, da konnte alles nicht schnell genug gehen. Das musste auch das Umzugsunternehmen spüren.

»Sie haben nur drei Tage Zeit, nicht einen Tag länger«, waren ihre Worte am Telefon gewesen. Sie hatte sich auf ihr neues Zuhause gefreut. Doch, als sie die Wohnung vom Sofa aus betrachtete, sah es nach allem anderen aus, aber nicht danach angekommen zu sein. Überall standen Kartons, die es galt, auszupacken. Denise legte sich aufs Sofa, streckte müde ihre Arme und Beine von sich und schloss nur für einen kleinen Moment die Augen. Nur kurz ausruhen, dachte sie und dann schlief sie ein.

Sechs Stunden später streichelte die Sonne sanft ihr Gesicht. Zunächst blickte sie sich um. Die Kisten standen noch immer an Ort und Stelle, dort, wo sie gestern abgestellt worden waren. Leider hatte ihr niemand diese Arbeit abgenommen. Fröstelnd kuschelte sie sich unter die Decke, die sie nachts warmgehalten hatte. Gähnend streckte sie ein letztes Mal die Glieder, bevor sie aufstand.

Müde tapste sie ins Badezimmer. Ohne sich im Spiegel anzusehen, griff sie zu Zahnbürste, Duschgel, Zahnseide und Zahnpasta, die in einer Box lagen. Sie betrat die Duschkabine und schloss die Tür hinter sich. Die Gegenstände, die sie in den Händen hielt, legte sie auf die Ablage. Sie nahm den Duschkopf von der Halterung, richtete den Wasserstrahl gegen die Wandfliesen und drehte die Mischarmatur auf. Minutenlang ließ sie das Wasser laufen, so lange, bis heißer Nebeldampf ihren Körper umhüllte. Wassertropfen suchten sich einen Weg von der Glasscheibe der Duschabtrennung hinunter. Der heiße Wasserdampf erinnerte sie an eine Dampfsauna, die sie im letzten Monat besucht hatte.

Denise wählte eine angenehme Temperatur, steckte den Duschkopf in die Halterung zurück und ließ es auf sie hinab regnen. Heißes Wasser umschloss ihre kühle Haut, dann verharrte sie mit eng umschlungenen Armen minutenlang aus. Durch ihren Körper zog eine angenehme Wärme, die eine wohlige Gänsehaut hervorrief. Denise gähnte vor Behaglichkeit. Der Wasserstrahl füllte ihren Mund, den sie gründlich mit einem gurgelnden Geräusch ausspülte. Sorgfältig führte sie die Zahnbürste über ihre strahlendweißen Zähne, spülte den Mund aber nicht aus. Das tat sie nie. Anschließend reinigte sie die Zahnzwischenräume mit Zahnseide. Danach genoss sie ein weiteres Mal die wohltuende Wärme der Wassertropfen.

Allmählich wich die Müdigkeit aus ihr. Ihre Hände verteilten sanft das Duschbad auf ihrem Körper und die Haut duftete nun nach Rosenblüten. Plötzlich verspürte sie das unbändige Verlangen nach Zärtlichkeit, nach einer innigen Berührung, nach einem Höhepunkt der Lust. Sie schloss ihre Augenlider, verfiel in eine Fantasie und führte ihre Hand in ihren Schoß. Denise kannte ihre erogenen Zonen und wusste genau, wie sie den ersehnten Höhepunkt erreichte. Nachdem sich die aufgebaute Anspannung durch den Orgasmus zu einer Tiefenentspannung wandelte, war ihre anfängliche Müdigkeit wie weggeblasen. Schaum löste sich von ihrer Haut. Denise schaute ihm verträumt nach, wie eine Schauminsel vom Flussbett mitgerissen und als Wasserstrudel in die Tiefe geführt wurde. Jetzt konnte sie voller Energie in den Tag starten.

Mit einer bequemen Jogginghose und einem schwarzen Rollkragenpullover, machte sie sich ans Werk. Zunächst wollte sie ihre Vogelspinne Harry begrüßen und schaute nach seinem Wohlergehen. Vermutlich war er hungrig, so wie immer. Die Heimchen, Harrys Lieblingsspeise, die gut verpackt in einem Umzugskarton lagerten, waren schnell auszumachen. Ihre zirpenden Geräusche verrieten sie. Mit einer Pinzette griff Denise nach einer Hausgrille und hielt sie vor Harrys Höhle. Sie wartete einen Moment darauf, dass er aus seinem Unterschlupf herausspringen würde, um sich direkt auf die Beute zu stürzen. Jedoch passierte nichts. Er wird doch nicht schon wieder aus seinem Terrarium ausgebrochen sein, scherzte sie in Gedanken. Es wäre alles andere als lustig. Die Vorstellung ließ Denise schaudern. Ihr blieb nichts anderes übrig, als nachzuschauen. Vorsichtig hob sie den Deckel von Harrys Höhle an, nur ein kleines Stück. Mit Erschrecken stellte sie fest, dass die Behausung leer war. Verflixt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Insgeheim hatte sie gehofft, dass Harry nur schlecht gelaunt war, um sich zu zeigen. Doch jetzt begriff sie das ganze Übel. Die Lage war ernster, als sie scherzhafterweise angenommen hatte. Fuck! Vermutlich war die Spinne die ganze Zeit, ohne es zu wissen, in ihrer Hand, unter dem Deckel der Höhle. Denise erstarrte. Ihr Herz schlug schneller.

»So ein Mist«, fluchte sie. Jetzt hatte sie genau zwei Möglichkeiten, schreiend alles fallenzulassen oder behutsam die Abdeckung auf Harrys Höhle zurückzusetzen. Für einen Moment entschied sie sich weder für das Eine noch für das Andere. Sie haderte mit sich. Eigentlich wäre es klug, nachzuschauen, ob Harry tatsächlich auf der Unterseite der Abdeckung saß. Auch auf die Gefahr hin, dass die Spinne sie angreifen und ihre Waffen in ihr Finger rammen würde, denn Harry war äußerst aggressiv. Denise wurde mulmig zumute und die Hände waren eiskalt. Vorsichtig drehte sie den Deckel herum. Sie atmete erleichtert auf. Harry saß nicht unter der Höhlenabdeckung. Aber in seiner Behausung auch nicht. Und das ließ Denise erneut frösteln. Sie schnaufte. Verdammt, wo könnte er sein? Es gab nicht allzu viele Verstecke innerhalb des Terrariums, wo das Übel sich hätte verkriechen können. Im Grunde genommen nur das eine und das war leer. Das Heimchen krabbelte stolzierend in Harrys Revier umher.

Dann schreckte Denise auf. Sie schrie laut und fasste sich sofort an ihr pochendes Herz. Gottverdammt!

»Harry, du blöde Sau, musst du mich so erschrecken!«

Das hatte die Spinne noch nie zuvor gemacht. Zum ersten Mal hatte Harry sich unterhalb der Erdoberfläche vergraben. Er spürte die Bewegung des anrückenden Graspferdchens. Gut getarnt schnellte er hervor und packte seine Beute mit voller Wucht. Hastig schloss Denise sofort die Klappe des Terrariums.

Erleichtert stellte sie die Packung mit den Heimchen neben dem Terrarium ab. Ihr Zirpen, das in der ganzen Wohnung zu hören war, rief nach dem ersten morgendlichen Schreck eine Sehnsucht in Denise hervor. Das Verlangen nach Sommer, Sonne, Strand und blühenden Wiesen mit hohen Gräsern. Sie schaute zum Fenster und beobachtete die Regentropfen, wie sie sanft niederfielen. Draußen war schmuddeliges Herbstwetter. Wenn es nach ihr ginge, könnte es Sommer sein oder besser noch Frühling. Den Frühling liebte sie, wenn alles aus dem winterlichen Tiefschlaf erwachte, die ersten Blumenknospen aufbrachen und die Luft nach frisch gemähtem Gras duftete. Aber wenn es schon kein Frühling war, dann sollt es zumindest ein strenger frostiger Winter mit meterhohem Schnee sein. Das alles war besser als die trübe Suppe, die schon seit Tagen auf Denises Gemüt schlug.

Sie seufzte. Egal wo sie hinschaute, alles wirkte chaotisch. Bis auf ein Zimmer, das seit zwei Tagen komplett eingerichtet war. Dort hatte bereits alles seinen Platz. Das Schlafzimmer! Das Fuhrunternehmen war damit beauftragt worden, sämtliche Schlafzimmereinrichtung zuerst zu transportieren. Den Inhalt der Möbel hatte sie in Eigenregie befördert. Zwei Fahrten waren nötig. Nachts, in gut verschlossenen Koffern, hatte sie die Sachen mit ihrem Kleinwagen die 270 Kilometer herangeschafft. Sie achtete darauf, dass der Raum immer verriegelt war. Keine andere Person durfte hinein. Keiner außer Denise selbst hatte dort Zutritt. Niemand kannte ihr dunkles Geheimnis. Den Schlüssel der Schlafzimmertür, die mit einem Spezialschloss gesichert war, trug sie immer bei sich.

Zehn Stunden später hatte sie die meisten Umzugskartons geleert und alles an Ort und Stelle gebracht. Denise schnaufte kurz durch. Dann knurrte ihr der Magen. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Zumal die erste Mahlzeit des Tages nicht üppig ausgefallen war. Es war ihr egal, was das Hungergefühl nun einforderte. Bevor sie etwas essen würde, wollte sie unbedingt die letzten beiden Kartons auspacken.

Seltsam, diese verstaubte Kiste war ihr vorher nie aufgefallen. Wo kam die plötzlich her? Erschöpft, aber dennoch voller Neugier öffnete sie den Karton. Dann musste sie lächeln, als sie hineingriff.

»Das darf doch nicht …«

Es musste schon mindestens 15 Jahre her sein, als sie es zum letzten Mal in den Händen hielt. Denise setzte sich auf den Fußboden, lehnte sich dabei an die Couch und betrachtete den Frontdeckel des Notizbuchs.

»Verrückt! Da ist ja mein Tagebuch«, strahlte sie über beide Ohren. Sie nahm das Buch heraus und öffnete es.

Als Denise die ersten Zeilen las, kam es ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatte Erinnerungen in ein Zeitfenster gefangen, die schon lange, sehr lange her waren. Sie löste ihren Blick von den Seiten des Buchs und fasste einen Plan. Ja, das mach ich! Okay, Planänderung: Die beiden Kartons laufen mir nicht weg. Ich werde sie morgen auspacken. Doch bevor ich es lese, werde ich noch einen kleinen Happen zu mir nehmen.

So stand ihr Entschluss fest. Sie richtete sich auf und lief in die Küche. Dort teilte sie Bananen, Äpfel, Weintrauben und eine Kaki in Stücke, schüttete alles in eine große Porzellanschale und stach eine Kuchengabel hinein. Dann schenkte sie sich ein Glas Rotwein ein, trug alles ins Wohnzimmer und stellte es auf den Couchtisch ab. Denise machte es sich auf dem Liegesofa gemütlich, deckte sich zu und nahm das Buch zur Hand. Sie war angespannt und voller Vorfreude.

Das Buch roch nach altem Papier. Dieser eindringliche Geruch war ihr nicht fremd und keineswegs unangenehm. Ganz im Gegenteil: Es duftete nach Urlaub und nach einem längst vergessenen Erlebnis. Wie lange war es her? Zwanzig Jahre? Dieser modrige, feuchte, erdige Duft erinnerte sie an Italien. Genauer gesagt, war es die Ferienwohnung, die genauso roch. Denise atmete tief ein und nahm einen Schluck Rotwein. Dann tauchte sie in Erinnerungen ab, die sie vor langer Zeit festgehalten hatte.

Kapitel 1

Tagebucheintrag

Was für eine Nacht! Statt einer liebevollen und zärtlichen Berührung traf mich der Sonnenstrahl wie ein Laserschwert direkt ins Gesicht. Reflexartig leitete ich erste Gegenmaßnahmen ein. Innerhalb von wenigen Millisekunden schloss ich die Augenlider. Doch es war zu spät, ich war bereits schwer getroffen. Vor meinem inneren Auge tanzten regenbogenfarbige Punkte, die zu Sternen mutierten und in bunten Sternschnuppen niedergingen. Und genau ab dem Moment war mir klar, dass es mit dem Schlaf vorbei war. Kochend vor Wut schlug ich die Bettdecke über den Kopf.

»Leck mich doch«, knurrte ich wütend.

Erleichtert atmete ich tief ein. So war es besser - viel besser. Mein schmerzerfüllter Gesichtsausdruck entspannte sich. Endlich war es wieder dunkel, aber leider nicht lautlos. Mein Puls schnellte sofort wieder in die Höhe. Ruhig, Denise. Nicht aufregen. Höre nicht hin. Ignoriere dieses dumme Geschwätz. Blende es einfach aus. Alles wird gut.

»Verdammte Scheiße, ich will mich aber nicht beruhigen. Und was zur Hölle geht da vor sich?« Tierisch genervt stieß ich strampelnd die Bettdecke weg und sprach innerlich mit den Störenfrieden. Welcher Hornochse kann mir sagen, was in einem scheißlangweiligen Vogelleben so interessant sein soll? Habt ihr jemals von dem Wort Rücksichtnahme gehört? Anscheinend nicht, sonst würdet ihr einfach die Klappe halten. Noch besser wäre es, eure Konferenzen auf den Nachmittag zu verlegen, dann, wo jeder normale Mensch arbeiten muss. Oder wie wäre es mit Flüstern, hm? Nur ein wenig leiser reden. Ein bisschen mehr Rücksicht würde mir schon genügen. Aber nein, ihr müsst euch morgens um, ach keine Ahnung, wie spät es ist, lautstark unterhalten. Großartig. Was ist mit euch Baumscheißern eigentlich los? Habt ihr kein Zuhause, oder was? Meine Güte, es kann doch nicht so schwer sein. Wie konnten Vögel am Morgen schon so gut gelaunt sein? Es war ohrenbetäubend! Vermutlich tauschten sie sich über die Ereignisse des Vortags aus. Jeder wollte seine Geschichte zuerst erzählen.

Und in Gedanken stellte ich mir ein mögliches Gespräch vor:

»Ach, meine Liebe. Mein Federkleid sieht so furchtbar aus. Die feuchten Nächte. Nein, alles ist durcheinander.«

»Schätzchen, Ihre Naturlocken sehen entzückend aus.«

»Meinen Sie?«

»Wirklich! Sie sollten öfter Ihr Federkleid so tragen. Es sieht so natürlich aus. Wie gerne würde ich mich mit Ihnen weiter unterhalten. Doch die Zeit fliegt mir davon. Mein Mann hat schon den Frühstückstisch gedeckt. Leider haben wir keine Würmer mehr im Haus. Ich hoffe, dass ich noch welche finde. Wie Sie sehen habe ich ständig zu tun. Küsschen meine Teuerste. Man sieht sich. Auf Wiedersehen.«

So oder so ähnlich könnte sich das Ganze abspielen. Und da war auch noch die blöde Wildtaube, die mich schon seit dem Beginn der Ferien jeden Morgen um 6 Uhr aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Wenn ich könnte, würde ich sie am liebsten erschießen. Doch dazu fehlte mir die Handhabe. Eine Waffe hatte ich leider nicht, aber dafür jede Menge Wut im Bauch. Ich schwöre bei Gott, wenn ich einen Schießprügel hätte, dann würde ich diesen blöden Vogel umbringen. Oh Mann, es war viel zu früh. Ich war noch hundemüde und dieses Gezwitscher hörte einfach nicht auf. Dann griff ich zum Kissen und drückte es mir ins Gesicht.

»Ruhe! Verflucht, ich will doch nur in Ruhe schlafen!«, schrie ich, so laut ich konnte.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Resigniert nahm ich das Kopfkissen vom Schädel und rollte mich auf den Bauch. Diese Nacht war ohnehin von wenig Schlaf geprägt. Es war viel zu heiß. Außerdem hatte ich große Probleme einzuschlafen. Ständig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, immer auf der Suche nach einer kühlen Bettstelle. Erschwerend kam dazu, dass mich ein fieses Insekt nervte. Meiner Meinung nach das niederträchtigste, bösartigste Monster, das es je gegeben hatte. Ich hasste Mücken. Immer wenn ich kurz vor dem Einschlafen war, und ich endlich eine angenehme Position gefunden hatte, kreiste das Mückenmonster um meinen Kopf herum. Nein, nicht zehn. Sondern nur eine einzige verdammte Stechmücke raubte mir den Nerv. Aus der Haut fahren würde ich, wenn ich das könnte. Verflucht! Also stand ich wieder auf, schloss das Fenster, schaltete meine kleine Nachttischlampe an und lauschte dem Geräusch, welches ständig um meinen Kopf kreiste. Doch es passierte nichts. Null. Die Mücke war wie vom Erdboden verschluckt. Außer einer gespenstigen Stille war nichts zu hören. Hatte das Vieh die Flucht ergriffen? Doch warum sollte es? Es gab keine Veranlassung für eine Flucht. Nein, sie war nicht weg, denn sie hatte bereits ihr Opfer gefunden. Das fiese Insekt lauerte in irgendeiner dunklen Ecke und wartete auf den passenden Moment, um erneut einen Luftangriff zu starten, sobald ich das Licht wieder ausschalten würde. Doch den Gefallen werde ich dir nicht tun.

»Du blödes Mistvieh. Wo zum Teufel steckst du?«

Wenn ich diese Nacht noch schlafen wollte, brauchte ich dringend eine gute Idee, eine Strategie. Ich verharrte wie in einer zu Stein gewordenen Haltung aus und hielt Ausschau nach dem Insekt. Leider vergebens. Minutenlang bekam ich weder etwas zu hören noch etwas zu sehen. Wo konnte die Mücke sein? Verflixt und zugenäht! Ich musste aktiv werden. Also rollte ich mich aus dem Bett, bewaffnete mich mit einem Hausschuh und begab mich auf Spurensuche.

Okay, wie du willst. Wenn du kleines Mistvieh nicht zu mir kommen willst, dann muss ich halt zu dir. Misstrauisch durchleuchtete ich jeden Zentimeter mit meiner Taschenlampe. Schaute in jede Ecke und in jeder Spalte meines Kinderzimmers. Jeden Winkel nahm ich in Augenschein. Aber das Einzige, was ich fand, waren Spinnweben.

»Die müsste ich auch mal entfernen«, murmelte ich. Oder besser nicht. Spinnen fressen doch Insekten, oder? Also auch Mücken, Fliegen und so Zeug. Dann wäre es schlauer, ich lasse die Netze einfach dort, wo sie sind. Die perfekte Falle für die Mücke.

Ich suchte weiter.

»Wo ist dieses verfluchte Biest?«

Dann wurde mir mulmig. Tausende tänzelnde Mücken lauerten im Lichtkegel meiner Taschenlampe vor dem geschlossenen Fenster. Wie gefräßige, gierige Monster, die auf diesen einen Moment warteten, um mir das Blut aus den Adern zu saugen, sobald ich das Fenster öffnen würde. Sollten sie doch verhungern oder sich ein anderes Opfer suchen. Ich werde bestimmt nicht das Fenster öffnen. Es war frustrierend. Die Mücke hatte den Kampf gewonnen. Nach der erfolglosen Suche setzte ich mich resigniert aufs Bett, legte die Taschenlampe zur Seite und lauschte ein letztes Mal, dann löschte ich das Licht. Abermals wälzte ich mich hin und her. Zu wissen, dass die Mücke mich beobachtete, ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Außerdem fehlte mir ein leichter Luftzug, der mich in den Schlaf streicheln würde. Ich könnte wetten, dass die Mückenschwärme noch immer vor meinem Fenster lauerten.

»Ach Menno!«

Ich war an einem Punkt angekommen, an dem mir alles egal war. Ich war hundemüde und wollte nur eins, endlich einschlafen. Also versuchte ich, es mir so gemütlich wie möglich zu machen. Langsam, aber beständig fiel ich in den Schlaf. Doch was soll ich sagen? Nach einigen Minuten Dunkelheit summte dieses blutsaugende Monster wieder um meinen Kopf herum. Hektisch, mit unkontrollierten Luftschlägen, versuchte ich das Insekt zu treffen oder zumindest zu verjagen. Leider ohne Erfolg. Und was unternahm ich vor lauter Verzweiflung? Richtig! Ich vergrub mich unter der Bettdecke. Die Folgen waren: ein Hitzeschub, Luftnot und ein Wutanfall. Ich hätte ausrasten können. Wutentbrannt schmiss ich die Bettdecke davon und atmete hektisch. Das Schlafshirt klebte am ganzen Körper. Meine Lieblingsheldin, die in fluoreszierenden Farben auf dem Shirt leuchtete, war ebenfalls nass.

Es war Sailor Moon, meine persönliche Zeichentrickheldin. Auf der ganzen Welt gab es keinen größeren Fan als mich. Ich kannte alle ihre Abenteuer, wenn sie als Sailor Kriegerin die Erde gegen dunkle Mächte beschützen musste. Ich wünschte, ich wäre genauso mutig, stark und wunderschön wie sie. In gewisser Weise waren wir uns ähnlich, denn eigentlich ist sie ein ganz normales Mädchen und alles andere als überdurchschnittlich begabt. Sie ist verträumt, ängstlich, ungeschickt und nicht die hellste Leuchte in der Schule. Okay, ich hatte ihr doch etwas voraus, denn ich war ziemlich gut in der Schule. Wenn jemand wie Sailor Moon sich zur stärksten Kriegerin der Galaxien entfalten kann, warum kann ich nicht auch nach den Sternen greifen? Was würde sie an meiner Stelle tun? Ängstlich unter der Bettdecke ausharren? Solange bis die Sonne aufbricht und das blutsaugende Monster wie ein Vampir in die Dunkelheit abtaucht? Ganz sicher nicht. Sie würde es besiegen.

Und ich wusste, dass ich irgendwann meine eigene Kriegerin erschaffen würde. Genügend Fantasie hatte ich, die ich in Kurzgeschichten niederschrieb. In Gedanken über meine Heldin musste ich doch irgendwann eingeschlafen sein. Leider wurde mein Schlaf abermals unterbrochen. Diesmal waren es meine Eltern gewesen, die mitten in der Nacht durchs ganze Haus polterten. Der Grund für diese nächtliche Unruhe war schnell ausgemacht. Zu allem Übel bahnte sich auch noch ein Gewitter an und bei solch einer Naturgewalt spielten meine Eltern komplett verrückt. Sobald sich die ersten Anzeichen eines Gewitters anbahnten, zogen Sie sämtliche Stecker aus den Steckdosen heraus. Außer dem Kühlschrank trennten sie alle Geräte vom Stromnetz. Es könnte ja im Haus einschlagen. Und für diesen Fall, dass bei einer Überspannung des Stroms ein Feuer ausbrechen würde, sammelten sie die wichtigsten Papiere, Bilder und Wertsachen zusammen und verstauten die Dinge in zwei Koffern. Na ja, mir machte ein Gewitter an und für sich nichts aus. Nur wenn es lautstark donnerte oder blitzte, konnte ich nicht besonders gut schlafen. Aber im Normalfall war ich ganz entspannt, im Gegensatz zu meinen Eltern. Eine positive Sache hatte das Gewitter schließlich doch. Es kühlte sich schlagartig ab. Die Mücken vor dem geschlossenen Fenster waren auf und davon, sodass ich es nach dem Unwetter wieder öffnen konnte. Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung ein. Bis ich zum wiederholten Male aus meinem Schlaf gerissen wurde. Womit hatte ich das nur verdient?

»Baby, aufstehen!«

Die schrille Stimme meiner Mom peitschte die Treppe hinauf, zerschmetterte die geschlossene Tür und schlug wie ein Donnerschlag in meinen Kopf ein.

»Ich bin schon wach«, grummelte ich leise.

»Hörst du, Schätzchen?«, schrie Mom erneut, da sie offenbar meine Antwort nicht gehört hatte.

»Ja!«, antwortete ich genervt und zog mir die Bettdecke über den Kopf.

»Das Bad ist frei, Baby«, rief jetzt auch noch Dad die Treppe hinauf, der im Gegensatz zu mir, wie immer gut gelaunt war. Dann latschte er in die Küche zu Mom.

»Guten Morgen! Konntest du nach diesem bösen Gewitter wieder gut einschlafen?«

Mom und Dad hatten so ein lautes Organ, das ich jedes einzelne Wort laut und deutlich hörte.

»Sagtest du einschlafen? Hör mir bloß auf. Kein Auge habe ich zu bekommen. Gott hat wohl eine wilde Party gefeiert. Schau mich an. Meine Augenränder sprechen für sich.«

Ohne es zu sehen, wusste ich genau, was sich zwischen Mom und Dad abspielte.

Mit einem tropfenden Abwaschlappen in der Hand, mit dem Mom soeben die letzten Gläser abgespült hatte, rannte sie erneut zur Treppe.

»Du siehst bezaubernd aus, wie immer«, rief Dad ihr nach.

»Hast du gehört, Baby, dein Vater ist fertig. Das Badezimmer wäre jetzt frei.«Moms Stimme ertönte erneut und wartete dann wohl auf meine Antwort. Statt zu antworten, strampelte ich wütend die Bettdecke fort.

Warum müssen meine Eltern immer so schreien? Sie könnten einfach die Treppe nehmen, sachte an meine Zimmertür klopfen und nicht durch das ganze Haus brüllen, dachte ich wütend.

»Baby?«

»Gottverdammt, ja Mom.«

Kopfschüttelnd schnellte sie zurück in die Küche.

»Und, ist Baby wach?«, fragte Dad nach.

»Unsere kleine Prinzessin ist schon wieder grundlos genervt. Vom wem hat sie das?«

»Ja, unser Baby hat sich verändert. Sie wird so schnell erwachsen.«

»Das Erwachsensein werde ich ihr noch austreiben. Da kannst du Gift drauf nehmen«, wetterte sie umher. Mom ließ das Wasser aus dem Spülbecken, drückte den Waschlappen aus und schlug ihn über den leicht tropfenden Wasserhahn.

»Unser Baby ist halt kein Kind mehr«, seufzte Dad. »Schön war die Zeit, als sie noch klein, lieb und artig war. Wie oft kam sie auf meinen Schoß, um zu kuscheln. Irgendwie vermisse ich das. Aber so ist der Lauf der Zeit. Denise wächst heran und auch wir werden älter, Anna Maria. «

Sie hört mir ja doch nicht zu, diese Person, dachte Ehrhard, sprach es aber nicht aus. Mom war schon wieder auf dem Weg zur Treppe.

Dann beruhigte ich mich und grübelte. Trotz der anstrengenden Nacht konnte es dennoch ein guter Morgen werden, wäre nicht diese eine Sache. Der bevorstehende Urlaub. Wie alle Sommerferien verbrachte ich den Urlaub mit meinen Eltern. Diesmal war es eine Woche Italien. Ich hasste es, genauso wie ...

»Baby, nun los, wir wollen frühstücken.«

Seitdem ich mich erinnern kann, nannten mich meine Eltern Baby. »Baby, räume dein Zimmer auf. Baby, mach dieses. Baby, mach jenes.« Was sollte das? Zum Kuckuck ich war kein Kind mehr. Ich war erwachsen. Hallo, immerhin bin ich siebzehn, fast achtzehn. Ich war gefangen in einem goldenen Käfig.

Viele meiner Klassenkameraden tummelten sich ständig auf Partys herum. Rauchten, tranken Alkohol, hatten vielleicht sogar schon Sex. Jedenfalls prahlten einige von ihnen damit, was für ein großartiges Wochenende sie hatten. Toll! Und ich? Dank meiner konservativen Eltern durfte ich nichts. Nicht auf Partys, keinen Alkohol, nicht rauchen, einfach gar nichts. Wer oder was bin ich eigentlich? Ich bin nur die gut erzogene Tochter eines Pfarrers und einer leitenden Oberschwester eines Krankenhauses. Mehr nicht! Natürlich hatte ich alles, was ich mir vorstellen konnte. Ein eigenes Zimmer mit einem eigenen Fernseher und schöne Klamotten. Mein Vater las mir jeden Wunsch von den Lippen ab. Doch wirklich frei in meinen Entscheidungen war ich nicht. Es gab Regeln, die es einzuhalten galt. Übernachtungen bei Freundinnen? Fehlanzeige! Ganz zu schweigen von Übernachtungen bei einem Freund. Ich war wohl die einzige Person auf dieser Welt, die als Jungfrau sterben wird.

Völlig erschöpft von der letzten Nacht, taumelte ich die Treppenstufen hinunter.

»Guten Morgen, Baby.«

Ich antwortete mit einer erhobenen Handgeste, ohne ein Wort der Höflichkeit. Es folgte ein »Hast du gut geschlafen?«, doch diese Worte prallten bereits gegen die von mir geschlossene Badezimmertür.

»Anscheinend nicht«, hörte ich nur Dad sagen.

Sailor Moon wäre in dieser Situation auch nicht besser gelaunt als ich und mein Spiegelbild. Ich betrachtete mich. Meine Haare waren zerzaust. Kein Wunder nach der Nacht, in der ich mich bestimmt tausend Mal hin und her gewälzt hatte. Eine Haarsträhne fiel mir ins Gesicht. Ich versuchte es mit wegpusten, doch ohne Erfolg. War das ein Pickel? Ich rückte näher an mein Spiegelbild und legte die Strähne hinter das Ohr. Tatsächlich, mitten auf der Stirn war etwas. Dann aber musste ich innerlich lachen, als ich den Irrtum erkannte. Ich konnte den Pickel mit dem Finger abwischen, der sich nun auf der Kuppe meines Zeigefingers befand. Ich betrachtete das Übel. Meine Vermutung bestätigte sich. Es war eine Leiche. Die Leiche einer zerquetschten Mücke. Hatte ich sie also doch erwischt. Mann, war ich gut! Sailor Moon wäre stolz auf mich. Ansonsten war ich mit meinem Spiegelbild zufrieden. Ich nahm meine Zahnbürste, hielt sie unter den Wasserhahn, benetzte sie mit ein paar Tropfen Wasser und strich die Zahnpaste darauf. Die Zahnbürste wanderte in meiner Mundhöhle umher, während ich zeitgleich meine Blase entleerte.

»Nicht doch!«, murmelte ich.

Angeekelt sprang ich auf. Igitt! Das Wasser aus der Toilettenspülung spritzte gegen meine Pobacken. Ich griff nach der Toilettenpapierrolle. Sie war leer. Typisch Dad. Och Mensch! Warum immer ich? Rasch zog ich mein Slip aus, der sich unterhalb meiner Knie befand, und wischte damit das Spülwasser von meinem Hintern ab. Leider musste dieser auch als Toilettenpapierersatz herhalten. Nur gut, dass ich nur klein musste. Nach einer sorgfältigen Begutachtung meiner gereinigten Zähne spülte ich die Zahnbürste aus und legte sie in den bereitgestellten Kosmetikbeutel, den Mom schon für die Reise vorbereitet hatte. Ernüchternd stellte ich fest, dass mein Shirt schon bessere Tage erlebt hatte. Es roch nicht besonders gut. Es müffelte nach Schweiß. Auch so eine unnötige Sache des Älterwerdens. Sowie die absolut überflüssige Menstruation, worauf ich gut und gerne verzichten könnte.

Es gab Zeiten, da konnte ich es nicht erwarten, endlich meine Tage zu bekommen. Das nächste Level zu erreichen, das vom Mädchen zur Frau. Tatsächlich war ich eine von den letzten Mädchen meiner Klasse, und es schien, als hätte mich Mutter Natur mich schlichtweg vergessen. Und das war es, was mich ärgerte. Ich wollte auch zu den Mädchen dazugehören, die schon ihre Tage hatten. Eine von ihnen sein. Nicht ganz so wie sie. Ich würde trotz meiner Periode und deren Beschwerden am Sportunterricht teilnehmen. Erst als ich bereits das sechszehnte Lebensjahr erreichte, war sie endlich da. Wie aus heiterem Himmel: Ich bekam endlich meine Tage. Aber jetzt wünschte ich mir, ich hätte sie nie bekommen. Die anfängliche Euphorie war verflogen. Ab jetzt war es nur noch lästig.

Was hatte sich die Natur dabei gedacht? Warum bekamen Jungs so etwas nicht? Was ist mit Gleichberechtigung? Verdammt! Erwachsen zu werden ist echt doof. Zusammen mit dem Slip legte ich das Shirt zu den anderen schmutzigen Sachen in den Wäschekorb. Barfüßig wartete ich leicht fröstelnd vor der geschlossenen Duschkabine darauf, dass der heiße Wasserdampf innerhalb der Dusche aufstieg, erst dann würde ich sie betreten. Ich hasste es, wenn nach dem Aufdrehen des Wasserhahns, minutenlang kaltes Wasser meine Füße benetzte. Nö, dann warte ich lieber, bis es schön heiß war. Allzu viel Zeit hatte ich allerdings nicht, da ich wusste, dass meine Eltern am Frühstückstisch auf mich warteten. Mit nassen Haaren, die nicht einmal ansatzweise abgetrocknet waren und nur mit einem großen Badehandtuch bekleidet, saß ich endlich am Küchentisch.

»Sorry«, entschuldigte ich mich für mein Zuspätkommen. Schweigend, schlecht gelaunt und müde harrte ich auf dem Küchenstuhl aus. Mit beiden Händen umklammert, starrte ich auf den Grund des Teeglases. Kleine Teeablagerungen tanzten umher, denen ich verträumt zusah.

»Also dein Gesicht spricht Bände«, stellte Dad fest. Mein Blick richtete sich auf.

»Wie meinst du das?«, wollte ich wissen.

»Dein Vater meint damit, dass du nicht glücklich aussiehst. So als würdest du den Urlaub schon jetzt hassen, bevor wir überhaupt losgefahren sind.«, antwortete Mom und sie wusste nicht, wie Recht sie damit hatte.

»Und Appetit scheinst du auch nicht zu haben. Zumindest eine Kleinigkeit solltest du zu dir nehmen.«

Ich atmete laut und schwer.

»Es ist noch so früh am Morgen, da habe ich halt keinen Hunger.«

»Aber irgendwas musst du essen, Baby. Ein Waffelbrot mit Erdbeerkonfitüre vielleicht? Ich mach es dir.« Mein Vater war schon im Begriff vom Stuhl aufzuspringen. Doch ich konnte ihn noch rechtzeitig bremsen.

»Nein, Dad, wenn ich etwas essen wollen würde, kann ich es mir auch selbst zubereiten. Ich bin keine sieben mehr.«

»Stimmt, aber wie siebzehn Jahre benimmst du dich auch nicht. Und warum sitzt du eigentlich hier halb nackt? Du hättest dir etwas Anständiges anziehen können.«

»Okay, okay!« Ich hob meine Arme, so, als würde ich mich geschlagen geben. »Dad, du hast Recht. Mein Vorschlag: Ich bereite mir Essen für unterwegs vor und wenn ich damit fertig bin, gehe ich nach oben und ziehe mich an.«

Dad nickte und stimmte damit meinem Angebot zu.

»Baby, deine nassen Haare tropfen den ganzen Fußboden voll«, warf Mom auch noch ein.

»Aha, den ganzen Fußboden. Ich verstehe.« Wutentbrannt stand ich auf. Der Stuhl hinter mir geriet ins Schwanken. »Planänderung. Ich werde mir kein Essen zubereiten, sondern ich gehe gleich nach oben, um mir die Haare abzutrocknen, bevor wir alle jämmerlich ersaufen.«

Genervt polterte ich die alte Holztreppe hinauf. Das Zuschlagen der Tür war in jeder Ecke des Hauses zu spüren. Aufgebracht schmiss ich mich auf das Bett und schwer atmend sprach ich leise ein Gebet.

»Lieber Gott, mach, dass der Urlaub ausfällt. Schick mir eine Seuche. Cholera oder Pest. Schenk mir Pocken oder Masern, aber lass um Himmelswillen die Reise ausfallen. Danke!«

Alles würde ich in Kauf nehmen, um nicht mit in den Urlaub fahren zu müssen. Eine Seuche käme mir gerade Recht. Ich ärgerte mich über die maßlos übertriebene »gut gemeinte« Erziehung meiner Eltern. Das ständige Bevormunden und diese nervige Stimme meiner ...

»Baby, ich mache dir ein Reisesandwich fertig. Was für einen Belag hättest du denn gerne?«

Mom! Denkt man an den Teufel, dann zeigt er sich. Oh Gott, sie nervt! Ich schnappte das Kopfkissen, drückte es mir ins Gesicht und schrie, so laut ich konnte.

»Mom!«, zog ich das Wort so lange, bis mir die Luft wegblieb.

»Bitte, ich habe es nicht verstanden.«

Ich zog das Kissen vom Gesicht und brüllte: »Käse, Mom, nur Käse.«

Mein Kopf wurde knallrot und drohte zu explodieren. Ich tobte vor Wut.

»Sagtest du Käse?«

»Ja!«, brüllte ich.

»Du musst nicht gleich so schreien.« Vermutlich schüttelte Mom ihren Kopf. »Na das kann ja heiter werden.«

»Sie wird sich schon beruhigen, alles wird gut«, hörte ich Dad sagen. Er versuchte Mom zu besänftigen.

»Hoffentlich. Dein Wort in Gottes Gehörgang.«

Nachdem die Küche in Ordnung gebracht worden war, arbeitete Mom ihre Urlaubscheckliste ab. Sie wollte keinesfalls etwas vergessen. Sorgfältig strich sie alle abgearbeiteten Dinge von ihrer Liste durch.

»Reiseapotheke, check! Papiere und Geld, check! Unterwäsche, T-Shirts, Hosen kurz/lang, Nachthemd/Schlafanzug habe ich …«

Dann wurde sie in ihrem Tun unterbrochen.

»Erhardt, es klingelt an der Tür«, rief sie durch das Haus, »…Sonnenmilch, Shampoo, Zahnbürsten, habe ich, ja, habe ich auch, dass auch. Ah, den Föhn muss ich noch einpacken.«

Erneut läutete es an der Tür.

»Wo steckt er denn wieder? Erhardt!«, fragte Mom laut und lief ins Badezimmer.

Natürlich hätte meine Mom selbst die Tür öffnen können, aber sie hatte etwas Wichtigeres zu tun.

»Erhardt!«

Moms Rufen wurde eindringlicher.

Ich stand vom Bett auf, lief zu meiner Tür, öffnete sie einen Spalt und lauschte. Wer konnte das sein? Besuch um diese Uhrzeit war sehr ungewöhnlich. Vielleicht war es Ronny, der mich überraschen wollte, um mir einen schönen Urlaub zu wünschen. Meine schlechte Laune wich. Verhext, wie sehe ich aus! Wenn Ronny mich so sieht, war mein erster Gedanke. Und ich hörte, wie Dad zu Tür eilte. Abermals klingelte es.

»Ich bin schon auf dem Weg«, versuchte er Mom zu beschwichtigen.

Enttäuscht fiel ich in den alten Gemütszustand zurück, als ich hörte, wer auf der anderen Seite der Tür stand. Es war Tante Henriette, unsere Nachbarin von gegenüber. Dann erinnerte ich mich. Sie sollte sich in unserer Abwesenheit um das Haus kümmern. Blumen gießen, Mülltonnen rausschieben und so weiter. Missgelaunt schloss ich die Tür. Tante Henriette war schwerhörig und redete deshalb sehr laut. Warum eigentlich? Weil sie ihre gesprochenen Worte selbst nicht hören konnte? Nun, keine Ahnung, ist auch egal. Ich hatte andere Sorgen. Meine Probleme häuften sich, damit auch meine Laune, die ohnehin schon auf dem Tiefpunkt war. Was sollte ich anziehen? Meine besten Klamotten waren bereits im Reisekoffer verstaut, stellte ich missgünstig fest, als ich vor dem geöffneten Kleiderschrank stand. Einen Slip, weiße Sneaker-Socken und ein passender BH in Körbchengröße C waren schnell zu finden. Ich betrachtete die restliche Auswahl meiner Kleidungsstücke, die sorgfältig im Kleiderschrank lagen. Nach einem kurzen Hin und Her, fiel die Wahl auf eine kurze schwarze Radlerhose. Dazu ein gelbes Trägertop mit Rundhalsausschnitt. So, fertig. Nur noch flott die Haare kämmen, zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden und dann kann es losgehen. Die Freude stand mir ins Gesicht geschrieben, so, als gäbe es sieben Tage Regen. Nur langsam stieg ich die Treppe hinunter. Als ich unten ankam, war Dad bereits damit beschäftigt das Auto mit unserem Reisegepäck zu beladen.

»Da ist sie ja.«

»Hallo Tante Henriette«, sagte ich und die Umarmung war herzlich.

»Na, bist du schon aufgeregt?«

»Ein wenig, Tante Henriette, ein wenig«, antwortete ich laut. Mein Lächeln war nur aus reiner Höflichkeit.

»Baby, kannst du deinem Vater zur Hand gehen und die restlichen Sachen zum Auto tragen?« Und das war von meiner Mutter keine Bitte, sondern ein Befehl.

Ich gehorchte und befolgte die Anordnung meiner »bösen Stiefmutter«. Nein, natürlich war sie keine böse Stiefmutter. Mom konnte auch ganz nett sein. Leider nur manchmal. Wenn sie doch nur halb so viel nerven würde. Sie war immer so hektisch und alles musste sofort gemacht werden. Alles tanzte nach ihrer Pfeife. Also erledigte ich das, was sie mir befohlen hatte. Ich half Dad und trug zwei kleine Reisetaschen und eine Waschtasche zum Auto.

»So, Henriette, das Blumen gießen nicht vergessen und denke auch an die Blumen im Gästehaus. Die Mülltonnen bitte Donnerstagabend vor die Tür stellen. Ab und zu mal lüften.«

Ich schnappte mir die letzte Tasche, brachte sie Dad und setzte mich ins Auto. Dabei ließ ich die Tür auf, um nicht wie in einem Backofen gegart zu werden. Die aufgehende Sonne heizte den Innenraum unseres Autos langsam, aber stetig auf. Mom redete sich wieder in Rage. Sie unterhielt sich mit Tante Henriette so lautstark, dass sämtliche Nachbarn und wir nicht umhinkamen, Notiz von Ihnen zu nehmen und dass wir verreisen wollten. Und wie ich Mum kenne, sollten es auch alle mitbekommen. Mom liebte es, wenn sie im Mittelpunkt stand, im Gegensatz zu Dad, der an und für sich ein sehr ruhiger Zeitgenosse war. Und wie immer sollte ich Recht behalten. Die ersten Nachbarn traten schon vor die Tür, natürlich rein zufällig.

»Ach, ihr wollt verreisen?«, rief unsere Nachbarin. Sie stand am Gartenzaun und starrte neugierig zu uns rüber.

Unser Haus stand in einer gutbürgerlichen Wohnsiedlung. Alle Häuser hatten den gleichen Baustil. Keller, Erdgeschoss mit ausgebautem Dachgeschoss. Unter dem Dach hatte ich mein Zimmer mit angrenzenden WC. Es gab einen kleinen Garten vor dem und einen etwas Größeren hinter dem Haus.

»Ja, nach Italien. Italien ist so schön!«, rief Mom mit weit aufgerissenen Armen und schmiss sich in Pose. Jetzt waren alle anderen auch wach.

»Mom!«, ermahnte ich sie aus dem Auto heraus. Konnte sie nicht einfach die Klappe halten oder nur ein wenig leiser reden?

»Für zehn Tage.« Mom wurde immer lauter.

Was nicht stimmte. Sie übertrieb und rundete großzügig auf. Es waren nur acht Tage. Zum Glück.

Jetzt hatte sie das erreicht, was sie erreichen wollte. Alle Nachbarn im Umkreis von einem Kilometer wussten jetzt, dass wir nach Italien fahren. Für genau zehn Tage. Wie peinlich!

»Eure Tochter kommt auch mit?«, erkundigte sich unsere neugierige Nachbarin. Sie wollte Mom nun bestimmt ausfragen.

»Natürlich, meine Liebe. Es wird wie immer ein traumhafter Familienurlaub«, sagte Mom zunächst theatralisch, um dann so leise zu zischen, so dass nur ich sie hören konnte: »Neugierige Ziege. Mom stand mit Tante Henriette direkt neben mir. Das geschieht Mom ganz recht. Erst weckte sie alle mit ihrem Gebrüll auf, um sich dann im Nachhinein über die neugierigen Fragen zu beschweren. So war meine Mutter.

»Wo ist Denise eigentlich?«, fragte Mom schnell.

»Hier, direkt neben dir im Auto«, sagte ich leise.

»Sie sitzt bereits im Auto«, sagte Dad laut, sodass Mom es aufschnappte.

»Ach so!«

Dad war schon etwas ungehalten. Ihn packte das Reisefieber, war aber zu höflich, um die Verabschiedung zu beschleunigen, und ließ Mom ihren Spaß.

»Hier ist der Schlüssel Henriette, gut darauf aufpassen. In zehn Tagen sind wir wieder hier.«

»Acht Tage, Mom«, versuchte ich sie zu verbessern. Natürlich hörte Mom mir nicht zu. Tante Henriette nickte.

»Ach, hätte ich das gewusst, dass Sie verreisen, hätte ich auch Ihre Blumen gießen können, Frau Nachbarin.«

Das war zu viel. Entsetzt schaute Mom zur schaulustigen Nachbarin herüber. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre in Ohnmacht gefallen. Sie war empört. Was nahm sich dieser ungebetene Zaungast heraus?

»Um Gottes willen nein«, schrie Mom ein Stoßgebet in den Himmel und stieg ins Auto.

»Erhardt, lass uns losfahren«, zischte sie Dad zu, der einen letzten prüfenden Blick zum Haus und zum Grundstück nahm, »Du weißt, wir haben eine lange Fahrt vor uns. Los, nun komm, steig endlich ein.«

Mom knallte die Beifahrertür zu. Dad wuchtete seinen Körper ins Auto, steckte den Schlüssel in das Zündschloss und startete den Wagen.

»Diese Person macht mich wahnsinnig«, fauchte Mom.

Dads Körpersprache sagte, dass nicht er es war, der hier den ganzen Verkehr aufgehalten hatte, sondern sie. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wären wir schon vor einer Viertelstunde losgefahren.

»Haben wir auch an alles gedacht? Hast du noch einmal nachgeschaut, Erhardt?«

»Ja, habe ich.«

»Den Mülleimer. Hast du ihn geleert?«

»Ja, Anna Maria.«

»Das Wasser abgestellt und alle Netzstecker gezogen?«

»Ja habe ich. Alle Elektrogeräte sind aus. Heizung, Herd, Kühlschrank. Fenster und Türen sind verschlossen. Und alle Lichter sind ebenfalls aus. Ich habe an alles gedacht.«

Dann nickte Mom zufrieden und schnallte sich an.

»Nun fahr endlich los, ich kann die Alte nicht mehr ertragen.«

»Wenn irgendetwas sein sollte, geben Sie mir Bescheid, Frau Nachbarin. Meine Telefonnummer haben Sie ja«, rief uns die Schnepfe von nebenan zum Abschied zu. Sie wusste ganz genau, wie sie Mom zur Weißglut bringen konnte. Und nur deshalb lächelte sie Mom so freundlich zu.

»Nein danke. Frau Henriette wird sich um alles kümmern«, schrie Mom aus der geöffneten Fensterscheibe heraus, als Dad endlich losfuhr.

Das war also der traumhafte Start in den Urlaub. Na, das kann ja was werden!

Kapitel 2

Unsere vorlaute Nachbarin beschäftigte Mom noch die ganze Autofahrt. Beide waren wie zwei Kampfhähne mit ihren aufgesetzten lächelnden Gesichtern. Ständig auf Konfrontation aus und jederzeit bereit der anderen ein Auge auszuhacken. Mom zog fast immer den Kürzeren. Sie könnte platzen vor Wut, wenn sie ein Ballon wäre.

Kauften wir uns neue Gartenstühle, gab es sofort neugierige Blicke der Nachbarin, mit den Worten: »Die sind aber schön, wo haben Sie die denn her? Über Quelle bestellt?«

Fünf Tage später standen die gleichen Gartenstühle im Nachbarsgarten.

Drei Wochen, nachdem wir unsere Küche renoviert hatten, stand vor ihrer Auffahrt ein Firmenwagen mit der Aufschrift, »Malermeister Pünktchen. Wir renovieren ihre Wohnung«.

Dad bestellte Außenjalousien für unsere Fenster und die blöde Schnepfe von nebenan hatte zwei Wochen später ebenfalls neue Jalousien. Mom könnte jedes Mal dabei eskalieren. Dazu stets diese dummen Kommentare unserer Nachbarin.

»Ach, Sie haben sich für die günstige Variante entschieden. Bei der Beratung hatten sie uns davon abgeraten. Wir haben uns für die Luxusvariante der Außenjalousien entschlossen. Na ja, es kann halt nicht jeder einen Mercedes fahren«, waren ihre Worte gewesen.

Ich könnte wetten, dass unsere und ihre Wohnungseinrichtung fast identisch waren. Und genau das machte es in Moms Augen so schrecklich, so dass sie sich tagelang darüber aufregen musste. Besser gesagt, sie regte sich tagelang darüber auf und wetterte Dad damit zu.

»Kannst du dir das vorstellen Erhardt, diese unmögliche Person bei uns im Haus. Sie soll unsere Blumen gießen? Oh mein Gott!« Ich hörte ein klatschendes Geräusch. Mom schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Das ist undenkbar. Lieber schmeiß ich alle Blumen weg und kauf mir nach dem Urlaub Neue.« Das war die Ruhe, was nun folgte, war der Sturm.

»Sie würde in jedem Zimmer, in jeder Ecke, in jedem Schrank, in jeder Schublade herumschnüffeln. Nein, nur über meine Leiche kommt diese Person in mein Haus.«

Moms stark gestikulierende Arme sausten haarscharf an Dads Kopf vorbei. Fast hätte sie ihn getroffen.

»Nun ist aber gut, Anna Maria. Beruhige dich bitte.«

Dad ließ die Straße zu keiner Zeit aus den Augen. Er schaute stur geradeaus, ohne Mom eines Blickes zu würdigen.

»Ich soll mich beruhigen? Nicht bei dieser Person.«

»Ich glaube, sie würde sich in unserer Wohnung sehr gut zurechtfinden«, gab ich meinen Senf ungefragt dazu und streute ein wenig Salz in Moms Wunde. Ihr Gesichtsausdruck hätte man aufnehmen sollen – sie war nun der Teufel in Person.

Daraufhin redete sie sich noch mehr in Rage. Dad schaltete nach einer Weile ab. Nur sein Kopf nickte wie ein Wackeldackel, der bei uns auf der Hutablage des Autos seinen Platz gefunden hatte. Bis es ihm doch zu viel wurde.

»Jetzt ist aber mal Schluss. Ich kann es nicht mehr ertragen. Wenn du nicht umgehend damit aufhörst, Anna Maria, fahre ich auf der Stelle wieder zurück. Mir reicht’s. Ich habe Urlaub und möchte mich ein wenig erholen.«

Mom schaute Dad verdutzt an und bekam den Mund nicht zu. Sie konnte es nicht glauben, Dad hatte sie tatsächlich in die Schranken gewiesen. Selbst ich war überrascht. Ob das allerdings eine gute Idee gewesen war, bezweifelte ich. Vom Donnerwetter überwältigt, guckte Mom ab jetzt starr nach vorne und schwieg. Aber mal ehrlich, sie konnte einen mit ihrem vorlauten Mundwerk wirklich bis zur Weißglut bringen. Und, bis Dad etwas sagte, musste schon viel, sehr viel passieren. Mom war glatt die Spucke weggeblieben und hielt endlich die Klappe. Schweigend fuhren wir weiter in Richtung Urlaub. Und ich verlor mich in meinen Gedanken.

Wie jedes Jahr freuten wir uns auf den Urlaub innerhalb der Sommerferien. Sorry, meine Eltern freuten sich darauf. Urlaub in Italien. Okay, ich musste zugeben, als ich noch kleiner war, fand ich es auch großartig, mit meinen Eltern zu verreisen. Bis auf die ellenlangen Fahrten mit dem Auto, die megalangweilig waren. Ansonsten fand ich den gemeinsamen Urlaub schön. Allerdings war es in diesem Jahr anders. Ich hatte mich verliebt. Nicht etwa in eine Boygroup. Nein, es war ein Junge aus meiner Schule. Sein Name klang wie Musik. Ich hatte mich in Ronny verschossen. Er war der heißeste Typ der ganzen Schule.

Und das Dumme dabei war, dass ich Ronny für eine ganze Weile nicht sehen würde. Drei Wochen ohne ihn, das würde die grausamste Zeit meines Lebens werden. Wenn wir nach acht Tagen wieder zu Hause fuhren, wäre Ronny mit seiner Familie schon einen Tag unterwegs für seinen Urlaub in Bulgarien. Für genau zwölf Tage. Wie sollte ich das bloß ohne ihn aushalten? Ich musste ständig an ihn denken und mein Herz freute sich schon auf das Wiedersehen. Seine braunen Augen, das Zahnpasta Lächeln, seine vollen Lippen und sein Grübchen am Kinn, machten ihn zuckersüß. Ich musste nur aufpassen, dass meine Eltern es nicht erfuhren. Sie würden einen Freund nicht dulden. Scheiße, sie waren so konservativ. Wenn sie wüssten, dass wir genau drei Tage vor unserer Abreise das erste Mal geknutscht haben, würden sie ausflippen. Und, wenn die anderen Mädels meiner Schule mitbekommen, dass ich und Ronny zusammen waren, würden die Schnepfen vor Neid platzen. Alle wollten mit ihm gehen und ich hatte das große Los gezogen.

Aber der erste Kuss war so ... scheiße! Voll ekelhaft! Ronny schob mir mit seiner Zunge irgendwelche Krümel in den Rachen. Nüsse oder so ein Zeug. Dabei hatte ich eine Nussallergie und mir schwollen sofort die Lippen an. Ich bekam Atemnot und fing an zu sabbern. Na ja, das konnte Ronny nicht wissen. Ansonsten war es schon aufregend, zumal es mein erster Freund war und ich wusste, dass er es sein wird, an den ich meine Unschuld verlieren wollte. Noch in diesen Sommerferien sollte es passieren. Ich war fest entschlossen, denn er sollte derjenige welcher sein.

Unsere erste Begegnung war nicht allzu lange her. Ich hatte ihn schon des Öfteren auf dem Schulhof gesehen, aber er mich nicht. Und miteinander geredet hatten wir vorher auch nicht. Doch vor zehn Tagen war alles anders. Es war der Nachmittag unseres letzten Schultages und der Beginn unserer Ferien. Ronny war mit ein paar Jungs am See gewesen, als ich mit meinen Freundinnen dazu kam. Sie hatten dort einen liegenden Schwimmbagger gekapert. Seit mehreren Monaten war der Bagger nicht mehr in Betrieb. Wahrscheinlich war er defekt und der Schaden zu groß, um schnell repariert zu werden. Nun diente er als Sprungturm. Es war das perfekte Badewetter und alle tummelten sich im Wasser. Nur ich nicht. Ich lag auf der angrenzenden Wiese und sonnte mich. Ich machte es mir auf meinem Handtuch bequem. Zuvor hatte ich mich selbstverständlich mit Sonnenschutz eingerieben. Und das Ganze sorgfältig, darauf legte Mom sehr viel wert. Gelangweilt beobachtete ich die Schäfchenwolken. Wie sie wohl entstehen, fragte ich mich. In manchen Wolkenformationen konnte ich Figuren erkennen. Nur einmal auf solch einer Wolke schweben, das wäre cool, war mein letzter Gedanke, als ich unerwartet aus meiner Verträumtheit gerissen wurde. Anfänglich dachte ich, dass eine größere Wolke den Himmel zu verdunkeln schien und einen Schatten auf mein Gesicht warf. Ich erkannte aber schnell den Irrtum. Eine selbst in Schatten gehüllte Silhouette stand plötzlich vor mir. Es war Ronny, der mir die Sonne nahm. Er fragte mich, ob alles gut sei und ich nicht Lust hätte, mit ins Wasser zu kommen. Dass es mir meine Eltern verboten hatten, im Baggersee zu baden, wollte ich ihm nicht sagen. Es war mir zu peinlich.

Meine Eltern hielten es für zu gefährlich. Sie hatten Angst, dass ich ertrinken könnte. Es war schon einige Jahre her, als zwei Personen im See ums Leben gekommen waren. Und es waren keinesfalls alte Leute oder Babys. Nein, im Gegenteil. Es waren alles gute Schwimmer. Vermutlich gab es am Grund des Sees irgendwelche Strudel oder Hohlräume, die eine plötzliche Erdsenkung herbeiführten und somit einen Sog erzeugten, der sehr gefährlich war. Ich durfte nur dort baden, wo auch Rettungsschwimmer die Badegäste beaufsichtigten. Also erfand ich eine unglaubwürdige Notlüge, die Ronny mir abkaufte.

»Aber wenn du Lust hast, lade mich doch zum Eisessen ein«, sagte ich frech.

Kaum ausgesprochen blieb mir die Luft weg. Verdammt, was war los mit dir, Denise? Ermahnte ich mich selbst. Hatte ich das tatsächlich gesagt. Oh, wie peinlich. Du hast ihn gerade angebaggert. Mein Mundwerk war wieder einmal schneller als mein Verstand. Das passierte mir in letzter Zeit öfter. Was gar nicht meine Art war. Noch vor einem Jahr wäre mir das nie passiert. Ich wäre schon im Erdboden versunken, wenn er mich nur angelächelt hätte. Da musste ich jetzt durch und einen Korb kassieren. Aber nein, stattdessen stotterte Ronny umher und war alles andere als selbstbewusst. Dass ihn ein Mädchen anmacht, damit hatte er nicht gerechnet. Und ich am allerwenigsten. Dann aber, kam ein Kurzes und Knackiges:

»Okay.«

Hatte ich mich gerade verhört oder sagte er »Okay«? Das konnte nicht sein. Der, Ronny Schönfeld, lud mich zum Eisessen ein? Nein, nicht er. Warum sollte er? Oder hatte er »Oh je« gesagt? Ich war mir unsicher. Was machte ich jetzt? Ich dachte nach. Ich konnte ihn schlecht darum bitten, sich zu wiederholen. Ich war in einer Zwickmühle. Jetzt aufzustehen wäre blöd. Also blieb ich liegen und sagte nichts.

»Jungs, ich bin kurz weg«, rief er den anderen zu.

Wahrscheinlich war ich ziemlich rot angelaufen, als ich die erhoffte Bestätigung bekam. Ups! Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, dass ich ein wenig nervös war.

»Na, dann, lass uns gehen«, gab er den Startschuss.

Ronny half mir hoch und wir machten uns auf den Weg. Ganz in der Nähe gab es das beste Softeis der Gegend. Zwei Wege führten geradewegs zur ersehnten Abkühlung. Zum einen der geteerte Radweg oder der Weg über die Wiese. Die Strecke des Radweges wäre ein wenig weiter und so entschieden wir uns für die nahe gelegene Weide. Aber so wie der heiße Asphalt des Radweges, hatte auch der Feldweg über die Koppel seine Tücken. Barfüßig trapsten wir über das hohe Grass. Die Sonne biss uns gnadenlos in den Nacken. Ständig den Blick nach unten gerichtet, mussten wir aufpassen, um nicht in einen Kuhfladen hineinzutreten. Die weidenden Kühe ließen wir nicht aus den Augen. Ein wenig Respekt hatte ich schon vor den Viechern, die auf der Weide grasten. Ronny versuchte, mir die Angst mit den Worten zu nehmen: »Nur gut, dass wir keine rote Kleidung tragen, ansonsten würden sie uns sicher angreifen, denn sie hassen die Farbe Rot. Aber du brauchst keine Angst zu haben, ich bin bei dir.«

Mein Lächeln war nicht ehrlich. Aber mehr wollte ich mich dazu nicht äußern. Denn ich wusste im Gegensatz zu Ronny, dass die Kühe Farben gänzlich uninteressant finden. Rinder sind grundsätzlich keine aggressiven Tiere. Im Gegenteil, meistens sind sie ruhig, gemütlich und phlegmatisch. Sie greifen nur an, wenn sie sich bedroht fühlten. Sie reagierten meistens nur auf schnelle Bewegungen und nicht auf rote Kleidung. Aber ich wollte nicht neunmalklug herüberkommen und ließ Ronny in seinem Glauben. Es war süß, dass er mich beschützen wollte. Mein persönlicher Held. Leider war mein Held schneller verschwunden, als ich es erahnen konnte. Die Kühe hatten uns bemerkt und schauten zu uns herüber. Sie schienen neugierig zu sein und beobachteten uns. Alles schien friedlich, bis sich plötzlich die Herde in Bewegung setzte. Sie kamen auf uns zu. Anfänglich nur langsam doch zu allem Übel legten sie an Geschwindigkeit zu. Es trennten uns vielleicht fünfzig Meter von Ihnen, als Ronny versuchte sie einzuschüchtern. Er machte sich groß. Ronny streckte beide Arme weit vom Körper ab und schrie ihnen entgegen. Es ähnelte an einer Sportübung: Der gute alte Hampelmann. Leider gefiel es der Herde überhaupt nicht. Rasend kamen sie unaufhörlich näher. Dann hörte ich nur ein Wort mit einer einzigen Silbe und das war »Lauf!«. Völlig überraschend ließ mich Ronny allein. So schnell er konnte, lief er um sein Leben, in Richtung Weidezaun. Fünf der Kühe nahmen direkte Verfolgung auf und rannten ihm hinterher. Nur eine einzelne Kuh interessierte sich für mich. Mir klopfte das Herz bis zum Hals und fast wäre es mir in die Hose gerutscht. Ich versuchte Ruhe zu bewahren und streckte ebenfalls beide Arme seitlich vom Körper aus. Im Gegensatz zu Ronny vermied ich hektische Bewegungen und brüllte das Vieh an. Etwas Besseres wie »Stopp!«, fiel mir in diesem Schreckensmoment leider nicht ein. Als ob Kühe auf das Wort Stopp hören würden. Zum Erstaunen reagierte sie tatsächlich auf meinen Befehl und verlangsamte die Geschwindigkeit.

»Ruhig, ganz ruhig!« Meine Stimme zitterte.

Die Kuh blieb stehen und fing an zu grasen. Ich atmete tief. Erst jetzt hatte ich die Zeit nach Ronny zu sehen und ließ mein Blick von der Kuh für einen Moment ab. Er war bereits in Sicherheit und wartete hinter dem Weidezaun. Auch seine Verfolger ließen von ihm ab und gaben den Weg für mich frei. Langsam bewegte ich mich in seine Richtung. Geschafft, ich war in Sicherheit.

»Warum bist du nicht gelaufen? Verdammt! Hast du die riesigen Hörner gesehen?«

Ronny war immer noch völlig außer Atem. Auch ich war komplett aufgewühlt. Stark gestikulierend erklärte er mir, dass er nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen war. Es kam ihm vor, als wäre er bei einem Stierrennen im spanischen Pamplona. Ständig war er kurz davor, sich im vollen Lauf auf die Fresse zu packen und von der wütenden Herde auf die Hörner genommen zu werden. Und wenn er nicht so schnell gehandelt hätte, dass er nämlich die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, hätte die Herde uns beide überrannt. Da war sich Ronny sicher. Ich für meinen Teil glaubte, dass sie nur neugierig gewesen waren und durch sein Fehlverhalten wir erst in diese schwierige Situation gekommen waren. Ich hielt aber mit meiner Meinung hinterm Berg und ließ ihm den glorreichen Triumph des Retters in der Not. Ronny war noch immer fix und alle. Er hatte Mühe, aufrecht zu stehen, und stützte sich mit seinen Händen auf den Knien ab. Er war ganz blass um die Nase. Erst jetzt, als ich genauer hinschaute, bemerkte ich das Übel, dann fing ich schallend an zu lachen. Ronny hatte es voll erwischt. Seine Beine waren übersät mit Kuhfladen. Mein Beschützer war wohl im vollen Lauf durch einen Fladen gerannt. Ich pinkelte mir vor Lachen fast in die Hose. Zum Glück war er über mein Verhalten nicht sauer. Er nahm es sportlich und lachte mit. Keine Frage, die Gefahr war allgegenwärtig. Doch wer sich vor Angst mehr in die Hose gemacht hatte, ließen wir unbeantwortet. In einem waren wir uns beide sicher: Nie wieder die Abkürzung über die Wiese zu nehmen.

Ronny versuchte mit Grasbüscheln, sich von den größten Verschmutzungen zu befreien. Jetzt waren es nur noch wenige Meter bis zur Straße. Der Autoverkehr war mäßig. Die aufgeheizte Straßendecke brannte an den Fußsohlen. Wie auf heißen Kohlen überquerten wir die Straße. Das war nur ein leichter Vorgeschmack auf das, was uns auf dem Rückweg erwarten würde. Aber immer noch besser als aufdringliche Huftiere. Nur noch wenige Schritte und wir standen wie viele andere auch in einer Warteschlange an. Es war heiß und irgendwie hatten sie alle die gleiche Idee wie wir - Eisessen! Ronny stand etwas abseits der Wartenden. Es war ihm peinlich. Nicht nur das gefleckte Aussehen störte ihn. Leider verströmte er dabei auch noch einen unangenehmen Duft. Es war der Ruf von Freiheit, purer Wildnis und Kuhstall.

Auch alle anderen Menschen nahmen diesen Duft wahr. Einige von ihnen rümpften die Nase und schauten sich ständig um, was sehr untypisch war. Sowie Wartende oft in einem Fahrstuhl sich ständig auf die Füße starren, aber keinesfalls ausschweifende Blicke innerhalb der wartenden Menge ausübten, war es in diesem Fall anders. Alle versuchten, den Mief zu orten. Jeder prüfte seinen direkt neben sich stehenden Nachbarn ab. Es war lustig sie dabei zu beobachten. Das ganze Spektakel versüßte uns die Wartezeit, leider auf Kosten von meinem Ronny. Erst zwanzig Minuten später, hielten wir unser Eis in den Händen. Bedauerlicherweise war der sonnige Nachmittag viel zu schnell vorbei, wir wussten aber, dass wir uns bald wieder treffen würden. Schade nur, dass uns nicht viel Zeit blieb, um uns besser kennenzulernen. Denn unser beider Urlaub stand an. Dennoch schafften wir es, uns zweimal nach unserem Badeabenteuer zu sehen. Allerdings musste ich mir ständig für meine Eltern eine gute Ausrede einfallen lassen, wo ich den Nachmittag verbrachte, damit sie keinen Verdacht schöpften. Bei unserem zweiten Aufeinandertreffen gab es den für mich ersten Kuss meines Lebens. Der Kuss mit den fatalen Folgen. Nach diesem Kuss verhielt sich Ronny komisch. Ich glaube, er hatte Angst, dass es bei jedem Kuss solche Auswirkungen haben könnte. Und so blieb es bei dem einen. Aber, ich hatte mich verliebt.

Auf einmal wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich schreckte auf und fasste mir ans Herz. Es war das nervige Hupen eines hinter uns stehenden Autos. So ein Idiot! Ich schaute aus dem Seitenfenster und erkannte, dass wir in einem Stau feststeckten. Ich beobachtete, dass einige Autofahrer ziemlich rücksichtslos waren. Sie drängelten sich an engen Passagen vorbei. Sie hupten ständig, fuhren zu dicht auf, um danach andere Fahrzeuge mit viel Risiko zu überholen. Alle waren hektisch und angespannt. Nur mein Dad nicht. Mit einer selbstlosen Gelassenheit ließ er gefühlte tausend Autos den Vorzug. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir der Grund für den Stau waren, so langsam wie Dad fuhr.

»Du kannst doch nicht immer auf alle anderen Autos Rücksicht nehmen, so kommen wir nie ans Ziel«, regte Mom sich diesmal über die zu dicht auffahrenden Autofahrer auf.

»Auch die lieben Leute möchten alle in den Urlaub, genauso wie wir, Anna Maria. Also muss man, ob man will oder nicht, gegenseitig Rücksicht nehmen«, versuchte er Mom zu belehren.

Abermals winkte Dad freundlich und ließ einige Autos, die von der rechten Spur drängelten, vor uns in den Stau hinein. Erneut startete ein nerviges Hupkonzert der hinter uns stehenden Autofahrer, die das Schauspiel mit ansahen. Dad schaute in den Rückspiegel.

»Ist ja schon gut, ich fahre ja schon.«

Dann passierte das, was passieren musste. Bei dem Versuch, selbst wieder Fahrt aufzunehmen, würgte Dad den Wagen ab. Leider war er nicht der beste Autofahrer. Mom wurde unruhig.

»Erhardt, fahr endlich.«

Sie rollte übertrieben mit den Augen.

Auf Dads Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen, als er bemerkte, dass unser Wagen nicht so wollte, wie er es gerne hätte. Aus irgendeinem Grund sprang die verfluchte Kiste nicht wieder an.

»Irgendetwas riecht hier komisch? Erhardt!«, bemerkte Mom.

Ich sah, dass Dad seine innere Ruhe und Gelassenheit gegen Unsicherheit und leichte Panik eintauschte. Mom kurbelte die Seitenscheibe herunter. Sie hielt ihre Nase aus dem Fenster.

»Erhardt, riechst du das?«

Dad hatte große Mühe, den Wagen zu starten.

»Erhardt!«, ermahnte Mom Dad erneut, der zuvor nicht auf ihre Erkenntnisse reagierte.

»Anna Maria, es ist die Kupplung, die ein wenig überhitzt ist. Das ist ganz normal, wenn man immerzu anhält. Dieses ständige Stoppen und Anfahren, ist nicht gut für unser Auto.«

»Wozu in Gottes Namen brauchst du eine Kupplung, um anzuhalten? Nun gut, ich bin kein Fachmann aber, ich dachte, die brauchst du nur, wenn du Gänge schaltest. Und so, wie ich das sehe, fahren wir die letzte Stunde nur im ersten Gang.«

Dad reagierte nicht auf Moms schlaue Bemerkung. Er war immer noch damit beschäftigt, das Auto zu starten. Immer mehr Schweißtropfen benetzten seinen fülligen Körper. Vielleicht war es auch Angstschweiß. Das Hupkonzert wurde eindringlicher.

»Erhardt, willst du hier Wurzeln schlagen?«

Dad schaute hilflos in den Rückspiegel. Er erklärte mit erhobenen Armen den anderen hinter uns stehenden Fahrern, dass er nichts dafür konnte. Natürlich sahen sie ihn nicht. Er versuchte abermals, das Auto zu starten. Dann war es so weit. Beim fünften Versuch sprang die Kiste endlich wieder an.

»Was habe ich dir gesagt, Anna Maria? Immer die Ruhe bewahren, dann klappt das schon«, sagte Dad rechthaberisch.

Erleichtert wischte Dad sich den Schweiß von der Stirn, blickte dabei in den Rückspiegel und winkte den hinter uns stehenden Autos zu. Als ob sie das sehen könnten, dass Dad ihnen zuwinkt. Na ja, typisch Dad.

»Seht, meine Lieben, es geht schon weiter.«

Dad legte den ersten Gang ein und nahm langsam Fahrt auf. Was eine ziemlich holprige Angelegenheit war. Das Zusammenspiel zwischen Gas und Kupplung war Dad nicht in die Wiege gelegt worden. Wie ein störrischer Esel fuhren wir ruckartig los.

»Nur nicht stehen bleiben«, ermahnte Dad unser Auto. Er streichelte und klopfte mit einer Hand auf der Armatur des Wagens, so als säße er auf einem Pferderücken.

Das Auto und Dad werden wohl nie beste Freunde.

Die Autofahrt wurde immer beschwerlicher, sobald wir die Mittagsstunden erreicht hatten. Es war brütend heiß und überall war Stau. Ich machte es mir auf der Rücksitzbank gemütlich, soweit es möglich war. Platz war ausreichend vorhanden. Während der Fahrt war es einigermaßen erträglich, denn durch das geöffnete Fenster bekamen wir einen erfrischenden Luftzug. Doch sobald wir mit dem Auto stillstanden, fühlte ich mich wie in einem Gewächshaus und das mitten im Hochsommer. Genauso stellte ich mir das Schwitzen in einer Sauna vor. In der Theorie zumindest. Praktisch hatte ich noch nie eine Sauna von innen gesehen. Würde ich aber nachholen, sobald ich achtzehn war.

Im Gegensatz zu jetzt säße ich in der Sauna nackt und nicht mit durchgeschwitzten Klamotten. Meine Kleidung klebte überall am Körper. Die Lage war beschissen. Fassen wir es kurz zusammen. Klimaanlage im Auto? Negativ! Kühle erfrischende Getränke? Negativ! Eine kalte Dusche? Negativ! Das Einzige, was bedingt half, war ausreichend zu trinken. Leider waren die Getränke eher warm als erfrischend kalt. Die ständige Flüssigkeitszunahme hatte aber auch einen Nachteil. Ich schwitzte noch mehr und meine Blase meldete sich öfter zu Wort. All das war aber nichts zu dem, was dann kam.

Ich meine damit die katastrophalen Bedingungen der Toiletten auf den Rastplätzen. So oft der Zeitplan es zuließ oder unsere Blase es forderte, legten wir alle drei Stunden eine kleine Pause ein. Um einen Happen zu essen, uns kurz die Beine zu vertreten oder auf die Toilette zu gehen. Tatsächlich ist es mir ein Rätsel, wie es Menschen schaffen, Parkplatztoiletten so schmutzig zu hinterlassen, dass man das Kotzen bekommt. Es stinkt schlimmer wie in einem Zoo, was im Gegensatz zu den Toiletten noch annehmbar war, weil ich weiß, dass es Tiere sind. Aber was sich auf einigen Rasthöfen abspielte, verursachen tatsächlich Menschen. Einfach nur ekelhaft. Und tatsächlich will ich nicht näher darauf eingehen. Allein der Gedanke daran, löst bei mir tierischen Brechreiz aus. Nach meinem ersten ultimativen Toilettenbesuch traf ich eine Entscheidung. Ich schlage mich direkt in die Büsche des Parkplatzes. Ja ich weiß, dass es nicht in Ordnung ist. Aber nach meinem letzten Nahtoderlebnis mit einer vollgeschissenen Toilette, die ich dann auch noch zu allem Übel vollgekotzt hatte, weil es mich einfach überkam, würde ich nie wieder einen Fuß in eine Rasthoftoilette hineinsetzen. Es tut mir leid, war aber so.

Angewidert von den miserablen Verhältnissen der Toiletten, dachten andere Parkplatzbesucher wohl dasselbe wie ich. Auch sie schlugen sich in die Büsche. Der Nachteil, eine Vielzahl Toilettenpapier, benutzte Taschentücher und leider auch die sogenannten Tretminen, lagen in den Grünanlagen umher. Vorteil, es stinkt wenigstens nicht so. Bis auf die ekelhaften Scheißhausfliegen ist es immer noch besser als auf dem Klo. Ich meine die grünlich schimmernden Fliegen. Dad fand die Problematik der Hygiene auf den Herrentoiletten nicht so schlimm. Vielleicht waren Männer die sauberen Toilettengänger. So aber wurde jede Rast zu einem kleinen Abenteuer, worauf ich allerdings gerne verzichtete.

Dad und ich hatten während der Autofahrt kaum etwas gesagt. Mom dafür umso mehr. Ich vertrieb mir die vielen Stunden im Auto mit Lesen. Meine Lieblingslektüre waren japanische Manga und Anime, die in dem Genre Fantasy, Shöjo und Magical Girl einzuordnen waren. Ich sah mich oft selbst in einer dieser Figuren und liebte es, mit ihnen unzählige Abenteuer zu erleben. Ich hatte schon einige Geschichten niedergeschrieben, die ich eines Tages vielleicht sogar veröffentlichen wollte. Und irgendwann würde ich selbst eine großartige Kriegerin erschaffen, die gegen das Böse kämpfte. Einen passenden Namen für sie hatte ich schon gefunden, »Orchi Daceae«, die Liebesgöttin.

Mit sechs Stunden Verspätung hatten wir unser Ziel endlich erreicht. Es war bereits nach Mitternacht. Was im Grunde nicht schlimm war, denn immerhin kamen wir heil und unversehrt an. Das Verhängnisvolle war aber, dass wir keinen Schlüssel für unser Ferienhaus hatten. Den hätten wir bis 22 Uhr abholen sollen. Was wir auch geschafft hätten, wenn Dad nicht wie eine Schnecke gefahren wäre. Dies wiederum bedeutete, dass wir die restliche Nacht schlafend im Auto verbringen mussten. Großartig! Ich war begeistert.

»Baby, da kann keiner etwas dafür. Kilometerlange Staus kann man halt nicht einfach so überfliegen«, predigte Mom, als ich zuvor lautstark mein Unmut geäußert hatte.

»Aber …«

»Es ist, wie es ist. Es hätte auch schlimmer kommen können. So! Jetzt ist Ruhe und ich will nichts mehr davon hören«, würgte Mom kurzerhand meinen versuchten Einspruch ab.

Wäre Dad statt mit neunzig Stundenkilometer vielleicht hundertvierzig auf der Autobahn gefahren, was durchaus möglich gewesen wäre, denn der Stauanteil belief sich nur auf fünfzehn Prozent unserer gefahrenen Strecke, so war ich mir sicher, dass unsere Ankunftszeit vor 22 Uhr gewesen wäre. Und ich hätte die Nacht in einem Bett schlafen können und nicht wie jetzt auf der Rücksitzbank unseres Autos, so! Außer die Nacht im Freien zu verbringen, blieb uns keine andere Wahl. Also entschied ich mich gegen nervige Insekten, Mücken und allerlei Getier. Genervt kuschelte ich mich in eine Decke. Ich versuchte, mich zu beruhigen und ein wenig zu schlafen. Was soll ich sagen?

Ferien, die bleiben

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